Thema: Filmklassiker
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Alt 22.10.2022, 07:12   #56  
Peter L. Opmann
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Anscheinend kennt den Film tatsächlich niemand.

Hier die Nummer zwei:

1986 drehte der heute namhafte Jonathan Demme „Gefährliche Freundin“ („Something wild“). Das war noch vor „Das Schweigen der Lämmer“, und ich habe den Film nicht im Kino, aber nicht sehr lange nach dem Kinostart im Fernsehen gesehen. Demme hatte 1986 auch schon ein paar interessante Filme gemacht, darunter „Stop Making Sense“, den Konzertfilm der Talking Heads, doch ich bin durch „Gefährliche Freundin“ auf ihn aufmerksam geworden. Wikipedia nennt das eine „Krimikomödie“, aber das trifft es nicht. Es heißt auch, es handele sich um einen Genremix. Aber für mich ist das Spezielle an diesem Film, daß er mindestens zweimal von einem Genre in ein anderes wechselt, was sich aus der Handlung und ihren Wendungen ergibt, und das habe ich kaum mehr bei anderen Filmen gesehen – es sei denn, bei Parodien.

Das Drehbuch schrieb E. Max Frye, der für mich sonst nicht mehr in Erscheinung getreten ist. Aber es ist ein besonderes Drehbuch. Die Story beginnt als romantische Komödie, wenn auch mit exzentrischen Figuren, wird zu einem Roadmovie und mündet unversehens in einen Thriller. Jeff Daniels spielt einen Durchschnittstypen, der sich in New York in seinen Job reinhängt und nur ein klein wenig rebellisch ist. Als nach seinem Lunch niemand zum Kassieren kommt, verläßt er das Restaurant, ohne zu bezahlen. Melanie Griffith (wie wir erst später erfahren, ist sie mit einer Louise-Brooks-Perücke verkleidet) läuft ihm hinterher und stellt ihn zur Rede. Er denkt, sie sei Kellnerin, aber sie nutzt diese kleine Regelverletzung, um mit ihm anzubandeln. Sie bietet ihm an, ihn zu seinem Büro zu fahren, aber während der Fahrt wirft sie erst sein Sprechgerät (ein Handy kann das eigentlich noch nicht gewesen sein) aus dem Fenster und steuert dann aus der Stadt heraus, offenbar ins Blaue. Allmählich macht sie ihm Lust, alle seine Termine und Verpflichtungen zu vergessen und mit ihr in ein zunächst noch recht harmloses Abenteuer zu fahren.

Sie sind dann eine ganze Weile quer durch die Staaten unterwegs und leben von kleinen, augenzwinkernd inszenierten Betrügereien. Dabei entwickelt sich eine zarte Romanze – Daniels ist kein Draufgänger, sondern verhält sich ihr gegenüber sehr gentlemanlike. Außerdem ist er lieber etwas vorsichtig, denn sie wirkt ziemlich verrückt. Nach und nach erfährt er, daß sie nicht so heißt, wie sie zunächst behauptet hat, und daß sie wohl ein neues Leben beginnen will. Sie stellt ihn dann ihrer Mutter schon mal als ihren Ehemann vor. Bekannten erzählt sie sogar, daß sie beide zwei Kinder hätten. Jeff Daniels rückt seinerseits damit heraus, daß er kürzlich von seiner Frau verlassen wurde. Der Film wird also zunehmend ernster.

Die Stimmung kippt dann gänzlich, als bei einer Tanzveranstaltung Ray Liotta (der aus „Goodfellas“) auftaucht. Er ist in Wahrheit Melanie Griffiths Ehemann, saß aber eine Weile wegen schwererer Verbrechen im Knast und ist jetzt überraschend rausgekommen. Liotta ist natürlich nicht erfreut, seine Frau in den Armen eines anderen zu finden. Melanie Griffith sagt ihm sofort, daß sie mit ihm nichts mehr zu tun haben will und jetzt mit Jeff Daniels zusammen ist. Der weiß nicht recht, wie er sich verhalten soll – schließlich wirkt Liotta ziemlich gefährlich. Er fackelt auch nicht lange und nimmt Melanie Griffith einfach mit, auch wenn sie sich wehrt. Jeff Daniels folgt ihnen jedoch und wächst dabei gewaltig über sich selbst hinaus.

In einem Restaurant setzt er sich wenig später einfach zu Liotta und Griffith an den Tisch und sagt ihm frech, daß er jetzt mit ihr zusammen – geschützt durch die vielen Zeugen umher – das Lokal verlassen wird. Liotta läßt sich jedoch nicht so einfach ausbooten. Er überfällt Daniels in seinem Haus – und es kommt zu einem tödlichen Kampf. Daniels ist zwar hoffnungslos unterlegen, aber Melanie Griffith kommt ihm zu Hilfe, und Liotta stirbt an einem Messerstich in die Brust (eher ein Unfall als ein Mord). Im Zuge der juristischen Aufarbeitung der Geschehnisse verlieren sich Daniels und Griffith aus den Augen. Schließlich sehen wir Daniels, der offenbar zu seinem sicheren Job in NY zurückgekehrt ist, in seiner Mittagspause ein Lokal verlassen. Hinter ihm her kommt die Reggaesängerin Sister Carol, weil er seine Rechnung nicht bezahlt hat. Daniels ist überrascht, denn er hat fünf Dollar auf den Tisch gelegt. Auf dem Tisch war aber kein Geldschein. Da erscheint Melanie Griffith und winkt mit der Dollarnote. Daniels und Griffith steigen ins Auto und brausen davon; Sister Carol bleibt zurück und singt den Titelsong „Something wild“ (von den Troggs, hier aber in einer Reggaeversion).

So, jetzt habe ich, fürchte ich, kräftig gespoilert. Aber ich denke, man wird von dieser Geschichte mitgerissen, auch wenn man sie in groben Zügen schon kennt. Es ist ein Wechselbad der Gefühle. Man merkt, wie man als Kinozuschauer das Genre erkennt und sich schon mal darauf einstellt, wie der Film etwa laufen wird. Und dann muß man umdenken und fragt sich: Was kommt wohl als Nächstes? „Gefährliche Freundin“ hat zudem eine Menge kleinerer Vorzüge. Man bekommt beinahe dokumentarisch etwas vom Alltagsleben in (verschiedenen Gegenden der) USA mit – das erinnert mich ein bißchen an „Easy Rider“. Der Soundtrack mit Independent-Songs ist vorzüglich. Sehr gut sind auch die Schauspielerleistungen. Für Ray Liotta war dies sein erster größerer Auftritt. Wegen Jeff Daniels habe ich mir vor einiger Zeit den Film „The Answer Man“ auf DVD gekauft – und er ist auch da nicht schlecht.
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