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Alt 05.03.2018, 08:13   #3961  
Peter L. Opmann
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Also nun mein Fazit. Ich habe erstmal versucht, die Entwicklung der Serie "Die Fantastischen Vier" in Zehnerschritten nachzuzeichnen:

FV # 1 – 10
Die ersten Bände sind Comic-Geschichte. Es fällt auf, daß zu dieser Zeit Mystery mehr gefragt ist als Superhelden. Die FV sind zumindest seltsame Typen, ein bißchen auch Monster. Aber sie gründen in Heldenmanier ein Team. Unheimlich sind die ersten Gegner der FV: der Maulwurf, Außerirdische wie die Skrull, Kurrgo, der Unmögliche, ein Zauberer oder der Puppenspieler. Der Submariner (Aquarius), Bill Everetts Golden-Age-Erfolg, wird wiederbelebt. Die # 10 ist ein überraschendes Highlight: Wir erleben die FV „privat“. Von Anfang an ist ihr ziemlich realistisches Privatleben, ab und zu auch mit Alltagserlebnissen, eine Besonderheit, die man so sonst bei Superhelden nicht findet. Ausgeprägte Probleme wie bei späteren Marvelfiguren gibt es noch nicht, aber eine Ersatz-Familien-Dynamik.

FV # 11 – 20
In dieser Sequenz geben weitere wichtige Stamm-Gegner ihr Debüt: der Geist und seine Superaffen, der verrückte Denker, Dr. Doom. Das Marvel-Universum weitet sich erstmals durch den Gastauftritt eines Titelhelden: Ameisenmann. Die Konkurrenz von Reed Richards und Aquarius um die Gunst von Sue wird entfaltet. Einmal taucht noch ein typischer Gegner aus dem Gruselkabinett auf: der Pharao. Eine richtig gute Ausgabe gibt es hier nicht. Die Storys sind ziemlich schematisch und nur mäßig spannend; Jack Kirby hat sie Serie grafisch auch noch nicht richtig im Griff. Inker ist meist Dick Ayers, dann kommt George Roussos.

FV # 21 – 30
Hier erleben wir einen packenden Zweiteiler: „Hulk gegen Ding“. Nur der Abschluß bleibt unter seinen Möglichkeiten (trotz der Rächer als Gaststars). Gleich darauf gibt sich Dr. Strange die Ehre, dann treten sogar die X-Men als Gegner an. Inker Chic Stone bringt die Zeichnungen in der Serie ein gutes Stück voran. Lee und Kirby lassen erstmals eine Nebenfigur sterben: den Vater von Sue und Johnny, der aber als Gegner der FV antritt (und sein Ende nach der Trivial-Logik also verdient hat). Mit ungewöhnlichen Ideen sticht die Ausgabe # 21 mit dem Enfant terrible heraus. Die FV werden also so langsam besser.

FV # 31 – 40
Zum wiederholten Mal geraten die FV in Konflikte, ohne daß dafür ein Superschurke nötig ist. Sie bekommen es mit dem Finanzmogul Gideon zu tun. Bei seinem zweiten Auftritt bringt der Magier Diablo den Drachenmann mit, der bald eine größere Rolle in der Serie spielen wird. Dann formieren sich die Furchtbaren Vier, beinahe Stammgäste in den frühen FV-Ausgaben. Dr. Doom kommt nun in einem echten Zweiteiler zur Geltung (erstmals wird mit einem Cliffhanger gearbeitet – die Fans brauchen also die nächste Ausgabe, um zu wissen, wie die Geschichte ausgeht). Die Auseinandersetzung mit den Furchtbaren Vier erstreckt sich darauf sogar auf drei Hefte. In dieser Zeit finden Reed und Sue endgültig als Paar zusammen und heiraten bald darauf. Wohl nie zuvor hat Privates in einem Superheldencomic eine so wichtige Rolle gespielt. Inker Stone wird nun von Vince Colletta abgelöst.

FV # 41 – 50
Die fehlende Ausgabe Fantastic Four # 44 bildet einen schmerzhaften Einschnitt in der Williams-Serie. Die fast fünfteilige Nichtmenschen-Saga kann somit nicht richtig zur Geltung kommen. Sie bildet aber einen Serien-Höhepunkt. Johnny findet die Frau seiner Träume: Crystal. Als Inker kommt nun Joe Sinnott, für einige Jahre Kirbys bester Partner. Dann folgt mit einem etwas holprigen Übergang die noch bekanntere dreieinhalbteilige Galactus-Story mit dem Silberstürmer. Die Serie hat nun ihren Ton gefunden – einen sehr fantastischen und bombastischen Ton. Etwas schwächer ist der Zweieinhalbteiler mit dem Schwarzen Panther, der aber damals, soviel ich weiß, der erste schwarze Superheld in einem Burroughs-artigen Fantasie-Afrika war, und Klaw, dem Herrn des Klangs. Dazwischen erlebt der Leser ein seltsames Abenteuer, bei dem Reed von einem zunächst schurkischen Wissenschaftler aus der Negativ-Zoe gerettet wird. Ausgelöst wird die Story vom reichlich selbstmitleidigen Ding. Wichtiger als Einzelstorys sind jedoch inzwischen eindeutig Mehrteiler; die Leser können es sich immer weniger erlauben, eine Ausgabe zu verpassen.

FV # 51 – 60
Nicht lange dauert es bis zum nächsten monumentalen Mehrteiler. Dr. Doom raubt dem Silberstürmer seine Kräfte und besiegt die FV quasi mit links. Er scheitert schließlich aber an den Beschränkungen, die Galactus dem Silberstürmer auferlegt hat. Darum herum kämpfen Ding gegen den Silberstürmer selbst und die FV gegen Klaw, Sandmann, ein seltsames Monster namens Blastaar und einen außerirdischen Roboter namens Wächter. Zwischendurch wird immer wieder mal das Drama von Johnny und Crystal bemüht, die zu den Nichtmenschen zurückkehren und ihn verlassen muß. Ansonsten bleiben private Probleme der FV in dieser Phase eher im Hintergrund. Jack Kirby arbeitet zunehmend mit großformatigen Panels.

FV # 61 – 70
Es dauert ein paar Ausgaben, bis wieder ein bekannter Gegner der FV auftaucht: der verrückte Denker. Bis dahin haben es die FV mit der außerirdischen Rasse der Kree und eigenwilligen Wissenschaftlern zu tun. Für mich ist das eine schwächere Phase der Serie, wobei sie zweifellos nach wie vor spannend erzählt und gut gezeichnet ist. Der Kampf gegen den Denker und seine Super-Androiden ergibt letztlich einen Vierteiler, der aber nicht zu den Serienhöhepunkten gehört. Danach tritt der Silberstürmer auf, der aus Enttäuschung über die verkommene Menschheit ausnahmsweise auch Gewalt anwendet. Und dann versuchen Lee und Kirby sich erstmals an einer All-Star-Ausgabe mit Dämon, Spinne und Thor. Im Anschluß beginnt ein neuer Vierteiler mit einem bei Jack Arnold und seinem Film „The incredible Shrinking Man“ (nach Richard Matheson) entliehenen Plot: Der Silberstürmer flieht vor Galactus in den Mikrokosmos (Sub-Atomica).

FV # 71 – 80
Obwohl Lee und Kirby mit ihrer Mikrokosmos-Saga fremde Ideen ausbeuten, ist daraus nun wieder mal eine ziemlich gute Story geworden. Die FV suchen den Silberstürmer in einem Wassertropfen, während Galactus damit droht, die Erde zum Frühstück zu verputzen. Das sind faszinierende Motive; die konkrete Ausarbeitung der Story ist weit weniger aufregend – das merkt man als jugendlicher Leser aber vermutlich nicht. Stan Lee hat nicht die Kenntnisse, um seine Storys im Bereich des wissenschaftlich Denkbaren anzusiedeln, und er hat auch nicht den Platz, um solche Dinge auszuführen. Dadurch tun sich immer wieder logische Lücken auf. Im besten Fall tut das der Spannung aber keinen Abbruch. Gut gelungen sind die beiden Hefte, in denen Ding in einen Menschen zurückverwandelt wird, was angesichts von ständig drohenden Super-Gegnern natürlich nicht von Dauer sein kann. Nach zwei schwächeren Einzelbänden (mit dem „lebenden Totem“ und dem Zauberer von den Furchtbaren Vier) besuchen die FV mal wieder die Nichtmenschen und durchkreuzen dort eine Palastintrige. Reeds und Sues Sohn kommt auf die Welt. Das bedeutet: sie ist weniger im Einsatz und wird durch die zurückgekehrte Crystal, eine Frau mit „Naturkräften“, ersetzt.

FV # 81 – 90
Die Ära Kirby neigt sich langsam dem Ende zu. Er setzt zwei Ausrufezeichen mit zwei ziemlich bekannten und ziemlich guten Vierteilern. Erst finden sich die FV als Gefangene in Dr. Dooms Kleindiktatur Latveria wieder, dann wird Ding von den Kree entführt, um bei Gladiatorenspielen verheizt zu werden. Dazwischen gehen die FV dem Maulwurf in die Falle. Diese Storys sind nicht durchgängig meisterhaft dargeboten, haben aber alle ihre starken Momente. FV # 90 verläßt teilweise das Superhelden-Genre. Das neue Kindermädchen von Franklin, dem Baby von Reed und Sue, erweist sich beim Angriff der Furchtbaren Vier als leibhaftige Hexe.

FV # 91 – 100
Nach der Kree-Sklaven-Story gestaltet Jack Kirby keinen Mehrteiler mehr. Seine letzten Ausgaben sind von schwankender Qualität. Nicht vom Hocker reißen können mich die Storys vom Attentat bei den Vereinten Nationen, der neuerliche Angriff des verrückten Denkers, Johnnys neuer Versuch, Crystal von den Nichtmenschen loszueisen, und der Kampf gegen die New Yorker Mafia, die die Kontrolle im FV-Hauptquartier, dem Baxter Building, übernehmen will. Ganz schwach ist US-„Fantastic Four“ # 100, eine mißglückte, weil viel zu gedrängte All-Star-Superschurken-Show. Im Gedächtnis bleiben dagegen die Begegnung mit dem Monster aus der versunkenen Lagune (noch einmal ein Plagiat bei Kinoregisseur Jack Arnold) und der Einsatz der FV zur Rettung der Mission von Apollo 11 mit der ersten Mondlandung. Zwischendurch löst Frank Giacoia zweimal Joe Sinnott als Inker ab. Dann ist Jack Kirby plötzlich weg, und John Romita übernimmt (mit Inker John Verpoorten) die Serie für einige Ausgaben. Er muß einen Dreiteiler vollenden, in dem Magneto das Vertrauen von Aquarius erschleicht und mit dessen Truppen New York erobert. Kirby hat nicht aufgehört, als es am schönsten war, aber zumindest nicht lange danach.

Und dies würde ich insgesamt daraus ableiten:

Ich denke, man merkt im Überblick, daß da im Superheldengenre ein neuer Weg eingeschlagen wurde. Damit meine ich: „Fantastic Four“ war anfangs eher als Mysteryserie angelegt. Aber Superheldeneinflüsse spielten immer mit hinein. Da gab’s kein fertiges Rezept, und manches hat auch nicht so gut funktioniert. Bei der Serie fällt auch auf, daß es das Konzept „Superheld mit Problemen“ noch nicht so richtig gibt. Die FV sind eher eine Art „first family“; sie haben keine Probleme, sondern sie sind eine Glamourtruppe, die aber teils auch einen Alltag wie viele New Yorker hat. Und – was es auch nur hier gibt – in der Familie entwickeln und verändern sich Rollen: Wer hat das Sagen? Wer übernimmt welche Funktion? Bleiben alle längerfristig zusammen oder nicht?

Es gibt natürlich ein paar ganz schön mißlungene Ausgaben, aber in meinen Augen sehr wenige. Wenn ich die Storys kritisiere, dann aus meinem heutigen Blickwinkel als Erwachsener. Auch die Storys, die logisch nicht aufgehen oder wo zu unwahrscheinliche und dazu unerklärte Dinge passieren, sind wohl für, sagen wir, einen Zwölfjährigen keine Enttäuschung. Da muß man dann um # 40 oder noch später einsteigen, dann sind die Ausgaben in der Regel auch für 15-Jährige geeignet. Ich als 50-Jähriger kann zumindest in vielen Fällen noch nachvollziehen, warum das Heft einen 15-Jährigen mitreißt.
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