Thema: Filmklassiker
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Alt 20.04.2024, 06:51   #2038  
Peter L. Opmann
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Ich habe noch einige Stummfilme, die zu digitalisieren sind. Daher habe ich wieder mal einen herausgesucht: „Der Golem, wie er in die Welt kam“ (1920) von Paul Wegener und Carl Boese. Ein echter Klassiker, der oft als Horrorfilm eingeordnet wird. Für mich ist es ein Märchenfilm, oder man könnte auch sagen: Fantasyfilm. Nachdem schon „Das Cabinet des Dr. Caligari“ ein internationaler Erfolg geworden war, erregte der „Golem“ erneut weltweit Aufsehen (sogar in China). Hatte „Caligari“ das Publikum verstört, so wurde es hier in eine wundersame Welt hineingezogen. Im Kern geht es in meinen Augen um ein Verhängnis, das die Menschen gerade dadurch trifft, daß sie es abzuwenden versuchen. Doch das Ende ist versöhnlich und paßt zu der eher pittoresken Fantasywelt, die hier evoziert wird. Der „Golem“ lief aus Anlaß von „100 Jahre Kino“ im Fernsehen und war mit Musik von Aljoscha Zimmermann unterlegt – die Original-Filmmusik war damals verschollen.

Rabbi Löw (Albert Steinrück) sieht als Sterndeuter Unheil auf sein jüdisches Schtetl zukommen. Und schon scheint es sich zu manifestieren: Der Kaiser (Otto Gebühr, später zu König Friedrich dem Großen degradiert) ordnet die Vertreibung der Juden aus seinem Reich an. Löw versucht, sein Volk dagegen zu wappnen, indem er aus Lehm einen Golem knetet. Er weiß, daß dieser superstarke Koloss zum Leben erwacht, wenn ein Amulett mit einem bestimmten Zauberwort in seine Brust eingelassen wird. Dieses Wort besorgt er sich durch Anrufung des Dämons Astaroth (ein heidnischer Götze). Das Experiment gelingt: Mit dem Zettel in seiner Brust erwacht der Golem (Paul Wegener) zum Leben – eine berühmte Szene, wie er sich noch ohne jegliche menschliche Erfahrung erstmals umblickt. Es folgen ein paar Szenen, wie der Golem Befehle ausführt und dabei das Leben ein wenig kennenlernt.

Der kaiserliche Bote (Lothar Müthel) und Löws Tochter (Lyda Salmonova) haben sich ineinander verliebt, eine verbotene Verbindung von Angehörigen verschiedener Religionen. Während Löw mit seinem Golem im Schlepptau ein kaiserliches Fest besucht, um für sein Volk zu bitten, haben sie ein heimliches Schäferstündchen. Löw führt dem Hofstaat seinen Androiden vor und erfreut ihn mit Zauberkunststücken. Als sie sich über die Juden lustig machen, droht die Saaldecke plötzlich einzustürzen (eine Strafe Gottes). Doch der Rabbi befiehlt dem Golem, sie abzustützen. Die Festgesellschaft ist gerettet. Zum Dank widerruft der Kaiser seinen Befehl. Inzwischen hat aber Löws Diener (Ernst Deutsch) entdeckt, daß seine Tochter in ihrer Kammer nicht allein ist. Löw kehrt zurück und will den Golem, der nun nicht mehr gebraucht wird, zerstören. Aber er wird zur Dankfeier in den Tempel gerufen.

Der Diener setzt dem Golem das Amulett wieder ein und befiehlt ihm, in der Kammer der Tochter nach dem Rechten zu sehen. Der Golem tut, wie ihm geheißen, aber tötet dabei den kaiserlichen Boten. Er ist nicht mehr kontrollierbar. Und er wehrt sich auch dagegen, daß das Amulett entfernt wird. Durch die Auseinandersetzungen gerät das Haus des Rabbis in Brand. Das Feuer droht, auf das ganze Schtetl überzugreifen. Da ist das Verhängnis nun. Löw hat vorher in seiner Kabbala gelesen: Wer Astaroths Dienste in Anspruch nimmt, muß dafür bezahlen. Löw bringt mit einem Zauberspruch den Brand zum Erlöschen. Aber der Golem ist verschwunden. Er stakst durch die Stadt auf der Suche nach Neuem, das er lernen und erfahren kann. Was wohl zu noch mehr Zerstörung führen wird. Am Stadttor trifft er auf eine Schar Kinder. Ein kleines Mädchen nimmt er neugierig auf den Arm. Es spielt an seiner Brust herum und dreht dabei das Amulett heraus. Der Golem wird wieder zu einem toten Lehmklumpen.

Nach meinem Verständnis werden die Juden in diesem Film zwar skurril, aber nicht unsympathisch gezeichnet. Manchmal wird es mit der jüdischen Kultur sogar übertrieben, denn sie tragen die Bundeslade durch die Straßen und gehen in einen „Tempel“ (beides gibt es seit der Antike nicht mehr). Generell spielt die Geschichte in einem unspezifischen Mittelalter. Rabbi Löw ist eine historische Gestalt und lebte im 16. Jahrhundert in Prag. Der Golem nimmt in vielem Frankensteins Monster (des Universal-Studios) vorweg; besonders deutlich wird das bei seiner Begegnung mit dem Mädchen, die es – mit freilich ganz anderem Ausgang – in „Frankenstein“ auch gibt. Der Film wirkt überraschend frisch – die Kulissen des Städtchens sehen noch immer berückend aus: schiefe Häuschen, die aber zu einem großen Organismus zusammenwuchern. Viele Szenen sind in einem grellen Helldunkel gehalten, und es gibt viele Großaufnahmen verzerrter und zugleich komisch anmutender Gesichter. Und die Handlung wird, anders, als man das bei einem Stummfilm erwarten würde, sehr dynamisch erzählt. Da ist nichts überflüssig und vieles immer wieder überraschend.

Wegener, der beanspruchen kann, den Film weitgehend nach seinen Vorstellungen gestaltet zu haben, hatte den Golem-Stoff schon vor dem Ersten Weltkrieg entdeckt (1908 entstand ein entsprechendes Theaterstück) und zuvor auch schon zweimal verfilmt. Doch beim ersten „Golem“ (1914) zwang ihn die Produktionsfirma aus Kostengründen, die Geschichte in der Gegenwart anzusiedeln. Der zweite „Golem“ (1917) hat fast nichts mit der Legende zu tun. Erst mit dem dritten, dem vorliegenden Werk der Berliner Union Film konnte Wegener seine Vision richtig verwirklichen. Der Erfolg gab ihm recht.

Geändert von Peter L. Opmann (20.04.2024 um 06:56 Uhr)
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