Thema: Filmklassiker
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Alt 21.08.2023, 06:17   #1502  
Peter L. Opmann
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Nun zum Thema "VHS".

Als erste habe ich eine Videocassette ausgewählt, die ich einmal von einem Freund bekommen habe. Er war von dem Film hellauf begeistert und wollte unbedingt, daß ich ihn mir auch ansehe: „Am Rande der Nacht“ (1983) von Claude Berri. Ich hatte an ihn praktisch keine Erinnerung mehr und muß sagen, es ist ein wirklich ungewöhnlicher Gangsterfilm – sehr französisch, aber auch wieder nicht. Im Original heißt der Film „Tchao Pantin“, was ich zunächst mit „Mach‘s gut, Hampelmann“ übersetzt hätte. Aber Pantin ist der Name einer Pariser Vorstadt – ein Banlieue (dieser Begriff war vermutlich damals in Deutschland noch unbekannt). Man sieht dem Film sein Alter an, denn die Banlieue-Parallelgesellschaft, mit der Frankreich heute fast unlösbare Probleme hat, ist hier erst im Begriff zu entstehen.

Coluche, eigentlich ein berühmter Komiker, spielt einen versoffenen Tankwart, der eines Nachts die Bekanntschaft eines jungen Arabers (Richard Anconina) macht. Die beiden sehr unterschiedlichen Männer, beide Außenseiter der Gesellschaft, freunden sich an. Zuerst erfährt Coluche, daß Anconina von kleinen Drogendeals lebt und von einer skrupellosen Drogenmafia abhängig ist. Dann stellt sich heraus, daß Coluche ein desillusionierter ehemaliger Polizist ist, dessen Sohn den Drogen zum Opfer fiel. Da ist Anconina aber schon tot – ermordet von Handlangern seines Bosses. Über Anconinas Freundin (Agnes Soral) kommt Coluche an die Organisation heran und tötet zuerst den Schläger, der seinen Freund auf dem Gewissen hat, und dann den Boss. Aber der Boss war selbst nur Befehlsempfänger. Coluche kommt auch an den Oberboß heran, verzichtet aber darauf, ihn ebenfalls umzubringen. Als er ihn gestellt hat, spuckt er ihn nur an. Daß er selbst nun auf der Todesliste der Organisation steht, kümmert ihn nicht. Sein Leben hat für ihn keinen Wert mehr. Kurz darauf wird Coluche erschossen, als er gerade sein Haus verläßt. Streng genommen bleibt offen, wer das getan hat. Zweifelhaft ist für mich die Rolle eines Polizeiinspektors (Philippe Leotard): Er läßt Coluche gewähren, weil er, der den Polizeidienst quittiert hat, Methoden anwenden kann, die ihm, Leotard, verwehrt sind (Selbstjustiz).

Die Story dieser kaputten Typen und den Inszenierungsstil finde ich noch immer berührend. Aber es wird klar, daß die kriminellen Netzwerke in den Banlieues noch im Verborgenen agieren. Die französische Polizei hat im Prinzip noch Zugriffsmöglichkeiten. In dem Film gibt es ein paar Grausamkeiten, aber eigentlich wirkt er aus heutiger Sicht zu harmlos. Manche Details der Handlung erscheinen mir zudem konstruiert. Agnes Soral ist ein Punkmädchen (das für meine Begriffe nicht nach Paris paßt). Sie ist zwar extrem spröde, läßt sich aber zunächst von Anconina abschleppen, als er mit dem von seinem Boss „geliehenen“ schweren Motorrad auftaucht. Später landet sie dann mit Coluche im Bett, wobei sich mir nicht so recht erschließt, was sie an ihm findet. Das Urteil von Hans Gerhold in „Kino der Blicke. Der französische Kriminalfilm“, sie sei eine „Frau selbstbewußter, vitaler und erotischer Präsenz“, stimmt nicht so ganz. Ich glaube eher, ein französischer Film ohne Bettszenen (wenngleich hier sehr zurückhaltend inszeniert, aber der Film ist für die ARD leicht gekürzt worden) ist ab den 1970er Jahren kaum mehr denkbar.

Bemerkenswert finde ich die Schauplätze – das scheint tatsächlich Paris zu sein, obwohl die Ecken, die Touristen bevorzugen, hier nicht vorkommen. Paris ist hier ein einsamer, heruntergekommener, aber doch irgendwie magischer Ort, der mich ein bißchen an das Los Angeles in „Blade Runner“ erinnert. „‘Tchao Pantin‘ machte auf die neue Armut und Massenarbeitslosigkeit (in Frankreich) aufmerksam“, so Gerhold. Der Film war in unserem Nachbarland sehr erfolgreich, gewann fünf Cesars und war auch für den Oscar nominiert. Ich glaube, der Regisseur Claude Berri ist hier in Deutschland eher für die Filme bekannt, die er produziert („Der Liebhaber“, „Die Bartholomäusnacht“, Schlöndorffs „Der Unhold“ oder „Willkommen bei den Sch’tis“), als für die, die er selbst inszeniert hat.

Geändert von Peter L. Opmann (21.08.2023 um 19:49 Uhr)
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