Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 04.03.2020, 20:04   #508  
Peter L. Opmann
Mitglied
 
Benutzerbild von Peter L. Opmann
 
Ort: Hessen
Beiträge: 5.574
Nun zum versprochenen Gesamtfazit der Serie bis US-Thor # 159. Beim Wiederlesen ist mir vor allem aufgefallen, daß sie ziemlich aus dem Rahmen des Marvel-Superheldenkosmos fällt. Es gibt wenige Nebenfiguren, mit denen sich eine Soap Opera ins Werk setzen ließe. Da wären eigentlich nur Jane Foster und später Sif, Balder und die Warriors Three. Aber auch diese Figuren erlauben kaum eine Entwicklung des Helden. Es wird gerade einmal Thors Auserwählte, die Krankenschwester Jane Foster, durch die Göttin Sif ersetzt. Thors zweite Identität, der begnadete Arzt Dr. Blake, bleibt blaß und wenig markant ausgearbeitet. Über viele Ausgaben hinweg hält sich Thor gar nicht auf der Erde auf, und damit findet eine Marvel-Spezialität hier kaum statt, das Einsetzen von Superhelden in eine Alltagsumgebung in New York.

Ich wollte „Thor“ nochmal lesen, weil es hier nach meiner Erinnerung frühzeitig lange Fortsetzungen gab und verwickelte Handlungsstränge dazu zwangen, immer weiterzulesen. Das beginnt so etwa mit „Journey into Mystery“ # 98, wo zuerst die Kobra und dann Mr. Hyde auftauchen und sich im Folgenden gegen Thor verbünden. Interessanterweise geht es dann so richtig mit „Journey into Mystery“ # 116 los, also genau in dem Moment, als die Williams-Serie „Thor“ eingestellt wurde und als Zweitserie in „Die Spinne“ wechselte. Nun braut sich immer schon dann neues Unheil zusammen, wenn Thor noch gut mit seinem vorherigen Gegner beschäftigt ist. Anfangs ist das Strickmuster in ein längeres Duell zwischen Thor und seinem bösen Bruder Loki eingebunden. Beim von Odin angeordneten Zweikampf hat Loki mittels Nornensteinen getrickst, und Thor muss einen solchen Stein beschaffen, um Loki zu überführen – was Loki natürlich mit allen Mitteln zu verhindern sucht.

Später fehlt dann eine solche Rahmenhandlung. Die Gegner tauchen wahllos auf; die Kämpfe beschränken sich nur nach wie vor nicht auf ein abgeschlossenes Heft, sondern sind miteinander verflochten. Auffällig ist, daß Thor ab der Geschichte um die Nornensteine immer seltener auf der Erde auftaucht. Eigentlich tut er das nur noch dann, wenn er sich damit Anordnungen von Odin widersetzt und daher bestraft werden muss. Thor verliert die Hälfte seiner Kräfte, oder er verliert alle göttlichen Kräfte, oder er büßt seinen Hammer ein. Die ultimative Bedrohung stellt aber wohl das Odinschwert dar, mit dem die Götterdämmerung heraufbeschworen werden kann; da werden selbst Thor – auch im Vollbesitz seiner Kräfte – die Grenzen aufgezeigt. Wie wir schon festgestellt haben, muß Thor immer wieder geschwächt werden, damit er nicht durch seine Unbesiegbarkeit Langeweile verbreitet. Eine dubiose Rolle spielt dabei Odin, der offenbar öfters nicht den richtigen Durchblick hat und ungerechte Entscheidungen trifft.

In „Thor“ tauchen mehr Ungereimtheiten auf als in anderen Marvel-Serien. Das liegt vielleicht daran, daß der Leser sich hier in einer Fantasywelt befindet, in der vielleicht nicht die herkömmliche Logik gilt. Ich möchte aber festhalten, daß die Storys eindeutig weniger gut ausgearbeitet sind als in Stan Lees und Jack Kirbys anderer großer Serie, „Die Fantastischen Vier“. Bei den FV kann man meist nur bemängeln, daß Lee von Naturwissenschaft wenig Ahnung zu haben scheint. Aber die Ideen sind origineller, die Beziehungen der Figuren zueinander sind komplexer, und es spielt sich viel mehr in New York und im Marvel-Superheldenkosmos ab. Die Serie „Captain America“, die Lee und Kirby ebenfalls lange gemeinsam gestaltet haben, kenne ich nur wenig und kann daher keine Vergleiche anstellen.

Es scheint mir folgerichtig, daß „Thor“ den schlechteren Inker hat als „FV“. Vince Colletta nimmt in meinen Augen einen langen Anlauf, bis er die Serie routiniert und Kirbys Stil angemessen inken kann. Es kann allerdings sein, daß seine Arbeit unter schlechtem Druck leidet. Im Schuber „Das fehlende Jahr“ wirkt seine Strichführung teilweise viel besser als in den Williams-Ausgaben. Das entschuldigt ihn aber für mich nur teilweise. Auch die Zeichnungen von Kirby reichen meiner Meinung nach an „FV“ nicht heran. Es fehlen meist die bombastischen Maschinen. Aber Kirby setzt auch das Alltagsleben des Superheldenquartetts hervorragend in Szene – bei Thor ist da meist Fehlanzeige.

„Thor“ mag eine Serie sein, die mich von ihrer Anlage her weniger anspricht. Das war übrigens früher anders: Als ich Teenager war, gehörte Thor zu meinen Lieblingshelden. Das gilt auch für die ersten, noch recht mängelbehafteten Ausgaben. Heute spricht mich mehr das Konzept an, Superhelden in eine Durchschnittsszenerie einzufügen. Trolle, Nornen, Zauberer oder andere Götter locken mich nicht mehr so aus der Reserve.
Peter L. Opmann ist offline   Mit Zitat antworten