Thema: Filmklassiker
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Alt 30.01.2024, 06:07   #1873  
Peter L. Opmann
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1963 dreht Malle „Das Irrlicht“ nach dem Roman von Drieu la Rochelle. Ein Mann großbürgerlicher Herkunft, Alkoholiker, gescheiterter Schriftsteller, beschließt den Selbstmord. In der Hauptrolle Maurice Ronet.

Malle. Der Film war mir so nah. Er entsprach einer schweren Krise, die ich damals durchlebte. Ich glaube, das ist mein bester Film aus dieser Zeit. – Als ich 30 wurde, hatte ich das Gefühl, alt zu sein. Heute erscheint das einigermaßen lächerlich. Wie die Person in „Irrlicht“ fühlte ich mich verpflichtet, erwachsen, seriös zu werden. Bald würde man mich mit Orden dekorieren. Ich rebellierte wie ein verspäteter Jugendlicher. Ich sagte mir: Es ist nicht möglich. Wenn ich wirklich ehrlich bin, kann ich nicht so weitermachen. Es war ein sehr angstvoller Zustand, gleichzeitig naiv, romantisch. Mir gefällt sehr gut, daß man fühlt: Hier ist jemand, der sich weigert, ein Mann zu werden, weiter ins Leben zu gehen. Er macht weiter mit den Schwächen eines Heranwachsenden. Ein Mann zu sein, bedeutet aber, Verantwortung zu übernehmen, fähig sein zu geben, zu lieben. Auch ich bin erst in den Jahren danach ein menschliches Wesen geworden. Ich war damals zwar nicht so schwach wie der Sohn in „Irrlicht“, sondern sehr hart, aggressiv, egozentrisch, besessen von meiner Arbeit. Aber als Mensch war ich nicht gut. – Während der Dreharbeiten war ich sehr streng mit Maurice Ronet. Ich identifizierte mich derartig mit dieser Figur, daß ich ihn nie gut genug fand. Im Grunde hätte ich die Rolle gern selbst gespielt. Ich traute mich nicht – zum Glück. Ronet ist sehr gut, ich bin ein miserabler Schauspieler.

Maurice Ronet und Louis Malle auf dem Festival in Venedig – sie sehen sich ähnlich wie zwei Brüder. Der Film erhält den Spezialpreis der Jury.

Malle: Ich glaube, „Irrlicht“ war sehr nützlich für mich. Es befreite mich von diesen schwarzen, sehr schwarzen Wolken.

Zwei Jahre später. „Viva Maria“, eine Komödie mit großem Budget. Die beiden großen Stars Frankreichs (Brgitte Bardot und Jeanne Moreau) in einem Film. Es ist eine Sensation. Gedreht wird in Mexiko. Malle erfüllt sich einen Kindheitstraum von Abenteuerfilm und Western. Die Cowboys sind zwei Frauen. Brigitte Bardot und Jeanne Moreau singen, tanzen, erfinden den Striptease und machen die Revolution. „Viva Maria“ wird zum Kultfilm der 68er. Ein weiterer Kostümfilm, „Der Dieb von Paris“, beendet die erste Phase in Louis Malles Schaffen. Genevieve Bujold und Jean-Paul Belmondo, ein Paar aus bürgerlichem reichem Hause. Belmondo ist ein Gentleman-Dieb. Dann 1967 ein Bruch. Louis Malle geht nach Indien, um Dokumentarfilme zu drehen.

Malle: Für mich ist der Dokumentarfilm wie ein Schub Sauerstoff. Ich muß ins wirkliche Leben zurückkehren, die Kamera in die Hand nehmen, die Gesichter der Menschen filmen. Es ist eine gute Art, etwas zu erfahren. Man läßt einfach die Kamera laufen, sehr frei, sehr direkt. Man filmt zuerst, dann überlegt man. Das gefällt mir. Es ist eine sehr sinnliche, sehr instinktive Weise des Filmens. Ein großes Vergnügen und eine gute Übung.

Sechs Monate dreht Malle in Indien. Daraus werden später der Dokumentarfilm „Calcutta“ und die fünfteilige Fernsehserie „Phantom Indien“. Jahre später setzt Malle diese umfangreiche dokumentarische Arbeit in den USA fort. „God’s Country“ (1979), und 1985 fährt Malle in den 5000-Einwohner-Ort Glenco im Mittelwesten. Ein sehr unprätentiöser Film ist das Ergebnis.

Malle: Wir fingen dort an, das alltägliche Leben der Menschen aufzunehmen. Das einzige, was mich leitete, was mich vorantrieb, war meine Neugier. Die Idee dahinter ist, daß alle Menschen interessant sind. Man hätte dort einen satirischen Film drehen können, hätte sich über die Leute mokieren können, denn sie sind abgeschnitten von der Welt. Es sind sehr einfache Leute, Farmer, sehr konservativ, mit auch durchaus lächerlichen Seiten. Sie sind nicht besonders schön, aber ich habe sie geliebt, sehr geliebt. Ich habe sie viel interessanter gefunden, als sie normalerweise gezeigt werden, viel informierter, viel neugieriger, mit eigenen Meinungen über vieles. Ich fand, daß ihr Leben eine gewisse Würde hatte, aber ich finde alle Menschen interessant.

Was frappiert, ist die uneingeschränkte Sympathie, mit der Louis Malle den Menschen in seinen Dokumentarfilmen begegnet.

Malle: Ich habe also das Leben dieser Menschen für eine Weile geteilt, und ich sagte mir: Das ist eine unglaubliche Chance, als könnte ich ein anderes Leben leben, als wäre ich nicht mehr ich. Das geht nur mit der Kamera.

Für eine amerikanische Fernsehanstalt macht Malle einen Film zum 100. Geburtstag der Freiheitsstatue: „…und das Streben nach Glück“.

Malle: Es war eine Reihe von Porträts, und wieder waren es Menschen, die mich interessierten. Der Eindruck, den ich mit meinem Film vermitteln wollte, der sich im übrigen ganz natürlich ergab, war: Ihr Amerikaner habt das große Glück, daß eine Auswahl der mutigsten, chancenreichsten und intelligentesten Menschen zu euch kommt. Also seid froh, statt euch zu beklagen über diese Einwanderer, über diese Bedrohung durch Einwanderer. – Ich denke, die dokumentarische Arbeit ist sehr wichtig für mich. Sie beeinflußt meine Spielfilme und sogar die Arbeit mit Schauspielern. Denn wenn ich Menschen beobachte, sie filme, wenn ich mit ihnen spreche, wenn sie mit mir sprechen, wenn ich sehe, wie sie reagieren, finde ich bestimmte Ausdrücke, bestimmte Überraschungen, eine Art von Spontaneität, die oft überwältigend ist. Nachher versuche ich mit sehr viel Mühe, das mit den Schauspielern wiederherzustellen.

„Pretty Baby“ ist der erste Spielfilm, den Malle in den USA dreht, eine Produktion für die Paramount. Brooke Shields als zwölfjährige Prostituierte, Susan Sarandon als ihre Mutter. Eine historische Figur ist der Fotograf Bellocq (Keith Carradine). Er fotografierte Anfang des Jahrhunderts die Prostituierten von New Orleans. Malle hat Schwierigkeiten, seine individuelle Produktionsweise im amerikanischen, streng reglementierten System zu erhalten. „Pretty Baby“ gelingt dennoch. Trotz einer guten Besetzung und einer hintergründigen Geschichte um lauter Verlierer kommt es bei Malles nächster Studioproduktion, „Crackers“, zum Desaster. Zwölf Millionen Dollar kostet dieser Film für die Universal. „Crackers“ wird Malles größter Flop, künstlerisch und an der Kasse. Seither hat Malle nicht mehr für ein amerikanisches Studio gearbeitet.

Malle: Ich habe gemerkt, daß das amerikanische System vollkommen kommerziell ist, beherrscht vom Geld. Nur das Geld interessiert, der Rest ist sekundär. Es war sehr schwierig für mich, in der amerikanischen Filmindustrie zu arbeiten.

Atlantic City, in den 30er Jahren ein mythischer Ort, Ende der 70er eine Phantomstadt, wird in Malles nächstem Film Schauplatz eines poetischen Thrillers mit Burt Lancaster als altem Gangster, der sich heimlich in seine Nachbarin (Susan Sarandon) verliebt. Burt Lancaster hat mit dem Gangster Lou eine seiner schönsten Rollen. In „Mein Dinner mit Andre“ treffen sich nach Jahren der Trennung zwei New Yorker Künstler in einem Restaurant in Manhattan, der Theaterregisseur Andre Gregory und der Autor Wallace Shawn. Ein Zwei-Personen-Film, intelligent, einfach. Die Helden von Malles amerikanischen Filmen: Außenseiter, kleine Leute. Immer präsent: die politischen Hintergründe. Im Süden von Texas, in Alamo Bay, geht Ende der 70er Jahre der Vietnamkrieg auf andere Weise weiter. Heimische Fischer bekämpfen vietnamesische Flüchtlinge, wollen sie verjagen. Inspiriert von aktuellen Ereignissen dreht Malle mit „Alamo Bay“ ein sozialkritisches Melodram. Nach zehn Jahren Arbeit in den USA kehrt er 1987 nach Frankreich zurück und dreht dort die autobiografische Geschichte „Auf Wiedersehen, Kinder“. 1944 im von Deutschen besetzten Frankreich treffen sich Julien, alter ego von Louis Malle, und Jean, ein jüdischer Junge.

Malle: Diese Geschichte passierte mir, als ich elf Jahre alt war. Sie hat mich traumatisiert. Der jüdische Junge war mein Freund. Er versteckte sich. Die Gestapo holte ihn aufgrund einer Denunziation ab. Das ist die stärkste Erinenrung meiner Kindheit. Ich glaube, ich habe mich niemals davon erholt. Ich habe damals ganz nebenbei in einigen Minuten die Gewalt, die Korruption, die Grausamkeit und die Ungerechtigkeit der Welt der Erwachsenen begriffen. Und da stehe ich noch heute.

Unspektakulär, mit unglaublich präzise spielenden Kindern hat Malle den Film inszeniert.

Malle: Ich glaube, meine Treue, meine innere Wahrheit haben wesentlich ihren Ursprung in diesem Ereignis, das ich nie vergessen habe. Am Ende handeln alle Filme, die ich mit Kindern und Jugendlichen gemacht habe, von mir. Es ist meine Art, dieses Trauma aus meiner Kindheit wiederzuerleben.

Heiterer und näher ist die Vergangenheit in der „Komödie im Mai“. Der Mai 1968 in der französischen Provinz. Kinder schwenken eine rote Fahne. Die Revolution als unbeschwerte Nebensache im eigentlich unveränderten ländlichen Leben. Mit „Damage“ („Verhängnis“) greift Louis Malle die Themen aus den „Liebenden“ auf. Bürgerliche Heuchelei, Liebe auf den ersten Blick. Juliette Binoche und Jeremy Irons in den Hauptrollen. Wie in den „Liebenden“ genügt ein Blick, um die Liebe zu wecken, doch die Folgen sind tödlich.

Malle: „Damage“ gab mir die Möglichkeit, mir vertraute Themen neu zu betrachten. Doch sie haben hier eine dramatische, tragische Düsterheit. Dieses Gefühl korrespondierte mit meinen Empfindungen, als ich mich für die Geschichte entschied.

Louis Malle war am offenen Herzen operiert worden. Er hat seitdem einen weiteren Film gedreht: „Vanya on 42nd Street“. Eine Theaterprobe des Tschechow-Stücks „Onkel Wanja“ spielt in New Yorks 42. Straße.

Malle: An Amerika bewundere ich die Energie. Sie ist roh, manchmal lästig, brutal. Auch die Gewalt ist Teil davon. Das beeindruckt mich, denn ich komme aus einem etwas müden Land.

„Vanya“ ist auch ein Treffen mit alten Freunden. Wallace Shawn ist Vanya, Andre Gregory der Regisseur des Stücks. Louis Malles Film fehlt die ambitionierte Angestrengtheit üblicher Theaterverfilmungen. Er hat die Gelassenheit und Direktheit eines Dokumentarfilms. Louis Malle lebt heute vor allem in New York.

Malle: Ich werde Ihnen etwas Furchtbares gestehen. Morgen fliege ich nach New York. Ich habe das Gefühl, nach Hause zurückzukehren.

In New York bereitet er gerade einen neuen Film vor. Uma Thurman wird Marlene Dietrich spielen in einer Geschichte, die eine Phase im Leben der Dietrich Mitte der 30er Jahre in Hollywood beschreibt.

Malle: Wenn ich heute durch die Straßen von Paris gehe, dann sage ich mir: Dort, in diesem Haus lebt ein Freund. Es sind immer Erinnerungen, die kommen. Und da im Moment in Frankreich nicht viel passiert, ist Paris das Museum meiner Erinnerungen.
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