Thema: Filmklassiker
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Alt 27.01.2024, 06:42   #1869  
Peter L. Opmann
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Kürzlich ist Norman Jewison gestorben, was mich darauf brachte, mir seinen Film „In der Hitze der Nacht“ nochmal anzusehen, ein Anti-Rassismus-Drama mit Rod Steiger und Sidney Poitier. Dann habe ich’s mir aber anders überlegt und erstmal „Flucht in Ketten“ (1958) von Stanley Kramer rausgesucht. Da geht es zehn Jahre früher, als es noch keine Bürgerbewegung in USA für die Gleichberechtigung der Schwarzen gab, um etwas prinzipiell Ähnliches. Hier agiert Poitier in der Hauptrolle zusammen mit Tony Curtis. Im Zusammenhang mit diesem Film habe ich mehrmals das Attribut „gut gemeint“ gelesen, aber es ging ja nun gerade darum, eine Botschaft zu vermitteln, und immerhin gelingt das Kramer im Rahmen eines guten Action- und Suspensefilms. Wenn ich bedenke, was alles zu lesen ist, welcher Star aus welchen Gründen nicht mit Poitier zusammen spielen wollte und wie Curtis sich dafür einsetzte, daß er die selbe Gage wie er erhielt, war die Botschaft nicht fehl am Platz.

Curtis und Poitier sind zwei während eines Transports entflohene Sträflinge, die dummerweise aneinandergekettet sind. (Robert Mitchum lehnte die Rolle des Weißen ab, weil er sagte, ein Weißer und ein Schwarzer würden niemals eine Kette teilen – im Film heißt es einfach, der Gefängnisdirektor sei ein Spaßvogel.) Zunächst verachten sie sich gegenseitig, aber da sie auf der Flucht aufeinander angewiesen sind, lernen sie sich gegenseitig nach und nach besser kennen, auch die unterschiedlichen Positionen, die sie ihrer Hautfarbe wegen im Leben einnehmen. Poitier will vor allem in die Nordstaaten, wo er nicht mehr katzbuckeln und alle Benachteiligungen herunterschlucken muß. Curtis träumt davon, reich zu werden und ein gutes Leben zu haben. Sie wollen sich zu einem Zug durchschlagen, mit dem sie als blinde Passagiere in eine große nördliche Stadt gelangen können. Die ganze Zeit ist die Polizei mit Bluthunden auf ihrer Fährte, aber meist gelingt es den Entflohenen, sie auf Distanz zu halten.

Sie wollen freilich so schnell wie möglich die Kette loswerden und brechen auf der Suche nach Werkzeug in einem abgelegenen Nest in ein Lager ein. Dabei werden sie aber von den Dörflern geschnappt. Einige von ihnen wollen Poitier sofort lynchen und lassen sich auch nicht dadurch abhalten, daß der andere Einbrecher ein Weißer ist – der soll notfalls mit aufgeknüpft werden. Ein besonnener Einwohner (Lon Chaney jr.) läßt sie daraufhin heimlich laufen. Danach kommen Curtis und Poitier zu einer Farm, die von einer alleinlebenden Frau (Cara Williams) und ihrem Sohn (Kevin Coughlin) bewohnt wird. Williams sieht die Chance, mit Curtis ein neues Leben zu beginnen; seinen Begleiter will sie heimtückisch in einen Sumpf schicken, wo er nach ihrer Überzeugung sicher umkommen wird. Curtis merkt, daß er mit ihr fast nichts gemeinsam hat, aber Poitier, mit dem er so viel durchgestanden hat, verpflichtet ist. Gemeinsam schaffen sie es, den Sumpf zu durchqueren, und versuchen, auf den vorüberfahrenden Zug aufzuspringen. Curtis schafft es nicht; darauf gibt auch Poitier auf, und gemeinsam warten sie auf die nahende Polizei.

Auch Marlon Brando, den Kramer zuerst für die Curtis-Rolle wollte, lehnte übrigens ab. Laut der englischen wikipedia lag das aber nur an Terminproblemen. Trotz der eingestreuten zugegeben belehrenden Dialoge ist „Flucht in Ketten“ zunächst mal ein ziemlich spannender Ausbruchfilm. Mir gefällt auch, daß weder die Fliehenden noch ihre Verfolger Superhelden sind, sondern die Mühen der Verfolgung gut herausgearbeitet werden. Am Anfang lauschen Poitier und Curtis öfters den Geräuschen der Natur und herumschleichender wilder Tiere; ein Detail, das in den meisten Filmen mit ähnlicher Thematik wohl unter den Tisch fällt. Die Moral, die in den Dialogen deutlich wird, finde ich nie aufdringlich – die wechselseitigen Erzählungen von Curtis und Poitier helfen mir auch, ihre Lebensbedingungen besser zu verstehen. Und wie ich lese, war „Flucht in Ketten“ ein Kassenerfolg und wurde vom Publikum gut aufgenommen. Inwiefern er geeignet war (und ist), daß richtige Südstaatler ihre Vorurteile überdenken, will ich allerdings mal dahingestellt lassen. Wie Randy Newman bemerkte: „We’re Rednecks, we don’t know our ass from a hole in the ground. We’re Rednecks and we’re keeping the niggers down.“

Die englische wikipedia weist übrigens eine lange Liste von Nachahmungen und Parodien auf den Film mit den ungleichen, aber aneinenander gefesselten Partnern auf. Die ist sicher nicht vollständig.
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