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Alt 29.07.2010, 19:46   #1119  
michidiers
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Achtung, Achtung! Wenn wir schon bei guten Zeichnern sind: Hier kommt nach einem Zufallskauf michidiersens ganz besonderer Tipp:

„Epileptic“ von David B.



Das Buch habe ich zufällig im Regal unter der Rubrik „Independent“ im Urlaub in einem londoner Comicshop gefunden. Gereizt haben mich vornehmlich die interessante Inhaltsangabe und die außergewöhnlichen Zeichnungen. Zunächst war ich davon ausgegangen, dass es sich bei David B. um einen englischen Autor handelt, merkte aber schnell, dass es sich bei David B. um einen gewissen Pierre-Francois Beauchard handelt. Der hat in dieser Graphic Novel seine autobiographische Lebensgeschichte geschrieben.

Pierre-Francois Beauchard verlebt eine unbeschwerte Kindheit mit seiner jüngeren Schwester, und seinem älteren Bruder in Orleans. Diese endet abrupt, als sein älterer Bruder Jean-Chistophe erstmals einen epileptischen Anfall bekommt. Was folgt, ist eine Odyssee der Familie durch Wartezimmer und Untersuchungsräumen. Als die klassische Schulmedizin keine Lösung finden kann, wenden sich die Eltern alternativen Methoden zu. Es folgen lange Jahre von zahllosen Behandlungen bei Wunderheilern, Scharlatanen, makrobiotische Kommunen, Gurus, Exorzisten, Heilpraktikern etc. Und auf jede Hoffnung folgt stets tiefe Enttäuschung.

Jedes Familienmitglied verarbeitet diese Katastrophe auf seine Weise. Der erkrankte Jean-Christophe ergeht sich in eine Hingabe zu Diktatoren wie Hitler, um einen Ordungspunkt oder Fixpunkt in seinem Leben zu finden und dadurch das Durcheinander in seinem Kopf zu ordnen. Pierre-Francois verfällt dagegen dem zeichnen von riesigen mittelalterlichen Heeren in grausamen Schlachten. Das Thema Krieg ist dabei in der Familie sehr ausgeprägt. In Rückblenden erzählen auch die Großeltern und Familienmitglieder über ihre erschütternden Erlebnisse im 1. und 2. Weltkrieg und dem Algerienkrieg.

Das besondere an dieser erschütternden Graphic Novel ist die Tatsache, dass sich diese fast ausschließlich über die Zeichnungen ausdrückt. Der Text ist dabei fast wie ein kühler Bericht abgefasst, der die Ereignisse der Jahre umfasst. Die dahinter steckenden Gefühle und Ängste von David B. drücken sich in düster gehaltenen schwarzen Tuschezeichnungen aus. In den expressionistischen Zeichnungen stößt Autor und Zeichner Pierre-Francois Beauchard eine unheimliche Tür in die Welt seiner tiefsten Ängste und Abgründe auf.

So werden Elemente aus den verschiedensten Epochen der Menschheit verarbeitet: mittelalterliche Schlachtgemälde, biblische Stiche und Symbole sowie verschiedenste surrealistische Darstellungen. Als unheimliches Beispiel sei wohl hier eine von Pierre-Francois eingebildete Schlange zu nennen, die sich bei jedem Anfall um Jean-Chistophes grotesk verbogenen Körper windet. Diese Schlange ist immer wieder Thema, sie sitzt drohend mit am Esstisch, und fährt mit auf Reisen. Je älter Pierre-Francois wird und je rationeller sein Denken wird, je mehr verschwindet die Schlange. An deren Stelle tritt, vielleicht auch als Ausdruck gegen den Hass auf den Bruder und die Krankheit, ein optisch veränderter Jean-Chistophe. Er bekommt dunkle Schatten und Streifen im Gesicht und Körper und wirkt dauerhaft bedrohlich auf den Betrachter.

Daher ist diese 360 Seiten fette Graphic Novel schon eine ziemliche Herausforderung an mich gewesen. Es ist ein Musterbeispiel einer wirklich gelungenen graphischen Erzählung. Nahezu jedes(!) einzelne Bild ist schon ein Kunstwerk für sich und muss lange betrachtet werden, um auch jede Kleinigkeit darin zu erkennen und zu verstehen. So zog sich die gesamte Lektüre da fast über einen ganzen Monat hin, da ich nur immer wenige Seiten gelesen habe, um nicht den unheimlichen Eindrücken überfüttert zu werden.


Glotzende Passanten mit übergroßen Augen bei jedem Anfall.


Eine Odyssee der Untersuchungen.
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