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Alt 18.11.2010, 14:19   #1298  
michidiers
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Ach ja, gelesen habe ich über die Tage (jeden Tag etwa 30 Seiten) ja auch noch etwas ganz feines:

Jiro Taniguchi – Ein Zoo im Winter



Inhalt: Aus der Provinz in Tokio angekommen, nimmt der heranwachsende Hamaguchi eine Assistentenstelle im Studio eines erfolgreichen Mangazeichners auf. Viel Zeit für ein Privatleben hat der talentierte Hilfszeichner nicht, der Termindruck der Magazinproduktion ist stark. Aber Hamaguchi träumt von einer eigenen Karriere als Zeichner. Erst als er im Künstlermilieu die hübsche aber todkranke Mariko kennenlernt, wagt er einen Schritt, der sein kommendes Leben verändern könnte...

Nach „Vertraute Fremde“, „Die Sicht der Dinge“, „Träume vom Glück“ und „Der spazierende Mann ist dies schon der vierte Band, den ich von dem japanischen Künstler Taniguchi lese und der die kleinen Geschichten des Alltags erzählt. Wieder ist das zentrale Thema die Suche nach dem persönlichen Glück. Dabei geht es gar nicht um das Glück aufgrund materieller Werte, sondern die kleinen Dinge des Lebens, die uns alle glücklich machen können: ein Erfolgserlebnis, ein Haustier, eine Aufmerksamkeit, die Familie und Freunde. Kein schnelles Auto, kein großes Haus, kein luxuriöses Schwimmbad kann glücklich machen, wenn das persönliche Umfeld nicht stimmt. Das sind die Aussagen, die in allen Werken deutlich mitschwingen.

Daneben erfährt der Leser wieder einmal viel über das das Leben im Japan der 60er Jahre. Ein Land, dass auf dem Weg zu einer technologischen Wirtschaftsmacht ist und zerrissen zwischen Tradition und Moderne und westlichen Einflüssen ist. Und es ist ein Land mit einer drohenden Überpopulation, wo das Individuum kaum eine Intimität oder Privatsphäre genießen kann. Es gewährt einen Einblick in die Studios der „Mangakas“, das ist der Begriff der Autoren und Zeichner und der japanischen Künstlerszene dieser Zeit.

Wie immer ist die männliche Hauptfigur introvertiert, nachdenklich, ruhig und eher ein Beobachter der Dinge, die um ihn herum geschehen. Fast wie ein Stück Holz in einem Fluss des Lebens wirkt die Hauptfigur in den Geschichten. Dabei erfährt man über zwei Erzählebenen die Geschichte, einmal über die Sprechblasen und über die Textboxen des Erzählers Hamaguchi, der alles in der ersten Person spricht.

So entsteht eine Tiefe, die durch einen zeichnerischen „Kniff“ (oder wie man es nennen kann) eine analoge Unterstützung erhält. Denn die Zeichnungen wirkten zumindest auf mich auch auf zwei verschiedene Ebenen. Die Figuren und Gesichter im Vordergrund sind sehr schlicht gehalten, Nasen, Mund und Augen, Mimiken sind oftmals nur angedeutet und verlangen einiges an Überlegung ab. Im krassen Gegensatz dazu sind die Hintergründe gehalten, die präzise, fein, genau und fast opulent gezeichnet sind. Wie Impressionen kann man darin verweilen. Dieses doppelte Wechselspiel in Erzählung und zeichnerische Darstellung bringt trotz aller Ruhe eine tolle Dynamik, die ich bisher in dieser ausgereiften Form nur bei Tamaguchi so finden konnte.

Alle vier „Taniguchis“ habe ich übrigens aus der Bibliothek mitgebracht bekommen und haben mir somit keinen Cent gekostet. Man sollte sich übrigens zwischen zwei Bänden eine gewisse Zeit lassen. Denn aufgrund der Tatsache, dass sich die Figuren durch ihre zeichnerische Schlichtheit sehr ähneln, kann man leicht noch immer eine Figur aus einem vorhergehenden Band bei der Lektüre im Kopf haben, was mir schon passiert ist. Das ist auch schon das einzig negative, was ich dazu schreiben kann.
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