Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 11.11.2015, 18:53   #6  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
Benutzerbild von Servalan
 
Ort: Südskandinavien
Beiträge: 10.321
Blog-Einträge: 3
Standard Alexandre Dumas (père): Le Comte de Monte-Cristo (1844-1846)

Le Livre de Poche: Les Classiques de Poche, 798 Seiten (Band 1) + 797 Seiten (Band 2)
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Gr..._Monte_Christo

Jugendbücher werden häufig in der einen oder anderen Weise bearbeitet. Wenn sie in Reihen erscheinen, werden die einzelnen Bände auf eine bestimmte Weise getrimmt, meist gerafft und gestrafft. Natürlich kannte ich schon in jungen Jahren das Grundgerüst der Story, aber bei einem anderthalbstündigen Spielfilm oder einer 180-250 Seiten langen Fassung bleibt bloß ein Skelett von diesem Abenteuerroman übrig.

Mittlerweile ein fester Bestandteil der französischen Literaturgeschichte, gibt es auch von diesem Klassiker preiswerte Studienausgaben für Romanisten und andere Interessierte.
Dabei war der Roman eine Auftragsproduktion, mit der Dumas den damaligen Blockbuster von Eugène Sue Les Mystères de Paris (1843) in die Schranken weisen wollte. Statt einer Stadt überbot er seinen Konkurrenten mit drei Städten (Marseille, Rom und Paris), wo sich ein weit verzweigtes Geflecht von Komplotten, Intrigen und Karrieren entfaltet. Bei den meisten Bearbeitungen reduziert sich das Geschehen auf die Rache des unschuldig verurteilten Edmond Dantès, die lediglich im Hintergrund das Gesellschaftspanorama zusammenhält.

Länge ist relativ: Eine langweilige Kurzgeschichte erscheint mir länger als ein fabelhaft inszenierter Roman.
Wer mit dem Abenteuer des Grafen von Monte Christo zufrieden ist, hat das meiste überflogen.

Einerseits gewährt Dumas einen Einblick in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und spannt seinen Bogen dann bis in damalige Gegenwart: Der verbannte Napoleon, der sein Comeback plant (das bei Waterloo grandios scheitern wird), wird auf diese Art ebenso zum Element wie der technische Fortschritt (vom Segelschiff zum Dampfboot, in der Telegrafie) oder der Rom-Tourismus der gebildeten Oberschicht.
Als das Segelschiff Pharaon das zweite Mal in Marseille einläuft, ist der Windjammer ein Oldtimer, der für eine Reederei wirtschaftlich unrentabel wäre. Das Spiel mit Pünktlichkeit und Präzision oder den fünf Alter Egos der Grafen geht in Richtung von Verkleidungstalenten wie Sherlock Holmes oder Dr. Mabuse.
Literarisch besonders modern empfand ich den fast schon psychedelischen Mittelteil in Rom, wo Touristen zum Spaß gefoppt werden, falsche und echte Räuber sich ein Stelldichein geben.

Mit welcher feinsinnigen Ironie Dumas sein Garn gesponnen hat, wird in einer der Schlußszenen deutlich, in denen der Graf von Monte Christo das Château d’If besucht. Wie im Ric Hochet / Rick Master-Album dient das stillgelegte Inselgefängnis als touristische Attraktion. Dantès erkennt einen seiner ehemaligen Wärter, den er nach Anekdoten fragt, und dieser erzählt Dantès seine eigene Geschichte, ohne daß der den ehemaligen Häftling erkennt.

Mehr als ein Jugendbuch, eines der besten Bücher von Dumas. Für Jüngere eine spannende Geschichte, Erwachsene werden die Zwischentöne genießen.

Geändert von Servalan (11.11.2015 um 19:07 Uhr)
Servalan ist offline   Mit Zitat antworten