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Alt 28.01.2023, 18:43   #220  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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  • Jules Verne: Voyages extraordinaires Tome 12: Le Tour du monde en quatre-vingts jours (Hetzel 1873) | Reise um die Erde in 80 Tagen (erstmals Verlag der Gebrüder Légrády 1873)
  • Around the World in 80 Days | In 80 Tagen um die Welt (USA 1989, Avala Film und Harmony Gold), Drehbuch: John Gay, Regie: Buzz Kulik, 266 min in drei Teilen, FSK: 12
  • Around the World in 80 Days | In 80 Tagen um die Welt (Frankreich / Italien / Deutschland 2021, Gemeinschaftsprojekt der European Alliance durch Federation Entertainment, France Télévision, RAI Radiotelevisione Italiana, Seven West Media, Slim Film + Television und ZDF), Idee und Drehbuch: Ashley Pharoah und Caleb Ranson, Regie: Steve Barron, Brian Kelly und Charles Beeson, 8 à 47 min
In meiner Kindheit habe ich zwei Romane von Jules Verne gelesen: 20.000 Meilen unter dem Meer und In 80 Tagen um die Welt; denn das waren die einzigen, die sich in der doch recht überschaubaren Bibliothek meiner Eltern befanden. Schon damals fand ich es seltsam, daß beide den gleichen Umfang hatten, um die 200 Seiten.
Damit mein Französisch nicht einrostet, habe ich mir später die günstigen Taschenbuchausgaben von J'ai lu zugelegt, und dabei stach mir der tatsächliche Unterschied ins Auge: Das Abenteuer von Phileas Fogg und Passepartout hatte wirklich kaum mehr Seiten, während das Abenteuer um Kapitän Nemo und seine Nautilus ein barocker Schmöker war.
Obwohl der Klassiker heute zum Repertoire gehört, war die Weltreise unter Zeitdruck in den 1870ern ein Medienevent, den Verne mit seinen Mitarbeitern gewissermaßen am Reißbrett entworfen hat. Er hatte erhebliche Schwierigkeiten, aus der von Edgar Allan Poe geborgten Idee, einen Stoff zu entwickeln, der sich Roman schimpfen durfte. Nun ja, der Plot um die Wette eines skurrilen Engländers mit seinem französischen Butler bleibt dünn; und das dürfte einer Gründe sein, warum sich das Rennen um die Welt so gut für Verfilmungen eignet. Der Plot wird zu einem neutralen Hintergrund, auf den die modernen Bearbeiter ihre zeitgenössische Version projizieren können, quasi eine eingebaute Vorlage, den Stoff zu aktualisieren.

1989 habe ich mein Abi gebaut und später in einem Hiwi-Job mein erstes Geld verdient; dann kam noch der Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs dazu; genug gute Gründe also, um den Dreiteiler von 1989 bei seiner Erstausstrahlung zu versäumen. Wenn ich das mitbekommen hätte, ich hätte die Miniserie sehen wollen.
Woanders hat schon jemand von dieser Verfilmung mit Pierce Brosnan, Michael Palin und Peter Ustinov geschwärmt. Nun ja, vor kurzem bot mir Servus TV die Gelegenheit, meinen Patzer von damals auszuwetzen und sie nachzuholen.
Mit seinem All-Star-Ensemble auch in den kleinen Nebenrollen setzt er die Tradition gewisser Kinofilme aus den 1960ern fort, in denen episodisch ein Panorama ausgerollt wird, das anhand einer prägnanten Idee vielen bekannten Gesichtern eine Möglichkeit für Gastauftritte verschafft; ich denke da an Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten oder wie ich in 25 Stunden und 11 Minuten von London nach Paris flog (1965) oder Eine total, total verrückte Welt (1963), alles Spielfilme mit deutlicher Überlänge.
Die Verne-Verfilmung setzt dieses Spiel auf der anderen Seite des Castings fort, indem Prominente aus der damaligen Gegenwart Foggs und Passepartouts Reiseweg kreuzen: von Sarah Bernhardt über Jesse James bis zu Cornelius Vanderbilt. Foggs Rolle als Underdog bei der Wette, kann gewisse Ähnlichkeit mit der Chuzpe der berühmten Eisenbahnräuber nicht leugnen; wenn bei Vanderbilt sein Inkognito auffliegt und er mit Aouda von der Yacht geworfen wird, gleicht das Szenen in Die Gentlemen bitten zur Kasse, wo die Oberschicht über den Coup not amused ist.
Ich kann die Schwärmerei verstehen, denn auch mich hat diese Verfilmung köstlich amüsiert. Sie baut die Frauenrollen deutlich aus, allen voran Prinzessin Aouda, die ja erst zu Anfang des zweiten Teils auftritt; dann gibt es noch die Frau des Erfinders der "Purpurnen Wolke"; die Kaiserin von China und nicht zuletzt Sarah Bernhardt, die später sogar im Reform Club aufkreuzt.
Über die beiden letzten Teile entwickelt sich zwischen Phileas Fogg und Prinzessin Aouda eine Zuneigung, die in einer Heirat gipfelt; und in dieser Version ist es Passepartout, der über den Pfarrer erkennen muß, daß sie bei ihrer Reise einen Tag gewonnen haben.

Die neueste Verfilmung als jetzt erste Staffel einer Teil eines Verne-Universums tritt in die Fußstapfen ihrer Vorgängerin von 1989: Die modernen Elemente werden auf den neuesten Stand gebracht, siehe die feministischen und anti-rassistischen Updates. Fast 150 Jahre nach dem ersten Erscheinen des Romans gewährt sich die Umsetzung größere Freiheiten: Aus dem knorrigen Privatdetektiv Wilbur Fix wird kurzerhand die Reporterin Abigail Fix, Tochter von Foggs Freund Bernard Fortescue.
In der 1989er Fassung fand ich die USA-Folge dem Reisetempo angemessen; 2021 erscheint sie mir fast zu kurz, US Marshal Bass Reeves hat mir besser gefallen als Jesse James. Ärgerlich hingegen empfand ich Episode 6 auf der einsamen Insel, weil das storytechnisch auf mich dilettantisch wirkte. Von Ashley Pharoah stammen Life on Mars und Ashes to Ashes! Die Folge kam bei mir wie ein Filler an: "Hallo Leute, wir lassen den Plot mal im Leerlauf, damit sich die Charaktere entwickeln können." Das kam billiger rüber als ein Studentenfilm von der Filmhochschule.
Das Finale schließlich hatte etwas von einem neuen Anfang; aus den ungleichen Reisegefährten ist ein kraftvolles, selbstbewußtes Trio geworden, irgendwie Steampunk-Superhelden. Ich bin gespannt auf die zweite Staffel, die ja unter die Meere führen soll ...

Geändert von Servalan (29.01.2023 um 01:44 Uhr)
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