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Alt 06.01.2010, 17:34   #820  
michidiers
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BERLIN

von Jason Lutes



Das Jahr fängt gut an, denn ich habe mein erstes Comic 2010 gelesen und gleich einen Volltreffer erwischt.

Inhalt: Ende der 20er Jahre zieht es die kölner Kunststudentin Marthe Müller in die pulsierende Metropole Berlin. Dort lernt sie den Journalisten Kurt Severing kennen und an seiner Seite erlebt die junge Frau den Überschwang und Elend einer im Untergang begriffenen Weimarer Republik voller politischer und gesellschaftlicher Gegensätze.

Lutes hält sich bei der Beschreibung und Darstellung von Berlin sehr nah an den tatsächlichen Gegebenheiten und Vorkommnissen. Offenbatr hat er sich mit der Historie der Stadt und der Geschichte der Weimarer Republik und des aufkommenden Nationalsozialismus lange und eingehend Befasst. Seine Stadtansichten wirken akribisch genau auf mich und historische Personen (Carl von Ossietzky, Ernst Thälmann, Joseph Goebbels als damaliger Gauleiter etc.) der deutschen Geschichte werden Nebencharaktere in der Handlung.

Das Handlungsschema erinnert stark an Spielfilme wie L.A.Crash, Traffic oder Babel: Mehrere Handlungsfäden sind locker miteinander verknüpft und überlappen sich teilweise, wobei die Story um die Studentin Marthe Müller stets der Hauptfaden bleibt. Dieses für eine Comic sicherlich recht schwierige „Storytelling“ ist dabei handwerklich hervorragend gelöst worden. Die Handlung ist flüssig und stets spannend und interessant.

Zeichnerisch hält sich Lutes dabei an klare Linien, ähnlich Herges Tim& Struppi. Einflüsse damaliger zeitgenössischer deutscher Maler wie Dix oder Zille meine ich dabei zu erkennen. An Stadtpläne moderner Städte erinnert mich ebenfalls die Aufteilung der Seiten und Panels, die wie die Linien von Straßen und Grundrisse von Häuserblocks aussehen. Einfach hervorragend!

Die deutsche Gesellschaft ist ende der 20er Jahre zerrissen und in zwei extreme Lager geteilt, in die linken Kommunisten und in die rechten Nationalsozialisten. Schägereien, Kundgebungen und Gewalt in den Straßen sind an der Tagesordnung. Das tragische dabei für den Leser ist, dass er zumindest die politische Entwicklung der nächsten Jahre und die kommende Apokalypse für diese Stadt schon kennt im Gegensatz der trotz aller Not so lebenslustigen Stadt und Charaktere. Und die Schicksale der noch um ihre tödliche Zukunft im LAger ahnungslosen Nebencharaktere Ernst Thälmann und C. v. Ossietzky , die beide Jahre später ihr Leben in KZs lassen mussten, liegt wie Blei im Magen des Lesers.

Der vorliegende Band ist der erste von drei Bänden, der acht der insgesamt 24 US-Ausgaben umfasst.

Ich frage mich nur die ganze Zeit: Warum schreibt ein amerikanischer Comickünstler solch eine Story in solch einer formidablen Art und Weise. Haben wir denn keine deutschen Autoren, die sich solch einem urdeutschen und wichtigen Stoff annehmen wollen, oder können? Ein fataler Vergleich fällt mir da zu dem Film „Schindlers Liste“ ein, der von dem amerikanischen Abenteuer- und Kinderfilmregisseur Stephen Spielberg gedreht wurde, wo wir doch solch intellektuelle deutsche Filmmacher zu dieser Zeit hatten, die vermutlich nicht einmal im Träume an solch eine Verfilmung dachten.

Geändert von michidiers (06.01.2010 um 17:41 Uhr)
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