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Alt 29.01.2023, 18:47   #221  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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  • J. G. Ballard: Crash. A Novel (Jonathan Cape 1973, Farrar, Straus and Giroux 2001) | Crash. Roman (erstmals Edition Phantasia 1985)
  • Crash (Kanada / Großbritannien 1996, The Movie Network und Telefilm Canada), Drehbuch und Regie: David Cronenberg, 100 min, FSK: 18
James Graham Ballards Werke sind schon ein spezieller Fall: Oberflächlich betrachtet fallen die meisten in das Science Fiction Genre, allerdings wehrt sich der Bewunderer von William S. Burroughs gegen eine leichte Lektüre. Seine Kurzgeschichten bezeichnet er gern als "condensed novels" (ungefähr konzentrierte Romane) und nutzt experimentelle Erzählstrukturen, die das Publikum schon mal irritieren können.
Wie in Fantasy und Science Fiction bilden mehrere seiner Einzelbände großere Einheiten und erschaffen im Worldbuilding ein geschlossenes Universum. Crash bestätigt die Erwartung, denn mit den folgenden Romanen Concrete Island (1974) und High-Rise (1975) bildet sie eine Trilogie. Die drei Romane sind augenscheinlich in der damaligen Gegenwart angesiedelt, wo sie Situationen wie Laborexperimente eskalieren lassen, bis die Menschen ihre finsterste Seite zeigen und sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen.
Crash verführt das Publikum mit einer Story um eine Gruppe von Gleichgesinnten, die sich gegenseitig absichtlich in Autounfälle verwickeln, um den Crash als erotischen Orgasmus genießen zu können. Jeder Crash bedeutet jedoch den Verlust der Kontrolle und birgt das Risiko, dabei tödlich verletzt zu werden. Für die konspirativ organisierte Clique wäre dieser Crash der ultimative Kick, der von einigen wie eine Erlösung des irdischen Einerlei herbeigesehnt wird.
Ballard verschränkt hier eine bitterböse, schwarzhumorige Kritik der vom Wohlstand träge gewordenen und gelangweilten Gesellschaft mit den Mitteln der Pornographie. Die Autounfälle und daraus resultierenden Krankenhausaufenthalte werden wie dekadente sexuelle Akte zelebriert. Harter Toback!

Cronenberg hat sich seit seinem Debüt als Spezialist für Body Horror etabliert. Meist verschmelzen Technik und Körper zu etwas Grenzwertigem, das einige als eklig empfinden, während die psychischen und sozialen Nebenwirkungen faszinierend sein können. Er nutzt die Verfilmung für drastische Szenen, in denen der Autofetisch durch den sektenartigen Unfallkult auf die Spitze getrieben.
Wie Gewalt auf diese Weise mit Sex kombiniert wurde, führte in Großbritannien zum Skandal. Der Kunstfilm wurde verrissen, als "krank", "verdorben" und "pervers" abgetan, so daß die öffentliche Stimmung gegen ihn Kinoaufführungen in einigen Stadtteilen Londons verhinderte, obwohl die britische Zensurbehörde BBFC ihn ab 18 freigegeben hatte.
Cronenberg konnte sich mit einer Uraufführung auf den 49. Internationalen Filmfestspielen von Cannes 1996 schmücken, wo der Film in der prestigeträchtigen Sektion Wettbewerb lief. Zu seinen Verteidigern gehören der englische Schriftsteller Martin Amis und Martin Scorsese. Amis verwies darauf, daß das Buch 1973 durch die Autothematik noch eine größere Wucht hatte als 1996.
Cronenberg hat ohne Zweifel bessere Filme als Crash gedreht; aber gerade im letzten Jahrzehnt dürfte der Stoff ein weiteres Mal gealtert sein. Heute erregen selbst die skurrilsten erotischen Vorlieben ein müdes Gähnen, und Unfallfetischisten auf einem CSD dürften von den woken Avantgardisten herzlich willkommen geheißen werden. Mich würde es nicht wundern, wenn Cronenbergs Film demnächst auf FSK: 16 oder gar FSK: 12 herabgestuft würde.
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