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Alt 07.03.2019, 22:51   #543  
Peter L. Opmann
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Spinne (Williams) 123

Erscheinungstermin: 11/1978

Originalausgabe:
1) Amazing Spider-Man # 122
2) Mighty Thor # 143

Story-Titel:
1) Des Kobolds letzter Streich!
2) … und bald kommen die Zauberer!

Original-Storytitel:
1) The Goblin’s last Stand!
2) And sonn shall come: The Enchanters!

Zeichnungen:
1) Gil Kane / John Romita / Tony Mortellaro
2) Jack Kirby / Bill Everett

Text:
1) Gerry Conway
2) Stan Lee



Wenn ich genau nachdenke, bin ich nicht mehr ganz sicher. Ich weiß noch, daß ich an dem Tag, als ich dieses Heft gelesen hatte, mit einem sehr flauen Gefühl in der Schule saß. Ich weiß aber nicht mehr genau: Habe ich die Ausgabe frühmorgens noch vor der Schule gekauft und gelesen? Oder hatte ich sie am Vortag gelesen, und die Wirkung war immer noch spürbar? In meiner Familie hatte es noch keine Todesfälle gegeben, die mich treffen konnten. Ein Opa war schon vor meiner Geburt gestorben, eine Oma starb, als ich sieben war. Also kam es mir vor, als ob Gwen quasi ein Familienmitglied gewesen war. Es schien, als sei Gwen schon (fast) immer dagewesen, obwohl ich die Hälfte der Williams-Serie nur sporadisch gelesen hatte. Ich habe richtig ein bißchen um sie getrauert. Ich brauchte einige Zeit, um wieder gut drauf zu kommen.

Gwens „Tod“ nehme ich zum Anlaß, mir einen Überblick zu verschaffen, wie sie in der Serie tatsächlich agiert hat. Das variierte sehr stark – so sehr, daß ich zweifle, ob sie eine konsistente Figur war. Ihr erster Auftritt war in „Spinne“ # 32 an der Highschool. Peter fällt ihr auf, weil sie ihn offenbar als einzigen Jungen der Schule kalt läßt. Peter wälzt in seinem Kopf permanent Probleme; das interpretiert sie als Überheblichkeit. Sie beteiligt sich zwar ein bißchen an dem Gerede, daß er ein Feigling sei, merkt aber schnell, daß das überhaupt nicht stimmt. Das ist Gwen in der Ditko-Phase. Danach geht es so weiter, daß Peter immer wieder Einladungen von ihr ausschlägt. Lebenslustig, wie sie ist, verabredet sie sich dann mit Flash Thompson, aber sie ärgert sich, und gleichzeitig läßt sie durchblicken, daß Peter ihr wichtiger ist. Die Beziehung wird langsam enger. In „Spinne“ # 60 umarmen sich die beiden erstmals. Aber Gwen bekommt das (berechtigte) Gefühl, Peter verberge etwas vor ihr. Sie trifft sich mit Flash, um herauszufinden, was das ist, was zu einem Eifersuchtsdrama führt.

Peter denkt, er sei zu arm, um Gwen etwas bieten zu können. Aber Gwen will hauptsächlich, daß er da ist, wenn sie ihn braucht. Gwens Vater löst dann zwei schwere Krisen aus: Zuerst denkt sie, Peter habe ihn angegriffen, was sie ihm nicht verzeihen kann. Dann scheint die Spinne ihren Vater getötet zu haben, was sie für Peter fast unerreichbar macht. Gwen verläßt Peter und reist zu Verwandten nach England, kehrt aber nach kurzer Zeit zurück. In „Spinne“ # 100 deutet Peter an, daß er sie heiraten möchte. Kurz darauf muß er sich aber wieder – vorübergehend – vor ihr verbergen, weil er nach einem mißlungenen Experiment vier Extra-Arme hat (wie die Spinne!). Gwen wandelt sich zur emanzipierten Frau und lädt Peter zum Essen und ins Kino ein. In „Spinne“ # 107 ist davon die Rede, daß die beiden eine Nacht zusammen verbringen (man sieht davon natürlich nichts). Fast zum Schluß verursacht Gwen Probleme, weil sie Tante May beschuldigt, Peter zu sehr zu bemuttern, und Tante May daraufhin zu Doktor Octopus überläuft. In „Spinne“ 117 ist beinahe schon ihr letzter Auftritt, bei dem sie Peter versichert, Flash bedeute ihr nichts.

Das heißt: Gwen hat sehr widersprüchliche Gefühle und Motivationen. Sie sieht ja auch immer wieder anders aus. Naja, so ein Hin und Her in der Beziehung kann ich mir schon vorstellen. Aber Peter und Gwen sprechen sich darüber nie richtig aus. Klar, er kann ihr nicht erklären, daß er immer wieder zur Spinne wird und deshalb weg ist. Doch sie versuchen nie, trotzdem eine gemeinsame Basis zu finden. Alles in allem sind sie ziemlich wenig zusammen, gemessen daran, daß sie sich so sehr lieben. Das ist keine große Liebesgeschichte, was in den 60er Jahren vielleicht auch wegen Zensurbestimmungen gar nicht möglich war. Womöglich ist das der wirkliche Grund, warum Peter sie immer wieder allein läßt, wenn sie eigentlich von ihm in den Arm genommen werden will… Aber in den einzelnen Episoden schaffen es die Marvel-Künstler irgendwie, es doch wie die große Liebe aussehen zu lassen. Als der Bullpen entschied, Gwen sterben zu lassen, hat das vielleicht auch eine Rolle gespielt: Die Beziehung von Gwen und Peter war zu unbestimmt und zugleich zu zerfahren, um etwas Richtiges daraus machen zu können – lieber mit Mary-Jane nochmal neu anfangen. Wobei ich natürlich auch das Argument kenne, Gwen sei zu brav gewesen und damit eine weniger interessante Figur als MJ.

Nun endlich zum vorliegenden Heft. Die Spinne fängt den Grünen Kobold und versucht, ihn zu einem Geständnis seiner Schuld zu bringen. Aber der Kobold kann sie abschütteln. Polizei und eine Horde Gaffer sind bei der Leiche von Gwen eingetroffen, aber die Spinne jagt sie weg. Sie erinnert sich an die schönen Momente, die Peter mit Gwen erlebt hat, und daran, wie die Spinne sie immer wieder getrennt hat. Schließlich läßt sie zu, daß die Leiche abtransportiert wird, will sich aber nicht von der Polizei vernehmen lassen. Mehr in Wut als in Trauer kehrt Peter in seine Wohnung zurück und trifft dort den paranoiden Harry. Als nächstes schwingt die Spinne zur Redaktion des Daily Bugle und bespricht mit Joe Robertson (schon etwas gefaßter), wie sie Norman Osborn aufstöbern kann. Sie erhält einen heißen Tip: ein Lagerhaus am Hudson River. Dort wartet sie auf den Kobold. Als er auftaucht, kämpft sie so furios, daß ihr erst im letzten Moment klar wird, daß sie dabei ist, ihn umzubringen – und dann wäre sie nicht besser als er. Der Kobold plant eine letzte Schurkerei: Er will die Spinne von hinten von seinem Koboldbesen aufspießen lassen, aber ihre Reflexe retten sie. Der Besen bohrt sich stattdessen in die Brust des Kobolds. Sie läßt den Toten achtlos liegen, wird dabei aber von einem Unbekannten beobachtet. Wir werden auf die nächste Ausgabe vertröstet, wo wir etwas darüber erfahren sollen, wer das ist. Mary-Jane hat an Peters Apartment gewartet. Als er zurückkehrt, blafft er sie an. Sie reagiert ganz untypisch: Sie geht nicht, sondern will Peter dennoch beistehen.

Wieder alles in allem eine gute Story, gut grafisch umgesetzt. Drucktechnisch ist diesmal nichts zu bemängeln. Bemerkenswert finde ich, wie anhaltend Peters eigenartige Wut-Trauer gezeigt und thematisiert wird. Das hebt die Story sicherlich etwas über das übliche Trivial-Niveau. Ich glaube, Autor und Zeichner waren sich bewußt, daß sie an zwei Meilenstein-Ausgaben arbeiteten. Was Williams angeht: In dieser Ausgabe gibt es wieder Monats-Checkliste und eine Leserbriefseite. Fast wieder normale Verhältnisse, nachdem zwischendurch die Redaktion kaum mehr in Erscheinung getreten war. In den Briefen überwiegt das Lob. Bemängelt wird, daß in der Serie „FV“ kein Platz für redaktionelle Seiten mehr ist. Die Redaktion sagt dazu, sie wolle die Zweitstory immer in zwei Teilen abhandeln, und bei zehn Seiten „Dämon“ bleibe kein Platz mehr übrig, Das wird nun zur Diskussion gestellt: Doch wieder drei Teile? Erfreulich, daß die Redaktion nicht Seitenkürzungen in Betracht zieht.

Geändert von Peter L. Opmann (25.04.2019 um 14:46 Uhr)
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