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Alt 20.03.2023, 22:27   #45  
Tilberg
Mr. Lexikon
 
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Das ist doch mal eine schöne Diskussion! Ich begrüße das ausdrücklich, gibt es mir doch Gelegenheit, nochmal etwas zu den Hintergründen unseres Comics zu sagen. Vielleicht versöhnt das den einen oder anderen mit den behandelten und dargestellten Themen. Schwer wird es freilich bei Leuten, die am Hegenvirus erkrankt sind und eine "Entweihung" sehen, ohne auch nur ein Fanmagazin in die Hand genommen zu haben. An der religiösen Verehrung von Comics und ihren Schöpfern kann man nur schwer rütteln.

Also zu unserem Hefterl, wie ich gern sag. Zweifelsohne gehöre ich zu der Fraktion von Mosaikfans, die sich insbesondere für die historischen und kulturellen Hintergründe interessieren, bis hin zum Grundriß des Hafenforts von Tunis in der Dschuhaserie. So hat mich auch die Beschäftigung mit Hanswurst fasziniert. Wenn man diese Figur in ihrer theatergeschichtlichen Rolle als derb und obszön bezeichnet, ist man fast noch euphemistisch. Fressen, saufen, furzen, kotzen, schei§en, vögeln und prügeln - in etwa dieser Reihenfolge - sind die Liebligstätigkeiten des Hanswurst und all seiner vergleichbaren Lustigmacher bis spät ins 18. Jahrhundert. Erst dann wurde der Hanswurst von neuen, aufklärerischen Reformern von der Bühne verbannt, um das Theater zu einer moralischen Anstalt zu erheben. Bis zu diesem tatsächlich "Hanswurst-Streit" genannten Konflikt, den die Reformer übrigens gewannen, war Theater in Deutschland (und nicht nur hier) von diesen drallen, lebensbejahenden, anarchischen, anti-autoritären Figuren geprägt. Das kann man sich gar nicht schweinigelig genug vorstellen. Natürlich gab es neben den Hanswurstiaden immer auch parallel eine ernsthaft-erhabene Handlung auf der Bühne, aber wegen der kamen nicht genug Leute. Gekommen sind sie, um über und mit dem Hanswurst zu lachen. Ein später Reflex davon ist noch bei dem Fragment gebliebenen Stück "Hanswursts Hochzeit" des jungen Goethe zu bewundern (habe gerade erst den entsprechenden MP-Artikel dazu angelegt - meine Lieblingsfigurennamen sind neben Lausewenzel und Grindschiepel die beiden notgeilen Nichten Reckärschchen und Schnuckfötzchen).

Dieser Hintergrund ist dem Mosaikautor Dräger damals in den 70ern durchaus bewußt gewesen. Er hat vom originalen Hanswurst gerade so viel an Andeutungen ins Mosaik geholt, daß es noch als kindgerecht durchgehen mochte. Ich erinnere nur an das "Gspusi" mit der Köchin Kathrin, das Hansls "Sinn fürs Nahrhafte" entsprochen habe, oder seine ständigen Scherze rings ums Hinterteil seiner Patienten (reinkneifen, Klistier verpassen, Schrotkugeln rauspopeln ...).

Ich fand es nun damals, als ich das Mosa-icke 14 kuratierte und einen detaillierten Hintergrundartikel zum Hanswurst verfaßte, reizvoll, auch mal diese weniger kindliche Seite des Original-HW zu zeigen, und zwar als Comic. Das finde ich auch heute noch eine richtig gute Idee. Wir alle, die das Mosaik aus Kindertagen kennen, sind inzwischen gestandene Mannsbilder (bzw. alte Säcke, wie Rookie gerade zurecht anmerkte), und da kann ich mir nur schwer vorstellen, daß ein Comic mit dem schweinigelnden Ur-Hansl dazu führt, daß jemand seufzend in Ohnmacht fällt. Das Risiko konnte ich getrost eingehen, auch wenn ich gerne gestehe, daß es nicht zwingend nach jedermanns Geschmack sein würde.

Das also zum Sujet an sich. Daß der Hansl sich mit der Zenzi vergnügt, daß der Graf ins Bett kackt, daß die Katze angeblich rollig ist, daß es ein uneheliches Kind gibt, all das gehört zum Hanswurst, wie auch die teilweise weniger offensichtlichen Details, die wir eingebaut haben, z.B. daß er "à parte" spricht, also "zur Seite", zum Publikum, oder daß er bei uns sein Originalkostüm trägt, oder daß er Sauschneider ist (ein Wanderberuf, dessen Ausübende zumeist aus dem Salzburgischen kamen) usw.

Was nun die Zeichnungen betrifft: Ja, Sascha Wüstefeld hat nicht den traditionellen Mosaikstrich, aber sein Stil ist dem Mosaik doch sehr verwandt (was Wunder) und paßte mE gerade für unser derbes Thema hervorragend. Ich kann bis heute bei manchen Panels regelmäßig lachen (z.B. über Hansls erfreutes Gesicht, als er die Sternsinger für die Abrafaxn hält, und dann die betretenen Gesichter der Digedags, die bekanntlich mit niemandem weniger gern verwechselt werden, als ausgerechnet mit den Plagiatlingen). Und Sascha hat dem Affen ordentlich Zucker gegeben, was ich bis heute hervorragend finde, noch draller und lebensfroher, als ich als Initiator und Dirk als Autor im Sinn hatten. Man merkt den Bildern an, welche Freude Sascha daran hatte. Es ist kein Zufall, daß er kurz darauf auch den Auftrag für das Völkerschlachtheft angenommen hat.

Nun zu den Fortsetzungen. Dirk und ich hatten uns nach dem ersten Comic, über den wir so glücklich waren, bald neue Episoden ausgedacht. Auf meinem Mist sind wieder die theaterhistorischen Hintergründe gewachsen. So wollten wir in der Kasper-Larifari-Folge die Entstehung des klassischen Handpuppen-Figurenensembles im Kasperletheater durchspielen - so wie Lothar Dräger in der Harlekinserie die Enstehung des Figurenensembles der Commedia dell'arte thematisierte. Also Kasper selbst, dazu Seppl, Teufel, Gendarm, Krokodil, Grete, Oma, Räuber. Nicht alle diese Figuren haben es als Hauptfiguren in die Geschichte geschafft (dafür hätten wir eine ganze Serie an Comics gebraucht), aber viele von ihnen doch, und die restlichen werden zumindest erwähnt oder sind im Bild zu sehen. Man sieht auch, daß diese Geschichte schon wesentlich weniger derb ist, als die HW-Folge, eben wegen des anders gelagerten Sujets. Stattdessen geht's ums Verprügeln und Herumjagen. Gut, am Ende landen die Bösewichter in der Jauchegrube, aber diese Hommage an Kusturica ("Schwarze Katze, weißer Kater") sei uns verziehen. Schwamm drüber! Da bin ich mal großzügig.

Wie man sieht, hat Sascha diesmal auch wesentlich kindgerechter gezeichnet, es gibt keine Möpse oder dergleichen, stattdessen lugen die Faxe irgendwo ins Bild, und auch die geheimnisvolle Flasche hat er in sein Wimmelbild eingebaut - beides seine eigenen Ideen.

Für die letzte Folge (bzw. die inhaltlich erste) und die Rahmenhandlung stand Sascha wegen anderer Arbeit nicht zur Verfügung, dafür konnten wir Jan gewinnen, und auch er hat einen geilen Job gemacht. In der Pickelhering-Folge haben wir zwei Vorläuferfiguren von HW zu Hauptfiguren gemacht, die es auch schon mal ganz apokryph in den Mosaikkosmos geschafft hatten ("Califax' kleine Geschichte der Kochkunst"). Jean Potage / Schampitasche war bekannt für seinen verformbaren Hut, was wir in der Geschichte auch als sein Erkennungsmerkmal erwähnen, und der Pickelhering selbst war das direkte Vorbild für Joseph Stranitzky zur Schaffung des Hanswurst.

Die Austauschbarkeit der Lustigmacher, die sich lange Zeit eigentlich nur in ihren Namen unterschieden, bis dann der wesentlich akribischer ausgearbeitete Hanswurst alle ersetzte, ist das zugrundeliegende Thema unseres kleinen Comics mit seinen mehrfachen Rollen-, Kleider- und Namenstauschen - weniger also die tatsächlichen Eskapaden der ebenfalls derben Originalfiguren. Dementsprechend ist an den Zeichnungen nichts obszönes mehr, denn darum geht es halt diesmal nicht. Und ganz und gar kindgerecht-niedlich ist ja wohl die Rahmenhandlung mit dem guten Onkel Haydn und seinen naseweisen Großnichten. Die einzige Passage, in der Jan auch mal ordentlich vom Leder zog, ist der zweiseitige Epilog zur Kasper-Folge, den Sascha anna dazumal nicht mehr geschafft hatte, und den Jan nun im Saschastil zu Ende führte. Erneut künstlerisch gerechtfertigt, denn es geht nunmal um den echten Hanswurst.

Ich kann freilich nicht verhehlen, daß ich bei Jans Hansl in der Pickelhering-Geschichte auch ins Schwärmen gekommen bin und in nostalgische Verzückung geriet. So hab ich den Hansl auch ganz doll lieb, trotz Riß in der Unterhose.

Zusammengefaßt: Ja, teilweise derb und obszön, aber aus gutem Grund und nicht unmotiviert wegen des Schockmoments. Ich hoffe, das hilft bei der Einordnung und ggf. bei einer etwas milderen Beurteilung, selbst wenn sich die Zeichnungen teilweise stark vom Mosaik unterscheiden.

tl;dr: Yeah but no but yeah but no but yeah but no but yeah but no but yeah but no.

Geändert von Tilberg (20.03.2023 um 22:40 Uhr)
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