Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 20.05.2020, 10:08   #35  
Peter L. Opmann
Mitglied
 
Benutzerbild von Peter L. Opmann
 
Ort: Hessen
Beiträge: 5.534
Die Rächer # 2
Williams, Februar 1974 ("Avengers" # 2, November 1963)



Dieses Heft kenne ich aus einem Superband, habe ihn also zumindest 1976/77 gelesen. Ungeachtet dessen ist das in meinen Augen eine schon viel bessere Ausgabe als die Debütnummer, wenn auch nicht ohne Schwächen. Nüchtern betrachtet ist es eine Mysterystory mit einem an ein Märchenwesen erinnernden Außerirdischen (dem „Phantom“), der die Fähigkeit besitzt, die Gestalt jedes anderen Lebewesens anzunehmen, Hinzu kommt raffinierterweise, dass die von ihm kopierte Person im „Limbo“ verschwinden muss, solange er an ihre Stelle tritt, da „zwei völlig identische Körper nicht in einem Universum existieren können“, wie das Phantom mehrmals erklärt. Er tritt nun gegen die Rächer an und schickt ein Mitglied nach dem anderen ins Limbo – logischerweise kann er aber nicht alle fünf Helden gleichzeitig ersetzen. Seine Strategie ist daher, unter ihnen Streit zu provozieren und sie dazu zu bringen, sich gegenseitig zu erledigen.

Dieser Plot ist ebenso reizvoll wie mit Schwächen behaftet. Es ist nämlich nicht erkennbar, daß der Plan des Phantoms aufgehen kann. Obwohl nämlich immer einer der Rächer sich seltsam und aggressiv verhält, behalten die übrigen kühlen Kopf und beruhigen sich gegenseitig. Am Ende sieht das Phantom nur noch die Chance, die Gestalt von Thor anzunehmen, dem stärksten der Rächer. Aber an diesem Punkt beendet Stan Lee das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel: Thor kann als ein Gott nicht vom Phantom ins Limbo verbannt werden; stattdessen landet der Außerirdische selbst dort und ist damit für immer unschädlich gemacht (oder kehrte das Phantom irgendwann doch mal zurück?).

Sieht man das Phantom und seinen verrückten Welteroberungsplan als bloßes Vehikel, um Konflikte zwischen den Rächern auszulösen, dann ist die Story doch recht stimmig und auch spannend. War der Hulk letztes Mal der Truppe beigetreten, um seine Einsamkeit zu überwinden, so zeigt sich nun, daß er – obwohl er noch einen normalen menschlichen Verstand hat – nicht in ein Team paßt. Er fühlt sich angefeindet, und sein Hang zu unkontrollierten Aktionen macht es für die andren wirklich schwierig. Vielleicht war das der Ausgangspunkt der Geschichte: Lee könnte sich überlegt haben, daß ein zivilisierter Hulk eine interessante Marvelfigur kaputtmachen würde; der immer wieder ausrastende Hulk aber kaum in die Rächer integrierbar wäre. Man kann ihn aber sehr wohl noch benutzen, um die Rächer in Aktion zu bringen (siehe # 3 und 4).

Wir sehen in dieser Ausgabe einiges an gruppendynamischen Prozessen: Die Rächer treffen sich, wissen aber nicht, worüber sie konferieren sollen. Ameisenmann wird zu Goliath (er hat soeben Pillen entwickelt, mit denen er sowohl schrumpfen als auch wachsen kann); nur so kann er mit den anderen Superhelden einigermaßen mithalten. Er und Thor befrieden mehrmals den Hulk und den Eisernen, die sich besonders verbissen beharken. Seltsam, daß sich Thor wie in der letzten Ausgabe zwischendurch einfach verabschiedet. Die Wespe sucht ihn in Gestalt von Dr. Don Blake auf, als der interne Streit wieder mal zu eskalieren droht. Man bekommt diesmal gar nicht mit, wann und warum sich Thor zurückzieht. Auch ein gruppendynamischer Aspekt: Die Wespe (Janet van Dyne) neigt dazu, Männer – vor allem Thor – anzuhimmeln, obwohl sie doch fest mit Goliath (Hank Pym) zusammen ist. In „Thor“ ist sie aber meines Wissens nie aufgetreten, um Jane Foster Konkurrenz zu machen. Und Goliath nimmt’s recht gelassen.

Obwohl an Action kein Mangel herrscht, sind doch auch einige witzige Szenen eingestreut, die für das Superheldengenre damals sicher ungewöhnlich waren. Ein New Yorker, an dem das Phantom zunächst die Gestaltübernahme ausprobiert hat, erzählt auf der Straße aufgeregt, was ihm passiert ist. Seine Zuhörer sind jedoch skeptisch. Rick Jones, damals Begleiter des Hulk, merkt als erster im Rächer-Umfeld, daß etwas nicht stimmt, denn der Hulk verhält sich ungewöhnlich. Das Phantom offenbart sich ihm, weil es sich von dem Jugendlichen nicht gefährdet fühlt. Etwas später greift das Phantom in Gestalt einer echten Wespe die Janet-Wespe an, die aber mit dem Insekt irgendwie fertigwird. Thor entfesselt einen Regensturm und läßt den Eisernen (als der das Phantom gerade auftritt) in Sekundenschnelle verrosten. Schließlich ist der Außerirdische besiegt, und Hulk trifft die Entscheidung, sich von den Rächern wieder zurückzuziehen. Die anderen blicken ihm nach und ahnen bereits, daß das noch Ärger bringen wird.

Die Zeichnungen von Jack Kirby gefallen mir wesentlich besser als in Heft 1, was zu einem Gutteil am Inker Paul Reinman liegt. Er setzt ausdrucksstarke, oft ziemlich dicke Striche, die aber die Eigenheiten des Kirby-Stils sehr gut hervortreten lassen. Außerdem: Zwar fehlen wiederum häufig Hintergründe, aber in diesen Fällen werden die Figuren so in Szene gesetzt, daß man auf Hintergründe gut verzichten kann. Alles in allem macht die Serie einen großen Schritt nach vorne. Sie wird von Einzelserien wie „Thor“, „Iron Man“ oder „Hulk“ unabhängig, allerdings fehlt noch ein passender Superschurke als Gegner der Rächer.

Geändert von Peter L. Opmann (20.05.2020 um 11:31 Uhr)
Peter L. Opmann ist offline   Mit Zitat antworten