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Alt 05.06.2020, 18:39   #116  
Peter L. Opmann
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Die Rächer # 6
Williams, Juni 1974 ("Avengers" # 7, August 1964)



Diese Ausgabe ist in meinen Augen ein schönes Beispiel dafür, wie Marvel-Comics ein Kind faszinieren können. Hier fehlten ja ein paar Voraussetzungen, um die Story richtig zu verstehen, weil Williams die vorhergehende Nummer ausgelassen hat. Trotzdem habe ich damals das, was für mich das Wesentliche war, sehr gut mitbekommen. Und manches davon war für mich ziemlich neu und aufregend. Ich habe einiges bis heute im Gedächtnis behalten. Aus heutiger Sicht haben Lee und Kirby mit der All-Star-Truppe Avengers immer noch ein paar Schwierigkeiten, aber ich finde nach wie vor, daß manches an der Ausgabe auch gelungen ist.

Es beginnt mit einer Art Gerichtsszene. Der Eiserne muß sich vor seinen Teamkollegen verantworten, weil er auf einen Alarm nicht reagiert hat. Er ist ja einer von den Guten (wie ich wußte), aber er verteidigt sich nicht – weil niemand erfahren darf, daß er der schwer herzkranke Tony Stark ist. Thor spricht das Urteil: Ausschluß für eine Woche. Gleichzeitig fällt auch Göttervater Odin ein Urteil, und zwar über die Zauberin und den Henker, die einen Anschlag auf Thor verübt haben (das kommt Monate später in „Thor“). Der Henker wird entwaffnet, und sie werden auf die Erde verbannt. Seltsamer Richterspruch, finde ich heute, diese üblen Typen auf die Erde abzuschieben, wo sie viel mehr Unheil anrichten können als in Asgard. Es deutet sich aber auch eine Verwicklung an: Die Zauberin möchte das Herz des Donnergotts gewinnen (was in „Thor“, glaube ich, nicht so deutlich herauskam).

Die Szene wechselt zu Captain America, der mit einer Horde Catcher als Sparringspartner deutlich unterfordert ist. Nach seinem Sieg schwört er Baron Zemo Rache, eine Figur, die ich überhaupt nicht kannte – aber für einen Jungen reicht es zu erkennen, daß er ein Böser ist. Schemen des Henkers und der Zauberin kreuzen gleich darauf bei Zemo in Südamerika auf, um ihm einen Deal vorzuschlagen: Sie helfen ihm, Cap zu besiegen, wenn er mit ihnen auf Thor losgeht. Die übrigen Rächer bleiben eigentlich Randfiguren, aber wir werden sehen, daß Lee/Kirby sie in den Plan geschickt einbeziehen.

Die Rächer trennen sich, um vorerst ihre Solokarrieren zu verfolgen. Cap wird von dem als Nazi verkleideten Henker (aber ohne Hakenkreuze) zu Zemo gelockt. Thor dagegen gerät unter den Einfluß der Zauberin, die ihn hypnotisiert, um ihm einzureden, die Rächer seien seine Feinde. Das war eine wichtige Szene für mich: Man kann Frauen also nicht immer trauen… Parallel wird jetzt geschildert, wie Cap versucht, Zemo zu schnappen, während Thor den Giganten und die Wespe angreift, die gerade in einem Hubschrauber unterwegs sind. Auch das ist eine Szene, die sich mir eingeprägt hat: Während Thor den Hubschrauber zerschmettert, wächst der Gigant blitzschnell, um sich zu retten. Mit einer Größe von 40 Metern kann er aber offenbar seine Kraft nicht richtig entfalten und kraxelt verzweifelt auf Wolkenkratzern herum, um Thors Hammerschlägen zu entgehen.

Der Eiserne sieht das Duell im Fernsehen und beendet eigenmächtig seinen Hausarrest. Er stellt sich Thor entgegen, um den Giganten zu retten. Die Zauberin versucht indes, Zemo zu helfen, indem sie Gesteinsbrocken auf den in einem Erdloch gefangenen Cap regnen läßt. Ihm hilft das jedoch herauszuklettern. Zemo will mit einem futuristischen Jet flüchten, doch Cap heftet sich mit seinem magnetisierten Schild (für deutsche Leser ebenfalls eine Neuheit) daran fest. Inzwischen gelingt es dem Eisernen, Thors Hypnose zu brechen, indem er ihn blendet. Aber jetzt naht Zemo und will die Rächer mit seinem Jet ummähen. Cap dringt ins Cockpit ein, wird aber vom Henker mit einer Art Spock-Griff außer Gefecht gesetzt. Freundlicherweise läßt der Henker den bewußtlosen Cap auf den Erdboden hinab. Thor ist weniger nett: Er hüllt den Jet mit einer Zeitspirale ein, die Zemo, die Zauberin und den Henker irgendwohin in der Zeit schleudert. Cap ahnt bereits, daß Zemo damit nicht für immer verschwunden ist und erklärt ihm wiederum den Krieg.

Man sieht, die Story weist so einige Ungereimtheiten auf. Aber sie ist doch recht raffiniert konstruiert. Es ist nicht mehr so, daß die Rächer getrennt verschiedene Gegner bekämpfen – Zemo greift nicht bloß Cap an, und Thor geht gegen das gesamte finstere Trio vor, obwohl er eigentlich nur an den beiden Asen interessiert ist. Die Kämpfe sind nicht bloß hirnlose Kloppereien, sondern die Gegner setzen sich trickreich zu (das Umdrehen eines Helden durch Hypnose war für mich 1974 noch etwas völlig Neues). Nur endet das Kräftemessen wieder beinahe unentschieden. Zemo ist so böse, daß er wohl eines Tages sterben muß; daß ihn nun die Zauberin und der Henker in die Zeitspirale begleiten, kaschiert, daß es wahrlich keine gute Idee war, sie auf die Erde zu verbannen.

Herausragend finde ich die Zeichnungen von Kirby und Inker Chic Stone (bei Williams nicht genannt). Stone arbeitet die späteren Manierismen Kirbys schon sehr deutlich heraus. Und Kirby gestaltet viele Panels sehr detailreich, obwohl sie hier noch recht klein sind. Und mir gefallen auch die Posen, die er sich einfallen läßt. Unbefriedigend ist das Maschinenlettering in Versalien. Im ersten Panel auf Seite 5 stimmt der Dialog nicht, weil Williams eine Sprechblase versetzt hat. Ähnlich ist es auf Seite 7, Panel 2. Als Übersetzer ist hier Hartmut Huff angegeben, und die Dialoge klingen alles in allem gut. Noch ein Wort zum Cover: Ich finde es gut komponiert. Auf den ersten Blick steht Thor hier gegen eine Vielzahl von Gegnern. Aber man sieht dann, daß er nur auf die übrigen Rächer losgeht, während Zemo, die Zauberin und der Henker ihn vom unteren Bildrand aus manipulieren. Sehr effektvoll.
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