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Alt 02.04.2024, 15:31   #199  
Servalan
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Festen | Das Fest | The Celebration (Dänemark 1998, Nimbus Film), Drehbuch: Mogens Rukov und Thomas Vinterberg, Regie: Thomas Vinterberg, 101 min, FSK: 12

1995 wurde der 100. Geburtstag des Medium Film gefeiert. Diesen Anlaß nutzten bei einer Konferenz im Pariser Odeon-Theater am 20. März die beiden jungen Dänen Thomas Vinterberg und Lars von Trier, um mit gewaltiger Medienresonanz schlitzohrig ihren Claim im anspruchsvollen Low Budget-Bereich abzustecken. Ähnlich wie ihre Kollegen 1962 in Oberhausen traten sie mit ihrem Manifest vom 13. März vor das Publikum, das in Zehn Geboten ein Keuschheitsgelübde (kyskhedsløfter) für die demnächst erscheinenden Filme ihres Dogme95-Kollektivs vorstellte.
In der Stummfilmära zählte Skandinavien zu den bestimmenden Größen des internationalen Markts, an den die lauten Jungautoren wieder anknüpfen wollten. Das wird im Achten Gebot deutlich, das Genrefilme wie Nordic Noir oder Komödien wie die Olsenbande verbietet. Außerdem verbaten sie sich Filter und Spezialeffekte; den aufkommenden digitalen Film lehnten sie zugunsten des Academy 35mm-Formats als einzig Zugelassenem ab.
Damit setzten sie entsprechend hohe Erwartungen. Je nach Zählweise gibt es 35 bis 100 Dogma95-Filme, von denen die Echten vor dem Vorspann mit dem numerierten Dokument beginnen. Zehn Jahre nach dem furiosen Auftakt verkündeten am 20. März 2005 die vier maßgeblichen Beteiligten des Kollektivs (Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Kristian Levring und Søren Kragh-Jacobsen) ebenfalls wieder in Paris den Abschluß der Bewegung.
Dogma95-Filme sollten keine Home Videos werden, sondern ernsthafte Kinoproduktionen realistischer Stoffe von auteurs mit bescheidenen Mitteln. Damit stehen sie in der Tradition des italienischen Neorealismus, des Neuen Deutschen Films, des britischen Kitchen Sink Cinema und des New Hollywood.
Der erste zertifizierte Dogma95-Film Festen zeigt den 60. Geburtstag des Gastronomiepatriarchen Helge Klingenfeldt-Hansen auf dem herrschaftlichen Familiensitz, für den das Schloß Skjoldenæsholm bei Ringsted genutzt wurde. Seine Uraufführung fand 1998 auf den 51. Internationalen Filmfestspielen von Cannes statt, wo er zusammen mit einem anderen Film den Spezialpreis der Jury erhielt. Der Film bekam etlich weitere Auszeichnungen, darunter den Independent Spirit Award, den Guldbagge, den Bodilprisen und den Robertprisen. 2005/2006 wurde er im Rahmen des dänischen Kulturerbes als eines von 108 Kunstwerken in den Kulturkanon aufgenommen.

Der Film beginnt mit der Ankunft der Gäste und zeigt in der ersten Sequenz, wie der Sohn Michael seinen Bruder Christian am Straßenrand aufliest und dafür seine Frau Mette samt seinen Kindern aus dem Auto schmeißt, die dann zu Fuß gehen müssen. Wie im Theater zeigt der Film die aristotelischen Einheiten von Raum, Zeit und Handlung, die mit dem Frühstück am nächsten Morgen beendet wird.
Bei der großbürgerlichen Festivität soll eigentlich Harmonie zelebriert werden, aber gerade bei einem solchen Ereignis schwelt es unter der Oberfläche, und unter der Firnis lauern atavistische Emotionen, die jederzeit durchbrechen können. Vinterberg folgt hier den Fußstapfen Strindbergs und Ingmar Bergmans, denn der Patriarch hat seine Kinder Linda und Christian sexuell mißbraucht. Linda hat vor kurzem Selbmord in der Badewanne begangen, und ihr Tod läßt Christian keine Ruhe. Als er eine Rede hält, bricht es aus ihm heraus und er bezichtigt den Patriarchen - aber die Festgesellschaft läßt sich nichts anmerken und überhört ihn.
Unterstützt wird er dabei einem alten Kindheitsfreund, dem Koch Kim, der die Kellnerinnen Pia und Michelle anweist, in den Zimmern die Autoschlüssel zu entwenden, damit niemand fliehen kann. Dann versucht es Christian erneut, womit er sich den Zorn des Rüpels Michael auf sich zieht.
Der filmt zeigt, wie sich die Generationen der Hoteliersfamilie ablösen und wie sich dabei die Machtverhältnisse verschieben. Exemplarisch bildet dieser Mirkrokosmos die dänische Gesellschaft ab, und bei der war ich erstaunt, wie zutiefst rassistisch diese ist. Christians Schwester Helene ist mit dem Afrodänen Gbatokai zusammen, über den sich zunächst Michael mokiert. An der Tafel schließlich münden Michaels Beleidigungen in ein rassistisches Lied, in das die gesamte Gesellschaft vollmundig einstimmt.

Geändert von Servalan (03.04.2024 um 09:15 Uhr)
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