Thema: Filmklassiker
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Alt 16.05.2024, 06:45   #2075  
Peter L. Opmann
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Vollgemacht habe ich die Cassette mit dem Experimentalfilm „Berlin. Die Sinfonie der Großstadt“ (1927) von Walter Ruttmann. Ich wollte den Film als Dokumentation einordnen, aber Ruttmann will mehr als dokumentieren. Er komponiert Aufnahmen aus dem Tagesablauf an einem x-beliebigen Tag in der Hauptstadt zu einer Collage – eben zu etwas Ähnlichem wie einer Sinfonie. Einiges, was da gezeigt wird, habe ich auch in „Berlin Alexanderplatz“ gesehen, aber hier gibt es nur andeutungsweise eine erzählte Geschichte, nur kleine Episoden, die das Filmteam gleichsam bei einem langen Spaziergang durch die Stadt hier und da mitbekommt. Aber im wesentlichen kommen die Berliner hier nur als Masse vor; gedreht wird ausschließlich an öffentlichen Orten. Ich habe mir öfters gewünscht, die Kamera würde mal in eine Wohnung vordringen, aber an Individuen ist Ruttmann eben nicht interessiert.

Zu Beginn fährt ein Zug aus dem Umland in die Stadt hinein; man sieht Vororte, dann Schrebergärten, dann wird es allmählich urban, und schließlich fährt der Zug in einen Bahnhof ein (ich habe mir nicht gemerkt, in welchen). Dann erst beginnt der Tag: leere Straßen, ab und zu ein einsamer Fußgänger, dann Polizisten. Der Straßenverkehr lebt auf, Trambahnen werden aus dem Depot geholt, die Bürgersteige füllen sich mit Menschen, die zur Arbeit, und Kindern, die in die Schule eilen. Und der Verkehr wird dichter und dichter. Überraschenderweise kommen noch häufig Pferdefuhrwerke in den Blick, auch wenn sie wie Fremdkörper wirken. Nicht jeder hat ein Auto, die meisten gehen zu Fuß. Was gearbeitet wird, ist so gut wie nicht zu sehen – nur ein paar Telefonistinnen ziehen hektisch ihre Strippen. Dazwischen Straßenszenen, auch mal zwei Männer in einem Streit, um die sich eine neugierige Menge schart, bis ein Polizist beide trennt und den Auflauf auflöst. Die Mittagspause wird zu einem ausgedehnten Restaurantbesuch genutzt – eine Kultur, die es heute nur noch weiter südlich in Europa gibt. Im Lokal eröffnet sich auch mal ein Blick in die Küche – und auf die vielen Kellner, die geschäftig herumlaufen. Damals war Deutschland offenbar noch keine Servicewüste (oder ist das bloß inszeniert?).

Nach dem Ende der Mittagszeit ist es nicht mehr lange bis zum Feierabend. Ein Mann schnappt freilich angesichts des Tohuwabohus über und springt in Selbstmordabsicht von einer Brücke in den Fluß. Eine Menge verfolgt das geschockt (aber niemand macht Anstalten, ihm zu helfen). Zu sehen ist unter anderem eine Zeitungsdruckerei (die Abendblätter waren zu dieser Zeit wohl wichtiger als die Morgenzeitungen). Nach der Arbeit waschen sich manche noch in ihrer Fabrik, die anderen eilen direkt nach Hause. Da es aber offenbar noch keine freien Tage gibt, beginnen bald nach der Arbeit – solange es noch hell ist – die Freizeitbeschäftigungen, hauptsächlich Sport. Und bei Dunkelheit kommt die Unterhaltungsindustrie auf Touren. Tanz, Revue, Modenschau, Sport als Spektakel (Boxkämpfe, Sechstagerennen). Es gibt einen ganz kurzen Ausschnitt aus einem Chaplin-Film, der im Kino gezeigt wird. Das einfache Volk drängt sich in dubiosen Kneipen (wie Franz Biberkopf). Ich hätte erwartet, daß man Berlin zum Schluß langsam wieder zur Ruhe kommen sieht. Aber Ruttmann verwandelt alles in einen Strudel von Bildern, die sich in ein Feuerwerk verwandeln. Optisch eine gute Lösung, aber es kommt mir doch wie ein Verlegenheitseinfall vor. Sicher wird es aber so gewesen sein, daß die Stadt auch am Morgen nicht ausgestorben ist (wie das zu Beginn gezeigt wird), sondern daß da die Letzten von der Party nach Hause kommen.

Wie gesagt: keine Dokumentation, obwohl viele Aufnahmen heute hohen dokumentarischen Wert haben (etwa das 1950 gesprengte Kurfürstenschloß). Es ist ein weitgehend abstrakter Film, die Umwandlung bewegter Bilder in ein Lebensgefühl. Ich denke, es würde auch schwerfallen, dem Film eine Aussage abzugewinnen. Keine Kritik an dem Hamsterrad, in das die arbeitende Bevölkerung gezwängt wird. Es gibt auch keine unwirtliche Stadt; dazu ist sie viel zu geschäftig, zu lebendig. Und es gibt auch so gut wie keine einzelnen Menschen zu entdecken, sondern sie sind eingebunden in die ewige hektische Bewegung. Das macht das Werk für mich ein bißchen enttäuschend. Es ist ein grandioses Pionierwerk, aber man betrachtet den Film ein wenig wie ein Tapetenmuster. Aufgenommen habe ich eine Produktion des ZDF und des Schweizer Fernsehens aus dem Jahr 1983; in Lugano wurde eine restaurierte Fassung mit Liveorchester aufgeführt. Gelegentlich wird der Film von einem Bild der Musiker mit einer Leinwand im Hintergrund unterbrochen, was aber beim Betrachten kaum stört.

Walter (mitunter auch „Walther“) Ruttmann, der 1928 auch für den ersten in Deutschland aufgeführten, ebenfalls experimentellen Tonfilm veranstwortlich war, ist in gewissem Sinn wie Phil Jutzi ein Opfer der Naziherrschaft geworden. Er schloß sich dem Team um Leni Riefenstahl an und wirkte an dem Propagandafilm „Triumph des Willens“ mit. Ansonsten realisierte er hauptsächlich Kurz- und Industriefilme und starb bereits 1941.
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