Thema: Filmklassiker
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Alt 15.05.2024, 06:28   #2074  
Peter L. Opmann
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Nun zu einem Film, der eine Welt von vor annähernd 100 Jahren zeigt. „Berlin Alexanderplatz“ (1931) von Phil Jutzi. Der zuletzt besprochene Film von Buster Keaton ist zwar ein paar Jahre älter, aber dieses Werk kann den Anspruch erheben, ein Stück Berlin um 1930 authentisch abzubilden. Ich kann den Film weder mit Döblins Roman noch mit der Fernsehserie von Faßbinder noch mit der neuen Verfilmung von 2020 vergleichen. Doch er steht meiner Ansicht nach für sich. Eine Auseinandersetzung lohnt vor allem die Figur, die Heinrich George hier erschafft.

Alfred Döblins Roman, ein Ungetüm von „expressionistisch-naturalistisch-mystische(r) Vielstimmigkeit“ (Kindlers Literatur-Lexikon), ist für das Drehbuch radikal vereinfacht worden, aber unter Mitwirkung des Autors, der von der Möglichkeit, seinen Franz Biberkopf sprechen zu lassen, fasziniert war. Die Hauptfigur wird nicht nur lebendig, sondern bewegt sich zudem in einem realen Berlin, wenn es mich auch erstaunt hat, daß die Not dieser Zeit der Wirtschaftskrise nur wenig aufscheint. Aber die Kinozuschauer dieser Zeit kannten die Verhältnisse ja zur Genüge. Die Filmhandlung: Heinrich George hat im Suff (heute würde er damit wohl für unzurechnungsfähig erklärt) seine Freundin umgebracht und saß dafür vier Jahre im Gefängnis Tegel. Grundsätzlich ist er ein ehrlicher Kerl und möchte auch ehrlich bleiben. Er wird Straßenverkäufer auf dem Alex und kommt – anscheinend – so auch über die Runden. Dabei lernt er Maria Bard („Cilly“) kennen, die ihn ins Milieu einer Einbrecherbande zieht. Bandenchef Bernhard Minetti möchte ihn gern zum Schmieresteher machen, aber George geht nicht darauf ein.

Wider Willen wird er dann doch in einen Coup hineingezogen. Weil er nicht bereit ist dichtzuhalten, stößt ihn Minetti aus dem Auto. George wird überrollt und verliert einen Arm. Hier klingt kurz die schwere Zeit an: Er beklagt nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, seine Invalidenrente werde nicht immer gezahlt. Bard hat ihn verlassen und sich einen reichen Gönner geangelt, aber George lernt nun die Hinterhofsängerin Margarete Schlegel („Mieze“) kennen, die wiederum zu ihm hält. George sucht Minetti auf; er will ihm alles verzeihen und nun auch in die Bande eintreten. Nach anfänglicher Skepsis der Gauner wird er aufgenommen und wird durch die Raubzüge recht wohlhabend. Schlegel redet ihm ins Gewissen, worüber sich das Paar beinahe ernstlich zerstreitet. Sie findet heraus, daß Minetti schlechten Einfluß auf ihn ausübt, und will die beiden auseinanderbringen. Minetti tötet sie dafür in einem entlegenen Waldstück. Die Polizei kann den Fall aufklären, und obwohl erst George unter Verdacht steht, wandert schließlich Minetti ins Kittchen. George kehrt mit Hilfe von Bard auf den soliden Weg zurück und verkauft wieder auf dem Alexanderplatz – diesmal Stehaufmännchen. Diesen Schluß sucht man im Roman vergebens, aber Döblin und die Filmcrew waren sich damals einig, daß der Film ein happy end braucht.

Es fällt auf, daß sich Regisseur Jutzi um Genreregeln überhaupt nicht schert. Die Geschichte vom Strafentlassenen (oder Entflohenen), der danach ins Unglück stürzt, wird ja im Hollywood-Kino gern genommen (mir fallen auf Anhieb Peckinpahs „Getaway“, Scorseses „Cape Fear“ und als Parodie natürlich die „Blues Brothers“ ein). Dieser oft verwendete Plot bekommt aber hier durch die Hauptfigur eine ganz eigene Note. Heinrich Georges Biberkopf ist eine verblüffende Charakterstudie, aber irgendwie auch unglaubwürdig. Er ist ein Mann, der mit dem wirklichen Leben vertraut erscheint, aber ist zugleich so naiv, daß er zunächst gar nicht bemerkt, daß er sofort im Verbrechermilieu landet. Auch sein Verhalten seinen beiden Frauen gegenüber ist widersprüchlich. Man nimmt ihnen ab, daß sie sich von ihm angezogen fühlen, nicht nur, weil er ein Kerl ist, sondern auch, weil er wie ein großes Kind erscheint, das wohl auch mütterliche Gefühle weckt. Andererseits hat er mehrmals Ausbrüche von Jähzorn – vor allem angesichts der Tatsache, daß er schon mal eine Frau umgebracht hat, sollten Cilly und Mieze von ihm lieber Abstand nehmen.

Natürlich war es 1931 undenkbar, sexuelle Bezüge ins Bild zu rücken, und die Kamera wird diskret weggedreht, wenn ein Mord geschieht. Aber daß sich alles im Milieu von Gangstern, Prostituierten und ihren Zuhältern sowie halbweltlichen Vergnügungen abspielt, wird dennoch unzweifelhaft deutlich. Ich kann nachvollziehen, daß der Film 1931 erst ab 18 freigegeben wurde. Es bleibt freilich immer bei Anspielungen, und das „Sündenbabel“ Berlin wirkt für den heutigen Zuschauer gemütlich und gutbürgerlich. Amerikanische Gangsterfilme der Zeit waren da weitaus unverblümter. Aber mir ging es so, daß ich in diesen Großstadtmoloch, der auch im Roman beschrieben wird, unwiderstehlich hineingezogen wurde.

Wenn man sich die Biografien von Schauspielern und der Filmcrew ansieht, bemerkt man auch den Einschnitt, den die Naziherrschaft für die deutsche Filmkunst bedeutete. Viele emigrierten, Regisseur Jutzi und andere machten in Deutschland weiter und brachten nichts Bedeutendes mehr hervor. Vielleicht nicht jedem bekannt ist das Schicksal von Heinrich George: Er wanderte nach Kriegsende als NS- Vorzeigekünstler in ein sowjetisches Gefangenenlager, wo er nach kurzer Zeit schwer erkrankte und 1946 starb.

Noch eine Bemerkung: Das ZDF zeigte 1991 eine nicht sehr gute Kopie des Films. Eine Rolle hat einen ziemlich dumpfen Ton, und man sieht, daß der Film mehrfach gerissen und wieder geklebt worden ist. Inzwischen wird „Berlin Alexanderplatz“ sicher in einer restaurierten Fassung verfügbar sein.
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