Thema: Filmklassiker
Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 06.03.2024, 06:17   #1922  
Peter L. Opmann
Mitglied
 
Benutzerbild von Peter L. Opmann
 
Ort: Hessen
Beiträge: 5.596
Mitunter denke ich mir, ich sollte mal eine Pause machen beim Digitalisieren meiner Videos. Aber ich bleibe doch lieber dran, denn im Augenblick warten noch eine Menge Filme darauf, verarbeitet zu werden. Und dann tun sich immer wieder Bezüge und Parallelen auf, die mir vielleicht weniger auffallen würden, wenn ich die Filme mit größeren Abständen sehen würde. Jetzt habe ich John Cassavetes ausgewählt, von dem ich zwei Filme aufgenommen habe. Ich beginne mit seinem Debüt, „Schatten“ (1958). Cassavetes hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon einen Namen als Kinoschauspieler gemacht, Als Regisseur wollte er jedoch aus dem Hollywood-System ausbrechen. Wie Ingmar Bergman interessierte er sich nicht fürs Geschichtenerzählen, sondern nur für die Gefühle und Beziehungen seiner Figuren. Häufig wird sein Erstlingsfilm mit „Außer Atem“ von Jean-Luc Godard verglichen. Und in einem Detail erinnert der Film auch an „Fahrstuhl zum Schafott“ von Louis Malle: Er hat einen bemerkenswerten Jazz-Soundtrack, diesmal nicht von Miles Davis, sondern mit Beiträgen von Charles Mingus.

Die Darsteller tragen in „Schatten“ ihre wirklichen Namen. Sie kommen aus Cassavetes‘ Bekanntenkreis oder wurden sogar von der Straße weg engagiert. Cassavetes, der eine Schauspielschule betrieb, ließ sie alle Szenen nach den Prinzipien des method acting in New York sowie in echten Wohnungen improvisieren. Der Film hat nur eine bruchstückhafte Handlung. Wir erleben eine Jugendclique, die Clubs und Partys besucht, mit Frauen anzubandeln versucht und sich Kämpfe mit anderen Jugendgruppen liefert. Erfahrung mit Romanzen haben sie offenbar noch wenig. In der Mitte des Films verdichtet sich plötzlich die Liebesgeschichte von Tony (Anthony Ray) und Lelia (Goldoni). Sie verläuft zwar sexuell unbefriedigend, aber die beiden öffnen sich einander und verlieben sich so.

Tony merkt aber erst später, als er Lelias Bruder Hugh Hurd begegnet, daß sie eine Schwarze ist. Er versucht zwar, es nicht zu zeigen, aber er hat Vorurteile und Vorbehalte gegen Schwarze. Hugh merkt das allerdings sehr wohl und verbietet ihm, seine Schwester wiederzusehen. Stattdessen bemüht er sich, sie mit einem Afroamerikaner zu verbandeln. Lelia kämpft zwar um ihre Selbständigkeit, aber aus der Liebe zu Tony wird nichts mehr. Diese Vorgänge nehmen allerdings weniger als die Hälfte des Films ein. Am Ende nimmt er die Clique wieder in den Blick, die in einer Auseinandersetzung mit Italoamerikanern (vermute ich) übel verprügelt wird. Man sieht daran, daß die Figuren nicht filmtypisch überhöht, sondern in ihrer Ziellosigkeit gezeigt werden (James Dean ist bei Nicholas Ray zwar auch ziellos, taugt aber durchaus zum Idol für das Publikum). Cassavetes‘ Film soll nichts demonstrieren, sondern – noch vor der Herausbildung einer richtigen Jugendkultur – eine Atmosphäre einfangen.

„Schatten“ wurde auf 16-Millimeter-Film aufgenommen (nachträglich auf 35 Millimeter aufgeblasen) und kostete nur 40 000 Dollar. Er dürfte nur in wenigen Filmkunstkinos gelaufen sein, wurde aber von der Kritik stark beachtet und gewann auch Filmpreise. „Schatten“ gilt heute als erster wichtiger Vertreter des Independent-Kinos. Ich finde, man kann sich seiner Wirkung nur schwer entziehen, auch wenn mir sonst die erzählte Geschichte – hier praktisch nicht vorhanden – sehr wichtig ist.
Peter L. Opmann ist offline   Mit Zitat antworten