Thema: Filmklassiker
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Alt 03.03.2024, 06:16   #1919  
Peter L. Opmann
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Dies ist, abgesehen von „Fanny und Alexander“, der letzte Bergman-Film in meiner Videosammlung: „Wilde Erdbeeren“ (1957). Er taucht noch heute in vielen Bestenlisten auf. Hier geht es weniger um Beziehungsprobleme, sondern um eine Betrachtung des Alters. Beim Wiedersehen jetzt hatte ich den Eindruck, daß manche Figuren in ihrem Verhalten nicht ganz stimmig sind. Im Ganzen ist es jedoch ein starkes Porträt eines Mannes, der wohl erstmals erkennt, daß er sein Lebensende beinahe erreicht hat und ein unbefriedigendes Resümee ziehen muß. „Wilde Erdbeeren“ gewann damals zahlreiche Filmpreise und machte Bibi Andersson und Ingrid Thulin zu internationalen Stars.

Victor Sjöström (ein berühmter Stummfilmregisseur der Generation vor Bergman) ist in dem Film ein hochangesehener Stockholmer Arzt und Wissenschaftler. In einer kleinen Rahmenhandlung fährt er mit seiner Schwiegertochter Thulin zu einer wissenschaftlichen Ehrung nach Lund. Dabei nimmt er drei junge Leute und vorübergehend ein verkrachtes Ehepaar in seinem Wagen mit. Mit Thulin, die ihren Mann verlassen hat, hat er während der Fahrt eine Aussprache. Sie wirft ihm dabei vor, gefühlskalt und selbstbezogen zu sein. Sjöström ist überrascht und der Zuschauer eigentlich auch, denn er wird ziemlich sympathisch gezeichnet.

Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen jedoch mehrere Träume und Traumvisionen Sjöströms, die ihn damit konfrontieren, daß er kurz vor dem Tod steht. In dem ersten Traum begegnet er in einem unbekannten Teil der Stadt, in dem ihm eine Uhr ohe Zeiger auffällt, einem Leichenwagen. Ein Sarg rutscht heraus, und darin liegt er selbst – die Leiche versucht, ihn in den Sarg zu ziehen. Als er auf der Fahrt nach Lund an einem ehemaligen Sommerhaus seiner Familie hält, wird er plötzlich in seine Jugend zurückversetzt, und er erlebt in einer Vision noch einmal, wie sein Bruder ihm seine Braut (Andersson) ausspannt. Bibi Andersson spielt dann auch ein Mädchen, das sich mit zwei Freunden von Sjöström mitnehmen läßt.

In einem weiteren Traum erlebt Sjöström noch einmal seine medizinische Prüfung. Zu seinem Erschrecken kann er keine der Prüfungsfragen beantworten und bekommt zu hören, die wichtigste Aufgabe eines Arztes sei, „verzeihen zu können“. Thulin erzählt ihm später, der Streit mit ihrem Mann rühre daher, daß sie von ihm schwanger ist, er aber kein Kind möchte. In Lund treffen sich die beiden aber wieder und versöhnen sich. Sjöström nimmt seine Auszeichnung entgegen, die ihm nach seinen jüngsten Erlebnissen nicht mehr viel bedeutet. Thulin sagt ihm bei ihrem Abschied, daß sie ihn sehr mag. Am Ende hat er noch einmal einen Traum, in dem er erneut zu dem Sommerhaus zurückkehrt und seine Eltern am Seeufer sitzen sieht.

Das Motiv von Streit und Versöhnung wiederholt sich im Film mehrmals. Weder konnte ich nachvollziehen, warum sich die jeweiligen Paare so in die Haare bekommen, noch wird deutlich, warum sie ihre Differenzen dann einfach beilegen können. Und Victor Sjöström ist von seinem angeblichen Egoismus nicht viel anzumerken. Vielleicht liegt es daran, daß der Film beinahe 70 Jahre alt ist und ein Verhalten, mit dem man damals aneckte, heute beinahe schon normal wirkt. Der alte Mann wirkt bemitleidenswert, weil er wohl unvermittelt erkennt, daß vieles in seinem Leben falsch gelaufen ist, es jetzt aber zu spät ist, Fehler zu korrigieren. Er bleibt immerhin in die Gemeinschaft seiner Familie und Bekannten eingebunden – man würde wohl sagen, es hätte schlimmer kommen können. Dennoch fühlt man mit ihm mit und wird zu Gedanken über Glück und Unglück und die eigene Begrenztheit (sagen wir ruhig: Sterblichkeit) angeregt. Allerdings war Bergman, als er diesen Film drehte, noch keine 40 und konnte sich die Probleme des Alters auch nur bis zu einem gewissen Grad vorstellen. „Wilde Erdbeeren“ hat sich mir jedenfalls in den etwa 30 Jahren, seit ich ihn aufgenommen habe, eingeprägt: das ist sicher ein Hinweis darauf, daß der Film etwas zu sagen hat.
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