Thema: Filmklassiker
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Alt 08.02.2024, 07:07   #1889  
Peter L. Opmann
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Dieser Film gehört unbedingt noch hierher, in die Reihe von Frühwerken der Nouvelle Vague, bevor ich mich etwas anderem zuwende: „Außer Atem“ (1960), der erste abendfüllende Film von Jean-Luc Godard. Das ist ohne Zweifel ein Kultfilm. Zugleich wurde er stilprägend für die französische neue Welle – leider ist das Neue dieses Stils mit mehr als 60 Jahren Abstand nicht mehr in seiner ursprünglichen Drastik wahrnehmbar. Die Provokation ist inzwischen abgenutzt. Trotzdem wirkt „Außer Atem“ auf mich immer noch sehr modern. Und obwohl er seine Geschichte absichtlich „falsch“ erzählt, nimmt sie den Zuschauer immer noch gefangen.

Äußerlich werden ein paar Tage im Leben eines kleinen Ganoven (Jean-Paul Belmondo) geschildert – die letzten Tage seines Lebens, ehe er von der Polizei erschossen wird. Er ist offenbar eben nach Paris zurückgekehrt und will eine Prämie kassieren – wofür, wird nicht ganz klar. Er erhält aber nur einen Verrechnungsscheck, mit dem er nichts anfangen kann. Einen anderen Kriminellen, von dem er sich einen größeren Bargeldbetrag erhofft, kann er nirgendwo auftreiben. Belmondo trifft ein paar Mädchen, die er in Paris kennt. Unter ihnen interessiert er sich am meisten für die amerikanische Studentin Jean Seberg, die nebenbei als Zeitungsverkäuferin auf den Champs Elysees jobbt. Mit ihr will er, sobald er sein Geld hat, nach Rom fahren, aber sie ist nicht sicher, ob sie sich auf ihn einlassen will. Trotzdem verbringen sie die meiste Zeit zusammen, müssen sich dabei aber immer vor der Polizei in Acht nehmen, die bereits nach Belmondo fahndet. Als sie wegen ihrer Bekanntschaft mit ihm von Polizisten befragt wird und fürchten muß, daß sie aus Frankreich ausgewiesen wird, verrät sie ihn. Er ist lebensüberdrüssig geworden und flieht nicht mehr, obwohl er eher durch einen dummen Zufall ums Leben kommt, als er sich nach einer weggeworfenen Pistole bückt.

Die Handlung interessiert Godard nur wenig, obwohl er zu dieser Zeit ein großer Fan amerikanischer Gangsterfilme war. Suspense und Action beschränkt er auf kurze Szenen; mitunter findet das Wichtige sogar im Off statt. Stattdessen konzentriert er sich auf das Zusammensein von Belmondo und Seberg. Er will sie haben; sie hält ihn zwar auf Abstand, schickt ihn aber nicht weg. Eine große Liebesgeschichte ist das allerdings nicht; beide haben diffuse Wünsche und Träume, fühlen sich zugleich voneinander angezogen und wissen nichts Rechtes mit sich und miteinander anzufangen. Ein Zeichen für die Ungeduld der Jugend, aber auch von Unreife. Man kann nachvollziehen, daß Belmondo zum Idol von Millionen von Kinobesuchern wurde. Er versteckt seine Unsicherheit hinter Humphrey-Bogart-Posen, die er direkt vor einem Filmplakat einübt. Obwohl er eigentlich nicht zur Identifikation einlädt, wurde Belmondo mit dieser Rolle zum europäischen Superstar. Die Figur von Jean Seberg ist seltsam gezeichnet: Sie ist sehr selbständig, was um 1960 wohl ungewöhnlich war. Ein wenig erinnert sie an Audrey Hepburn, aber sie ist nicht durchgängig sympathisch, sondern wirkt mitunter auch selbstbezogen und kalt. Immerhin gibt ihr das etwas Geheimnisvolles. Am Ende will sie Belmondo loswerden und liefert ihn ans Messer.

Auf jeden Fall formt Godard das amerikanische Gangsterfilmgenre in diesem Film künstlerisch um. Es gibt Parallelen zu „Fahrstuhl zum Schafott“, aber „Außer Atem“ weist zusätzlich Verfremdungseffekte auf. Bei den Dreharbeiten wurde viel auf den Straßen von Paris improvisiert, wie das später die Regisseure des Neuen Deutschen Films auch gemacht haben. Der Schnitt beeinträchtigt teilweise vermeintlich entscheidende Szenen – das hatte offenbar auch einen banalen Grund: Godard hatte sich für eine Länge von 90 Minuten verpflichtet, aber eine weitaus längere Rohfassung hergestellt. Auf dem Weg der Verfremdung ging Godard allerdings konsequent weiter, bis sich seine Filme nicht mehr zum Kult eigneten und dem Zuschauer viel abverlangten. Doch in „Außer Atem“ kann der noch ein Lebensgefühl finden, eines, das es bis dahin im Kino nicht gab.
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