Thema: Filmklassiker
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Alt 10.12.2023, 06:10   #1748  
Peter L. Opmann
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„The Apartment“ (1960)
Schlöndorff: Zu einer Fortsetzung von „Some like it hot“ ist es nicht gekommen. Aber Billy Wilders Begeisterung für Jack Lemmon war so groß, daß er nach anderen Stoffen für ihn gesucht hat und sich an eine Geschichte erinnert hat, die er in der Schublade hatte über einen Angestellten, der seinem Chef das Apartment vermieten muß am Abend, stundenweise, damit der dort seine Geliebte treffen kann, denn er ist verheiratet. Und in der Zwischenzeit muß der arme Angestellte im Central Park in der Kälte sitzen und holt sich dort einen Schnupfen.

Wilder: Ich hatte mir immer ein Großraumbüro mit 5000 Schreibtischen vorgestellt. Das filmte ich dann im „Apartment“. Aber 5000 Schreibtische an den Drehort zu bringen, war schwierig. Zum Glück hatte ich Herrn Trauner, diesen kleinen Zauberer. Er stellte 40 Schreibtische hin, dann 60 Schreibtische mit kleineren Menschen dran, dann noch kleinere mit Zwergen und ganz hinten kleine Pappfiguren. Es sah toll aus. So ein Büro gab’s nirgends.

Schlöndorff: War Jack Lemmon ein bißchen deine große Liebe? Du hast diesen Menschen gefunden und ihm immer wieder Rollen gegeben. Ist er eine Art zweites Ich für dich?

Wilder: Nein. Du könntest mich über ihn in jedem Film fragen – es ist immer dasselbe: Er ist der komplette Profi. Es gibt keinen, der seinen Beruf ernster nimmt als er.

Schlöndorff: Die Chemie zwischen Shirley MacLaine und Jack Lemmon funktioniert sehr gut. Wilder: Auch andere hätten gut zusammengepaßt.

Schlöndorff: Du hast sie in „Irma la Douce“ wieder zusammengebracht. Beide sind ein bißchen sprunghaft, verloren, erfolglos. Wilder: Es ist schwer, Lemmon eine starke Frau gegenüberzustellen.

Schlöndorff: Billy Wilder hat tatsächlich daran gedacht, Marilyn Monroe für die Rolle im „Apartment“ zu besetzen. Und nur die Schwierigkeiten bei der Arbeit zu „Some like it hot“ haben ihn davon abgehalten.

Wilder: MacLaine hat die Audrey, meine Frau, gefragt: Sagen Sie, glaubt wirklich jemand, daß das ein guter Film werden wird? – Naja, er bemüht sich, es so gut wie möglich zu machen, aber man weiß nie…

Karasek: Sie war sehr mißtrauisch. Aber darf ich zwischendurch was fragen: Du warst doch sozusagen auf dem Höhepunkt deines Erfolgs. Es war unmittelbar nach „Some like it hot“… Wilder: Der Höhepunkt meines Erfolgs ist immer der nächste Film!

Karasek: Aber du hattest doch einen tollen Ruf nach „Some like it hot“. Wilder: Naja, einen guten Ruf. Karasek: Aber sie war trotzdem mißtrauisch bei der Geschichte. Wilder: Es ist ja sehr leicht, über einen Film zu sagen: Der ist gut – oder schlecht. Es ist sehr schwer, wenn man ein Script liest. Man muß sich der Sache verschreiben. Eine sichere Antwort bekam sie erst ganz am Ende des Films.

Schlöndorff: Das war ja auch ihre Figur. Die war irgendwie verloren.

Wilder: Aber man muß sehr sicher sein, um ein unsicheres Mädchen zu spielen. Jemand, der dumm ist, kann nicht unbedingt gut einen Dummen spielen. Man muß auch sehr nüchtern sein, um einen Besoffenen zu spielen. Da gab es diese Szene in der Bar, wo sie mit Fred MacMurray redet. Das mußte ich richtig dirigieren, Satz für Satz. Ich hatte das nie vorher gemacht, aber wir hatten so viele Takes. Und ich glaube, es wurde dann auch ganz gut.

Schlöndorff: Sie muß enormes Vertrauen zu dir gehabt haben.

Wilder: Vielleicht. Ich kam immer gut mit ihr zurecht. Sie hat ihre kleinen Vergnügungen, die mich etwas verblüffen. Sie ist eine große Begabung. Nicht zu sehr beschäftigt mit dem, was sie gerade tut. Das finde ich sehr gut. Sie würde niemals sagen: Um halb acht muß ich ins Bett. Denn ich will gut aussehen für die große Szene morgen.
Lemmon weiß nicht, wem der Spiegel gehört, den er auf seiner Couch gefunden hat, und gibt ihn Fred MacMurray. Und dann gibt Shirley MacLaine ihm den Spiegel, als er einen Hut anprobiert. Das ist wirklich gelungen, wenn ich das selbst sagen darf. Er begreift plötzlich, daß sich sein Chef mit ihr trifft. Und wir können das in dem Objekt, dem zerbrochenen Spiegel, filmen. Aber sie weiß nicht, daß er den Spiegel gefunden hat.
Ich bin gegen Kamera-Mätzchen, diese kleinen Kunststücke. Aber eine elegante Großaufnahme kann manchmal etwas aussagen. Und das ist ein Beispiel für eine sehr durchdachte Einstellung: Wie sie die Pillen in Lemmons Arzneischrank findet. Wir benutzten dafür den Rasierspiegel. Sie findet die Pillen und nimmt sie. Man kann nicht sehen, was dabei in ihr vorgeht. Das ist auch so ein Filmgesetz: Es gilt für das Filmen von besonders starken Gefühlen. So etwas filmt man am besten von hinten. Die Kamera filmt dann also nur den Rücken des Schauspielers. Niemand kann das darstellen, was das Publikum sich vorstellt. Man kann Gefühle nicht so gut darstellen. Außerdem ist es ein bißchen peinlich, eine solche Szene zu beobachten.
Jemand erzählt etwas Schreckliches. Da kann man nicht sitzenbleiben. Da muß man einfach aufstehen und hin- und herlaufen. Da schaut man nicht auf das Gesicht des Redenden. Benutze das Messer, aber bohre damit nicht in der Wunde herum. Das gehört zu den schwierigsten Dingen beim Filmemachen: dem Zuschauer zu vermitteln, wann jemand eine Idee hat. Man versucht dies und jenes, aber nichts ist gut. Besser, wenn man beim Auftritt sagt: Ich hatte eine Idee – aber hinter den Kulissen, nicht auf der Bühne. Es ist schwer zu spielen und noch schwerer zu glauben.

Schlöndorff: Da gibt es noch einen wunderbaren Schnitt im „Apartment“. Sie entscheidet sich, zu wem sie gehen will. Da hast du plötzlich geschnitten. Und sie rennt durch die Straßen.

Wilder: Der Schnitt war so: Sie muß sich entscheiden, den Chef zu verlassen. Sie liebte ihn. Sie wollte, daß er sich scheiden läßt und sie heiratet. Aber jetzt wurde er von seiner Frau verlassen. Die Szene spielt bei der Silvesterfeier. Der Chef redet mit ihr, und sie überlegt sich immer: Soll sie bei ihm bleiben oder zu Lemmon zurückkehren? Lemmon packt inzwischen, wie wir vorher gesehen haben. Sie schwankt zwischen beiden. Um Mitternacht geht das Licht aus wie bei jeder Silvesterfeier, und man hört alle singen. Dann Schnitt auf den Chef mit dem Sektglas in der Hand. Als das Licht wieder angeht, sagt er: Auf dein Wohl! Und er guckt, und der Stuhl ist leer. Und dann schneiden wir auf sie, wie sie durch die Straßen läuft. Und es gibt noch eine kleine Wendung. Als sie die Treppe hinaufläuft, hört man einen Pistolenschuß. Sie hämmert an Lemmons Apartmenttür, und er öffnet mit einer Sektflasche, deren Korken eben abgesprengt ist.

Schlöndorff: Immer noch eine der ergreifendsten Szenen in Billys Filmen, dieses Ende vom „Apartment“. Übrigens haben auch hier der Held und die Heldin wieder die moralische Wahl im dritten Akt, ob sie der Karriere folgen, viel Geld machen und erfolgreich sind und sich dabei verlieren oder ob sie anständig bleiben, den Job verlieren, was in Amerika immerhin ein hoher Preis ist, und dafür die Hoffnung haben, vielleicht das Glück zu finden, etwas Glück. Und den Zuschauer mit etwas Hoffnung zu entlassen, ist glaube ich für Billy Wilder ganz wichtig in seinen Filmen.

(Billy Wilder und I. A. L. Diamond gewannen für das Drehbuch den Oscar. Anm.)

„Das Mädchen Irma la Douce“ (1963)
Schlöndorff: Er hat dann mit Shirley MacLaine noch einen anderen Film gedreht, fast ein Musical, wieder eine Ausnahme in seinem Werk, nämlich „Irma la Douce“, der ihn nach Paris zurückbringt und zwar direkt in die Rue Saint Denis ins Bordello.

Wilder: Das Realgymnasium – ich erinnere mich genau – hieß Juranek. Das war eine Schule für die Fremdenlegion. Auch der Zinneman ging ein paar Jahre da hin. Wenn du ein Problemschüler warst, gingst du zu Juranek. Das war in der Buchfeldgasse in der Josefstadt. Acht Jahre lang saß ich am Fenster, und gegenüber der Schule war ein Stundenhotel. Es hieß „Hotel Stadion“, es war in der Nähe der Stadiongasse. Acht Jahre lang habe ich mir angeschaut, wie da um neun Uhr, um halb elf die Paare hineingingen und herauskamen. Ich habe mir kleine Notizen gemacht: „Der Mann war nicht eine Stunde, sondern zweieinhalb Stunden oben.“ Ich habe mir versprochen: Wenn ich mal mit diesem Gymnasium fertig bin und in die Universität gehe – was ich dann nicht getan habe -, dann nehme ich irgendein Mädchen, und in dieses Hotel gehe ich! Als ich zehn, elf, zwölf war, habe ich noch nicht richtig verstanden. Ich dachte, das sind Ehepaare aus der Provinz, aber die haben keine Koffer gehabt. Aber ich habe mich immer gefragt. Was machen die da oben? Und dann hat man mir das erklärt.
Ein Film, der mit Huren beginnt, kann doch nicht ganz schlecht sein. Irgendwas muß schon dran sein.

Schlöndorff: Das mag stimmen, aber es war doch ein Haken an „Irma la Douce“. Es war nämlich ein Musical, das in Paris in einem ganz kleinen Theater bescheiden aufgeführt worden ist mit nur ein paar Tänzern und Sängern auf der Bühne. Und das nach draußen gebracht in die Rue Saint Denis war ein riesiger Aufwand und wurde zur riesigen Tanz- und Operettennummer. Und darin verlor die Geschichte sich. Und Billy Wilder hat das mit Entsetzen eigentlich erst im letzten Moment entdeckt, sagt er.

Wilder: Ich kann nicht zu Leuten gehen und sagen: ich hab’s mir anders überlegt. Ich dachte, es würde gut werden, und es ist auch nicht so schlecht geworden. Aber mir haben die Lieder nicht gefallen. Ich sagte: ich kann kein Musical daraus machen. Ich kann nur zwei oder drei Einlagen machen, wenn Shirley MacLaine auf dem Billardtisch tanzt.
Den Film wollte ich gern machen, weil ich angefangen hatte, eine Rolle zu schreiben für den Laughton. Und er hatte Krebs. Er sagte mir: Paß auf, ich habe mit dem Arzt gesprochen – was überhaupt nicht stimmte. Im September, Oktober bin ich wieder gesund, und im November kann ich zu drehen anfangen. Komm morgen vorbei, und wir sprechen miteinander. Sieh dir mal an, in welcher Verfassung ich bin. Also ging ich am nächsten Tag hin. Er saß in einem Stuhl am Swimming Pool mit einem Krankenpfleger. Er war befreundet mit einem Maskenbildner. Sie haben ihn angezogen, der Maskenbildner hat ein bißchen Rouge aufgelegt, damit er gesund aussieht. Und dann hat er noch genug Kraft gehabt, um einmal um den Pool herumzugehen und mir zu zeigen, daß es ihm besser geht. Es war die Vorstellung eines Mannes, der nicht nur mich, sondern auch sich selbst täuschen wollte. Ich sagte: Das geht nicht mit dem Laughton. Aber er war doch mein größter Anker!
Der Film war mein größter Erfolg in Deutschland. Und da wurde ich stutzig. Da wußte ich: Er ist nicht so gut. Es war eine Klamotte – das haben die doch so gerne. Leute kamen auf mich zu und sagten: Es hat mir sehr gefallen, aber es war doch nicht sehr französisch. Ich kenne doch Frankreich. Da sagte ich: Über welchen Film sprechen Sie? „Irma la Douce“. Das war nicht echt – sie kennen Frankreich sehr gut.

„Eins zwei drei“ (1961)
Schlöndorff: Witze über Deutsche mag er ja sowieso; sein Film „Eins zwei drei“ ist voll davon. Ein Film, der anfing und geschrieben wurde, bevor es die Mauer gab, und deshalb auch, als er herauskam, eine völlige Pleite war, denn niemandem war zum Lachen zumute über die Mauer. Erst Jahre später ist der Film dann zum Klassiker geworden, und so aktuell der Film in allem ist, vergißt man, daß er auf einem Theaterstück von Molnar basiert über einen Schweizer Bänker, dessen Tochter verheiratet werden soll. Also eine unmögliche Geschichte, die Billy Wilder umgeschrieben hat, und zwar über einen amerikanischen Coca Cola-Vertreter, der nun unbedingt das köstliche Getränk in den Ostblock bringen will.

Wilder: Der Film kam in Deutschland heraus, und er war kein Erfolg. Einige Leute wollten vielleicht ins Kino gehen, um ihn zu sehen. Aber am selben Tag lasen sie in der Zeitung schreckliche Nachrichten: Eine sechsköpfige Familie starb durch Stromstöße am Stacheldraht. Ein Mann wurde beim Fluchtversuch über die Mauer erschossen. Ein anderer wurde beim Durchschwimmen des Landwehrkanals erschossen. Die politische Lage war nicht gerade gut für den Film. Aber jetzt ist die Scheiße vorbei, und es ist ein Kultfilm geworden.

Schlöndorff: Mit dem Bau der Mauer war natürlich an Dreharbeiten in Berlin nicht mehr zu denken, schon gar nicht mehr am Brandenburger Tor. Und Billy Wilder hat einen Moment daran gedacht, den Film ganz abzubrechen. Angesichts des Kalten Krieges war diese Komödie vielleicht nicht das Richtige. Andererseits war schon so viel Geld ausgegeben, daß das Studio da nicht mitgemacht hat, und man beschloß, nach München zu fahren und dort von Alexandre Trauner perspektivisch verkleinert das Brandenburger Tor nachbauen zu lassen. Das hat ja dann auch noch jahrelang auf dem Gelände gestanden, und vom „Schlangenei“ bei Bergman bis zu „Berlin Alexanderplatz“ ist es immer wieder benutzt worden.

Wilder: Wenn du das Brandenburger Tor hast, brauchst du nicht mehr Ost-Berlin, denn Ost-Berlin sieht aus wie West-Berlin (das fand ich allerdings bei meinen Berlin-Besuchen vor 1989 nicht. Anm.) Da konnte man alles drehen, was man wollte.

Erinnerst du dich an den Cagney, wenn er einen Gangster gespielt hat? Oder „Yankee Doodle Dandy“? Er war wie ein Gockel: klein, aber aggressiv. Er erinnerte immer an ein Maschinengewehr. Er hatte das richtige Alter. Ein guter Schauspieler! Er hatte andere politische Ansichten als ich. Er war ein typischer Pionier-Amerikaner – ziemlich weit rechts. Ich komme ganz gut zurecht mit solchen Leuten. Sogar mit General James Stewart. Wir haben miteinander diskutiert. Ich kenne viele Leute, die politisch wie ich denken, die aber stinklangweilig sind. Ich will sie nicht sehen. Manch einer denkt, daß diese Welt ungerecht sei – was sie auch ist. Aber das heißt nicht gleich, daß ich etwas abgebe. Cagney war jedenfalls die richtige Besetzung. Die Liebesaffäre mit Liselotte Pulver war in seinem Alter noch glaubhaft. Man glaubte ihm auch seinen Ehrgeiz, und daß er über Leichen gehen würde. Man glaubte, daß er alles tun würde, um sein Ziel zu erreichen. Und sein Ziel war, die Nummer Eins von Coca Cola Europe zu werden. Ich habe während des Krieges mit eigenen Augen gesehen, wie die Armee einzog. Aber vor den Waffen und Panzern kamen die Lastwagen mit Coca Cola. Das ist eine sehr aggressive Firma.

Ich mußte noch eineinhalb Tage mit dem Buchholz drehen. Er hatte einen Tag frei und hat sich betrunken im „Vier Jahreszeiten“. Er fuhr gegen einen Baum, ist fast gestorben, hatte eine Operation im Spital. Acht Wochen war er zwischen Leben und Tod. Wir hatten noch diese Szene in Tempelhof, die wir drehen mußten – Tempelhof, aufgebaut im Goldwyn-Studio. Es gibt immer Todesfälle in meinen Filmen. Er ist mit einem weißen Cadillac in einen Baum – Wodka. Es hat zwei Monate gedauert, bis man Tempelhof wieder aufbauen konnte.

Karasek: Was machst du, wenn Schauspieler insistieren, daß sie wissen wollen, wie der Vater der Figur war oder so?

Wilder: Wenn ich Schauspieler engagiere oder mit Schauspielern arbeite, sage ich: Paß mal auf, das sind nicht die Zehn Gebote, eher zehn Vorschläge. Wenn du einen besseren Vorschlag hast, komm damit bitte zu mir. Aber sag‘ nicht am Set: Diese Figur kann ich nicht spielen. Komm zwei Tage vorher, damit wir das vorbereiten können. Die Zeit ist zu teuer, wenn wir schon auf der Bühne sind. Es ist sehr selten, daß jemand kommt mit einer Verbesserung, also daß er im Moment etwas Besseres weiß. Iz und ich haben neun Monate an dem Drehbuch geschrieben. Da können wir es nicht machen wie der Cassavetes, also improvisieren. Damit Improvisieren gut wird, muß man es sehr lange probieren.

Schlöndorff: Und betrifft das nur den Dialog, oder hast du auch die Handlungen und Gesten ziemlich weitgehend im Kopf?

Wilder: Der große Unterschied zwischen dem Inszenierungsstil von dem Fritz Lang und mir ist: Man fängt um neun Uhr an zu drehen; um acht oder halb acht kommen die Elektriker, Kameraleute, Requisiteure und die Schauspieler wegen der Maske. Er kam um fünf Uhr früh mit dem Script und mit Kreide. Überall, wo die Füße stehen, machte er einen Strich. Er hatte weiße und rote und grüne Kreide. Es wurde alles mechanisch vorbereitet. Und so hat es auch ausgesehen. Die Brigitte Helm ging da ganz steif durchs Bild. Und er sagte: Nein, das ist doch die weiße Kreide! Hier ist die rote, da die grüne! Der Fritz Lang hat alles genau geplant. Ich mache es ganz anders. Ich habe eine Szene, sieben Seiten, und gehe aufs Set, und wir lesen das und lesen es noch einmal. Und dann beginnen wir ganz langsam zu spielen, so, wie die Leute sich bequem fühlen, was aber auch möglich ist für die Kamera, damit ich nicht zu viel schneiden muß. Und dann, wenn die Leute meinen, das ist das Bequemste und Glatteste, kommt der Kameramann herein. Ich sage: Wir machen das, das und das, und dann kommt der Beleuchter. Und wenn die Leute mitgehen, drehen wir das.

Schlöndorff: Billy Wilder weiß auch am Set sehr gut kleine Regeln, wie er mit dem Team umgeht, wie er einen Tag aufhört und wie er den nächsten Tag wieder anfängt. Denn das bestimmt die Atmosphäre, die nachher den Film ausmacht.

Wilder: Wenn es so dreiviertel sechs wurde, dann hatte ich noch eine große Einstellung, die die Szene zuendebringt. Ich sagte: Das drehen wir morgen früh. Da wußten wir genau, was wir wollten. Da haben wir um neun Uhr angefangen mit einer Sache, die wir gerne gedreht haben. Auch beim Schreiben war es so: Blablabla – laß uns nach Hause gehen, damit wir morgen früh frisch anfangen können. Wir haben bereits eine Vorgabe und wissen, wie wir weitermachen. Das habe ich gern beim Drehen und auch beim Schreiben. Als der Doane Harrison noch gelebt hat, da nahm ich das Drehbuch und sagte zu ihm: Bitte hier, hier und hier schneiden. Und er sagte: Gib mir dafür doch auch eine Over-the-Shoulder-Einstellung, weil es dann etwas schneller geht. Oder: Dieser Schwenk ist nicht gut. Oder: Der Mann kommt aus der falschen Tür in der falschen Richtung. Das war also alles vorher erledigt. Am Ende der Woche konnten wir uns eine Sequenz ansehen, so daß wir immer auf dem Laufenden waren. Bevor eine Kulisse abgebaut wurde, hatten wir immer noch eine Chance. Und die Leute wissen ganz genau: Ich habe jetzt 26 Seiten in drei Tagen gedreht. Das ist sehr schnell. Aber ich habe ihnen gesagt. Es ist möglich, daß ich noch zurückgehe und zusätzliche Einstellungen drehe. Manche Regisseure drehen nur mit der Versicherungsgesellschaft, sie drehen dieselbe Szene acht Mal von verschiedenen Seiten.

Schlöndorff: Das heißt, du willst auch dem Schauspieler ersparen, daß er sich erschöpft und gar keinen Spaß mehr daran hat. Er muß den Eindruck haben: Diesmal kommt’s darauf an, und er muß sein Bestes geben.

Wilder: Ich vermeide immer zu Beginn einen long shot. Das sind Mätzchen der ungeübten Regisseure. Die fangen mit dem long shot an, und zum Schluß statt einer Abblende kommt der Mann mit einem schwarzen Anzug vor die Linse.

Schlöndorff: Aber du machst auch keine establishing shots, Totalen, sondern erst einen Teil der Szene, und allmählich entdeckt man: Ach, wir sind vor dem Haus.

Wilder: Richtig. Jede Einstellung hat einen Zweck und ein bißchen Stil. Aber die Produzenten wollen sehr sicher sein: Ich bin gedeckt. Ich habe die Szene von jeder Seite. Ich kann wegschneiden. Manchmal weiß ich: Das ist eine gefährliche Szene, wo ich mir einen Notausgang oder Noteingang offenhalte.

Schlöndorff: Aber die Produzenten haben gern ganz viel Material, denn dann können sie den Film auch ganz anders schneiden, als du wolltest.

Wilder: Das Schreckliche ist: wenn du den Film fertiggedreht hast und nach zwei Wochen zurückkommst, und der Cutter sagt dir: Also der und der waren in der Probevorführung und haben ein bißchen umgeschnitten. Und plötzlich ist der Film idiotisch. Manchmal kommt das vor. Je mehr Zelluloid es gibt, desto schrecklicher ist es, wenn es in ihre Hände fällt.

Schlöndorff: Ein guter Trick, um sich vor Produzenten zu schützen, die nachträglich den Film verändern wollen: Man dreht eben so knapp, wie es auch John Huston gemacht hat, daß es alles auf Schnitt ist und niemand es mehr ändern kann. Dazu muß man natürlich sein Handwerk verstehen.

Wilder: Der traurigste Moment im Leben eines Regisseurs ist, wenn er den ersten Schnitt sieht. Da will man immer Selbstmord begehen. Weil eine Szene fehlt, eine Überblendung fehlt, die Musik ist natürlich noch nicht da. Und du siehst dir das an und sagst dir: Ein Jahr habe ich verbracht, um dieses Scheißding zu drehen! Dann macht man’s ein bißchen besser, und es kommt ein bißchen Musik, und die technischen Sachen, die Überblendungen – dann habe ich den Film wieder lieber. Ein bißchen Rhythmus kommt rein. Manches sieht großartig aus, wenn du es drehst, und dann ist nichts auf der Leinwand. Und manchmal dreht man eine Szene mit jemand und sagt: Der ist ungeschickt, nicht elegant, und das ist zu leise! Und es sieht hinterher großartig aus.

Wenn man so alt wird, wie ich bin, wenn du in deiner Profession fünf oder sechs oder sieben Filme gemacht hast, die sehr viele Menschen nie vergessen werden und über die sie manchmal sprechen – das ist schon gut genug.

Schlöndorff: Zwei Wochen Gespräche mit Billy Wilder sind um, und so vieles ist noch unerwähnt geblieben. Zum Beispiel Billy Wilder, der Kunstsammler. Er hatte eine riesige Expressionisten-Sammlung bei sich zuhause, wenn sie nicht gerade als Leihgabe in Museen ist. Billy Wilder, der sich an Restaurants in Los Angeles beteiligt, zum Beispiel dem „Bistro“, das nichts anderes ist als die Dekoration aus „Irma la Douce“, die er mit Alexandre Trauner vom Studio Set an den Rodeo Drive verpflanzt hat. Es gibt Billy Wilder, den Drehbuchautor, der Bücher für andere Regisseure geschrieben hat. Und es gibt die vielen Drehbücher, die er für sich selbst geschrieben hat und die drehfertig in der Schublade liegen. Wir haben nicht mal über alle Filme gesprochen, zum Beispiel nicht über „Sherlock Holmes“, nicht über „Buddy Buddy“ und „Fortune Cookie“, beide mit seinen Lieblingen Matthau und Jack Lemmon. Wir haben nicht gesprochen über „Fedora“, das Pendant zu „Sunset Boulevard“, in dem ursprünglich Marlene Dietrich mitspielen sollte und das sein letzter Film mit seinem Freund William Holden ist. Wir haben nicht über so typische Wilder-Filme gesprochen wie „Avanti“ oder die Journalistensatire „Front Page“. Ich meine, eines haben sie alle gemeinsam: Stil und Witz. Und eines zeichnet sie alle aus: daß Billy Wilder der Unterhaltung niemals etwas opfert, nämlich die Wahrheit. Die Wahrheit über uns Menschen und wie wir miteinander umgehen.
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