Thema: Filmklassiker
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Alt 24.11.2023, 06:14   #1707  
Peter L. Opmann
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Diesmal ein Film, dessen Titel nach mehr als 80 Jahren noch Assoziationen weckt, dessen Macher aber weitgehend in Vergessenheit geraten sein dürfte: „Menschen, Tiere, Sensationen“ (1938) von Harry Piel. Piel war wohl der erste abenteuerliche Held im deutschen Kino. Alle Stunts und sonstwie gefährlichen Szenen führte er selbst aus und erinnert mich damit an Buster Keaton, mit dem er auch etwa im selben Alter war. Was sie unterscheidet: Piel fehlt die Vaudeville-Erfahrung, die Keaton von Kindheit an genossen hatte. Er sollte, typisch deutsch, eine solide Karriere in Handel oder Hotellerie machen, aber seine Abenteuerlust brachte ihn schon 1912 zum Film, wo er sich im Grundsatz alles selbst beibrachte. Seine Stummfilme sind im Zweiten Weltkrieg großenteils verlorengegangen. Piel schrieb und inszenierte seine Filme in der Regel selbst und spielte stets die Hauptrolle. 1933 wurde er sofort NSdAP-Mitglied und sogar passives SS-Mitglied, bekam aber dennoch zunehmend Schwierigkeiten, Filme realisieren zu können. Nach Kriegsende hatte er zunächst Berufsverbot und konnte dann, auch aus Altersgründen, an seine alten Erfolge nicht mehr anknüpfen. Insgesamt drehte er rund 150 Filme.

„Menschen, Tiere, Sensationen“ – auch der Name einer langjährigen Zirkusshow in Berlin – ist eine Art Resümee vieler Filme, in denen Piel mit Raubtieren arbeitete. Hier ist es eine Gruppe von Tigern. Auch wenn es sich um alte und gut gefütterte Tiere handelte, war das sicher nicht völlig ungefährlich. Piel arbeitete nur selten mit Tricks und hielt sich in zahlreichen Szenen tatsächlich in unmittelbarer Nähe der Tiger auf. Der Film setzt sich aus drei Bestandteilen zusammen: Zirkusnummern, niedliche oder aufregende Tieraufnahmen und eine rudimentäre Eifersuchtsgeschichte als (notdürftige) Handlung. Piel spielt den Zirkusmanager, für den die Versorgung der und die Arbeit mit seinen Tieren das Wichtigste im Leben ist. Von seiner Frau, einer Trapezartistin (Ruth Eweler), mußte er sich deshalb scheiden lassen, liebt sie aber immer noch und plant, sie noch einmal zu heiraten. Zwischendurch hat er sich jedoch offenbar mit einer anderen (Elisabeth Wendt) eingelassen, die ihn nun nicht mehr aufgeben will. Am Ende schießt sie ihre Rivalin vom Trapez. Nach kurzer Trauer reist Piel mit seinem Zirkus, der ihm immerhin geblieben ist, weiter.

Der Film ist etwa 100 Minuten lang, die Story hätte sich aber leicht in einer Viertelstunde erzählen lassen. Trotzdem war das Werk für das zeitgenössische Publikum nicht langweilig, denn Tieraufnahmen wie bei Piel bekam es damals noch kaum zu sehen. Auch der Zirkus muss zu dieser Zeit noch eine viel stärkere Faszination ausgeübt haben als heute. Zu Weihnachten oder Silvester werden allerdings noch immer ausgedehnte Zirkusshows im Fernsehen gezeigt. Piel war ein überzeugter Realist. Er ließ sich in seinem tatsächlichen Umgang mit Tigern, Elefanten oder Schimpansen filmen und suchte sich davon hinterher das Beste heraus. Solche Szenen dauern nicht selten mehrere Minuten – wofür ein heutiger Zuschauer nicht mehr genug Geduld aufbringt. Ein Höhepunkt des Films ist der Ausbruch der Tiger aus ihrem Gehege während einer Vorstellung sowie der Einsatz Piels, sie wieder in ihre Käfige zu treiben. Das Publikum im Zelt durfte von der Gefahr nichts bemerken. Ein Tiger verirrt sich dennoch in die Manege, wird aber vom furchtlosen Helden beruhigt und nach draußen dirigiert.

Piel stand auf der „Gottbegnadeten“-Liste des Regimes und verdiente sich für seine Arbeiten mehrfach das Prädikat „volksbildend“. Trotzdem mochten Hitler und vor allem Goebbels seine Filme nicht, denn sie brauchten, je mehr sie auf den Krieg zusteuerten, Unterhaltung, die das Volk beruhigte, und nicht zusätzlichen Nervenkitzel wie bei Piel. Außerdem fiel seine Produktionsfirma einfach der Gleichschaltung zum Opfer. Zunächst konnte er bei der Tobis noch relativ frei arbeiten, später bestimmte nur noch die Reichsfilmkammer, was ins Kino kam und was nicht. Ähnliche Erfahrungen mußte auch Buster Keaton machen, wenngleich aus rein kommerziellen Gründen. Piel war in den 1920er und 30er Jahren praktisch jedem Deutschen ein Begriff. Seine Filme brachte er immer wieder von neuem oder leicht umgeschnitten ins Kino, denn das Publikum konnte sich an ihm nicht sattsehen. Nach dem Krieg war seine Art der Kinospannung nicht mehr zeitgemäß, denn die Menschen hatten inzwischen real viel Schlimmeres erlebt.

Im Vergleich zu Actionhelden aus Hollywood fällt bei Piel auf, daß er keine ausgeprägte Kino-Persönlichkeit besitzt. Er verläßt sich auf die atemberaubenden Dinge, die er vorführt, aber sein Handeln bleibt seltsam unmotiviert. Ich kenne nur diesen einen Film von ihm, und vielleicht hat er es in anderen besser hinbekommen. Aber es scheint mir, daß in USA viel mehr auf die Publikumsbedürfnisse geachtet wurde. Einen wie Piel hätte man dort seine Drehbücher nicht selbst schreiben lassen, sondern ihm einen versierten Autor an die Seite gestellt. Vielleicht hätte man die Konflikte mit seinen beiden Frauen auch einen guten Schauspieler spielen und ihn nur mit seinen Raubtieren hantieren lassen. Eigentlich bleibt unverständlich, warum er, der Tag und Nacht nur an seinen Zirkus denkt, überhaupt zwei Frauen an den Hals bekommen konnte. Die machen ihre Sache übrigens ganz ordentlich, auch wenn sie ebenfalls nicht deutlichmachen können, warum ihr Herz so an Harry hängt. Gleichwohl – als Filmpionier hat Piel zweifellos große Verdienste, und sein übriggebliebenes Werk würde eine Retrospektive verdienen.
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