Thema: Filmklassiker
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Alt 09.07.2023, 06:28   #1345  
Peter L. Opmann
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H. G. Wells ist bekannt für seine Romane „Die Zeitmaschine“, „Der Krieg der Welten“, „Der Unsichtbare“ und „Dr. Moreaus Insel“. Eine direkte Vorhersage der Zukunft der Menschheit ist ihm etwas verunglückt. Ich rede von dem britischen Film „Things to come“ (1936) von William Cameron Menzies, einer Verfilmung, an der Wells als Drehbuchautor maßgeblich mitwirkte. Er ist offenbar public domain und auf youtube zu sehen. Auch Wells hatte keine Kristallkugel, die ihm die Zukunft enthüllte, aber der Film gab dem Genre wichtige Impulse. Es ist auch interessant, wo er mit Vorhersagen beinahe ins Schwarze traf und wo er klar danebenlag.

In Deutschland war „Things to come“ erst 1977 erstmals, und nur im Fernsehen, zu sehen. Wells wollte einst „Metropolis“ eine realistischere Zukunftsvision entgegensetzen. Aber das Werk von Fritz Lang und Thea von Harbou war immerhin eine Vision, während sich der vorliegende Film eigentlich unnötig mit Vorhersagen abmüht. Er beginnt mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, und zwar im Jahr 1940. Wells sah ihn bereits als Bombenkrieg, wozu er tatsächlich wurde, und die idealtypische englische Stadt Everytown wird in Schutt und Asche gelegt. Allerdings dachte Wells nicht an Schutzbunker, und die Flugzeuge im Einsatz sind teilweise noch Doppeldecker. Vor allem fällt auf, daß er sich um mögliche Kriegsgründe und auch die Benennung der kriegführenden Nationen elegant herummogelt. Er greift einfach die Kriegsangst auf, die 1936 bereits in ganz Europa herrschte. Laut dieser Vorhersage dauert der Krieg bis mindestens 1966. Am Ende ist jegliche Zivilisation zerstört, und die Bevölkerung ist um die Hälfte dezimiert, vor allem durch den Einsatz biologischer Waffen, die eine weltweite Seuche auslösen. 1970 sieht die Welt recht mittelalterlich aus; vor allem gibt es keine Treibstoffe und keine Elektrizität mehr. Nun wird England - oder jedenfalls Everytown - von einem Diktator (Ralph Richardson) regiert, der aber mit Vorbildern wie Mussolini, Franko, Stalin oder auch Hitler wenig gemein hat. Er ist ein primitiver und brutaler Warlord – immerhin hat seine Frau (Margaretta Scott) ein bißchen Grips.

Ein anderer Diktator (Raymond Massey) taucht mit einem ehrfürchtig bestaunten Flugzeug in Everytown auf. Er ist ein wohltätiger Wissenschaftler und Rationalist, der die Terrorherrschaft im Land beenden und es wieder prosperieren lassen will. Vorerst wird er festgenommen, aber Richardson bemüht sich, mit ihm zusammenzuarbeiten, um sich auch wieder eine Flugzeugflotte zu verschaffen. Er bekommt ihn aber nicht unter Kontrolle und wird, wie auch seine Armee, schließlich durch ein Betäubungsgas außer Gefecht gesetzt. Die Bevölkerung spielt in diesem Konflikt keine Rolle – die Volksmeinung zählt nichts, und im gesamten Film nehmen niemals Politiker, geschweige denn politische Parteien auf das Geschehen Einfluß. Das könnte ein aufschlußreiches Licht auf die Mentalität in den 30er Jahren werfen.

Im letzten Drittel des Films springt Wells weit in die Zukunft. Im Jahr 2036 bereitet sich das wiederaufgebaute und industrialisierte England auf den ersten Mondflug vor. Auch hier ist seine Sicht der Zukunft nicht sehr treffsicher. Er wußte offenbar nicht, daß Pläne eines Raumflugs schon weit gediehen waren. Ich denke, Lang und Harbou waren mit ihrem Film „Die Frau im Mond“ (1929) schon näher an der Wirklichkeit als Wells ein paar Jahre später. Der Film unterstreicht hier noch einmal sein Ideal einer Scientokratie. Ein Aufstand gegen den immerwährenden wissenschaftlichen Fortschritt wird angezettelt, aber Nachkommen von Massey und eines Freundes können mit der Rakete ins All starten, bevor der Mob die Startrampe erreicht.

Insgesamt liegt der Film mit seiner Zukunftsschau öfter weit daneben, als er zutreffende Voraussagen macht. Immerhin ist er einer der wenigen Versuche, die Science Fiction im Kino ernstzunehmen. Man kann allerdings wohl froh sein, daß Wells‘ zentrale Vision, daß nämlich die Wissenschaft die Menschheit in ein neues Paradies führen wird, nicht wahrgeworden ist. Die meisten Wissenschaftler würden eine solche Verantwortung, denke ich, auch dankend ablehnen. Ein Problem liegt darin, daß „Things to come“ eine Geschichte erzählen muß, damit er auch ein Unterhaltungsbedürfnis befriedigen kann. Wenn der Film einen quasi-dokumentarischen Ton anschlägt, gefällt er mir besser. Dennoch ist er für mich in keiner Sekunde langweilig. Allerdings bekommt man in der Regel eine auf knapp 90 Minuten gekürzte Fassung zu sehen. Ursprünglich war der Film 130 Minuten, in der ersten Kinofassung immerhin noch 117 Minuten lang. Was davon gekürzt wurde, ist verlorengegangen und wurde für eine DVD-Fassung mithilfe von Standbildern und Scriptzitaten rekonstruiert. Ich habe nur die gekürzte Fassung.

Regisseur Menzies war hauptsächlich Filmarchitekt, weshalb die futuristischen Bauten besonders gelobt werden. Ich habe den Eindruck, daß er jedoch klugerweise in dieser Hinsicht nicht versucht hat, „Metropolis“ zu übertreffen. Die SF-Kulissen werden relativ zurückhaltend eingesetzt, sehen aber nicht viel anders aus als etwa die in dem gleichzeitig produzierten „Flash Gordon“-Serial. Trotzdem gefällt mir die Optik des Films ziemlich gut. Die Special Effects sind – wenig verwunderlich – überholt; meist werden Modelle und Rückprojektionen eingesetzt. Alles in allem ist „Things to come“ eine auf interessante Weise schiefgegangene Zukunftsvision – für Science Fiction-Fans unbedingt sehenswert.

Geändert von Peter L. Opmann (09.07.2023 um 07:27 Uhr)
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