Thema: Filmklassiker
Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 01.07.2023, 06:50   #1320  
Peter L. Opmann
Mitglied
 
Benutzerbild von Peter L. Opmann
 
Ort: Hessen
Beiträge: 5.603
Der Film hat mich in seinem Grundmotiv der bedrohten Frau an einen anderen, einen wahrhaften Klassiker, erinnert: „Du lebst noch 105 Minuten“ (1948) von Anatole Litvak. Das ist wieder mal ein Film, den ich in meiner Jugend mehrmals im Fernsehen gesehen habe. Ich hatte nur noch Erinnerungen an ein paar Grundmotive. Bemerkenswert: In seiner Struktur ist der Film sehr einfach und leicht verständlich: Barbara Stanwyck liegt schwerkrank zuhause im Bett; sie ist allein im Haus und erkennt im Lauf mehrerer Telefongespräche, daß sie das Ziel eines Mordanschlags ist. Dahinter steckt ihr Ehemann (Burt Lancaster), und durch die Telefonate wird ihr kompliziertes Verhältnis zu ihm für den Zuschauer nach und nach aufgedeckt. Diese Hintergründe habe ich damals sicher nur in Ansätzen verstanden, und es erfordert auch Konzentration, sie richtig zu erfassen.

Paul Werner geht in seinem kenntnisreichen Buch „Film noir“ ausführlich auf die Rollen von Stanwyck ein, die meist eine starke und seltener eine gefährdete Frau verkörperte – hier ist sie beides. Georg Seeßlen widmet dem Topos in „Kino der Angst“ ein ganzes Kapitel: „Gefährliche Beziehungen“. Die Geschichte war bereits fünf Jahre vorher als Hörspiel erfolgreich, und ich kann mir vorstellen, daß ein Hörspiel für einen Stoff, der hauptsächlich aus Telefongesprächen besteht, auch ausreicht. Der von Hal Wallis produzierte und von Paramount vertriebene Film punktet jedoch durch das intensive Spiel von Stanwyck und durch langsame Kamerafahrten durch ihr Krankenzimmer – dabei wird sie einerseits durch die luxuriöse Einrichtung charakterisiert, andererseits erscheint sie in diesem Raum hilflos gefangen, was die Beklemmung des Zuschauers verstärkt.

New York City. Zu Beginn ist Stanwyck nur beunruhigt, weil Lancaster nicht zur verabredeten Zeit von der Arbeit nach Hause gekommen ist. Auch telefonisch kann sie ihn nicht erreichen. Da hört sie durch eine falsche Verbindung (hier werden Gespräche noch von Telefonistinnen handvermittelt) eine Verabredung zweier Dunkelmänner zum Mord mit. Die Polizei interessiert sich nicht für ein nicht lokalisierbares Verbrechen, das noch gar nicht stattgefunden hat, und Stanwyck ahnt nicht, daß es um sie selbst als Mordopfer ging. Im Gespräch mit einer ehemaligen Freundin (Ann Richards) wird zunächst Stanwycks Verhältnis zu Lancaster beleuchtet. Sie ist die Erbtochter eines schwerreichen Pharma-Bosses („Aspirin-König“ Ed Begley), er ein mittelloser Arbeiter aus schwierigen Verhältnissen. Aber sie verliebt sich und heiratet ihn, verschafft ihm sogar eine hohe Position im Konzern ihres Vaters (allerdings nur als Frühstücksdirektor). Sie weiß, was sie will, aber er möchte auf eigenen Füßen stehen und nicht in ihrem goldenen Käfig leben.

Schließlich beginnt Lancaster, wie sie von einem Komplicen erfährt, durch Betrug an der Firma seines Schwiegervaters sein eigenes Geschäft aufzuziehen. Dabei läßt er sich jedoch mit Verbrechern ein (angeführt vom jungen William Conrad), die rasch das Kommando übernehmen, Sie verlangen von ihm 200 000 Dollar (also doppelt so viel wie der Erpresser in „Der letzte Zug“). Als er sagt, daß er kein eigenes Geld besitzt, zwingen sie ihn, der Ermordung seiner Frau zuzustimmen, deren Lebensversicherung ihm dann zufallen würde.

Durch ein Telefonat mit Stanwycks Arzt (Wendell Corey) erfahren wir schließlich, an welcher Krankheit sie leidet. Es sah so aus, als handele es sich um ein schweres Herzleiden, aber der Arzt hat festgestellt, daß es Herzangst ist (eine Krankheit, die es wirklich gibt), also eine rein psychische Sache. Dadurch hat sie Lancaster immer wieder unter Druck gesetzt. Am Ende kann sie ihn doch noch auf dem Weg zu einem Pharmakongress erreichen (tatsächlich will er möglichst weit von dem Mordanschlag entfernt sein). Jetzt, im Augenblick höchster Gefahr, können sie endlich einmal offen über ihre Beziehung reden – sie lieben sich noch immer. Aber da sind die Mörder bereits ins Haus eingedrungen. Lancaster beschwört seine Frau, ans Fenster zu gehen und um Hilfe zu schreien, aber sie kann sich nicht bewegen…

Bei diesem Film habe ich das starke Gefühl, daß ich nicht spoilern sollte. Aber ich möchte doch festhalten, daß er auf ein Happy End verzichtet. Er ist bedingt durch seine düstere Atmosphäre eindeutig ein Film noir, und er zieht den Zuschauer konsequent in seinen Bann. Dabei besteht er zum großen Teil aus Rückblenden, die nur allmählich erklären, warum Stanwyck in Lebensgefahr schwebt. Hitchcock hätte es vermutlich anders gemacht und dem Publikum schon deutlich früher gezeigt, daß ein Mordanschlag auf sie vorbereitet wird, während sie noch ahnungslos ist. Aber der Film funktioniert so, wie er ist, sehr gut, und ich stimme der Bemerkung in der englischen wikipedia völlig zu, daß der Filmschluß dauerhaft im Gedächtnis bleibt. Wie Blake Edwards scheint auch Anatole Litvak ein Regisseur zu sein, der ein sehr interessantes und vielfältiges Werk hinterlassen hat. Zu seinen bekanntesten Filmen zählen „Anastasia“ und „Lieben Sie Brahms?“ „Du lebst noch 105 Minuten“ hat übrigens laut DVD-Hülle eine FSK-Beschränkung auf 16 Jahre.
Peter L. Opmann ist offline   Mit Zitat antworten