Thema: Filmklassiker
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Alt 29.04.2023, 06:49   #1167  
Peter L. Opmann
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„The Who“ waren meine erste Begegnung mit ernstzunehmender Rockmusik. Vorher hatte ich nur Hitparadenzeug gehört und das, was Thomas Gottschalk in Bayern3 spielte. Aber ich habe nicht alle Who-Platten, und ein Freund belächelte mich vor einiger Zeit, als ich gestand, daß mir auch „Quadrophenia“ fehlt. Ich kenne zwar etliche Songs von der Platte, aber auch den Film hatte ich noch nicht gesehen. Diese Begegnung brachte mich aber dann dazu, mir die „Quadrophenia“-DVD zu besorgen (ein Film von Franc Roddam, 1979), und jetzt habe ich sie auch angeschaut.

In England war der Film sehr erfolgreich; laut wikipedia konnte er sich bei Erscheinen beinahe mit „James Bond: Moonraker“ messen. Hierzulande dürfte er deutlich weniger Zuschauer gehabt haben. Man merkt, daß die englische Jugendkultur, die hier thematisiert wird – abgesehen davon, daß das, als der Film entstand, auch schon etwa 15 Jahre her war -, mit dem Jugendprotest in Deutschland wenig gemein hatte. Die Mod-Jugendkultur ist hier unbekannt. Ein wenig erinnern die Anhänger an Popper, weil sie sich elegant kleiden (mit Krawatte!) und Gutsituiertheit ausstellen – eben weil es in England sehr wichtig war, sozial aufzusteigen. Der Vergleich führt in die Irre, denn Mods sind alles andere als angepaßt, hören aggressive Musik (etwa von „The Who“), prügeln sich gern mit Rockern und nehmen Drogen. Die Mods werden nicht glorifiziert. Die sozialen Verhältnisse waren, jedenfalls zu dieser Zeit, in England schroffer und die Perspektiven der Jugend viel schlechter. In gewissem Sinn kann man diese Kultur daher mit dem späteren Gangsterrap vergleichen. In „Quadrophenia“ wird ein ziemlich glaubwürdiges Zeitbild entworfen. Der Film hat keine besonders ausgeklügelte Story, aber er wirkt über weite Strecken authentisch.

Erzählt wird die Geschichte eines jungen Mods (Darsteller Phil Daniels war bei den Dreharbeiten selbst erst 19) und seiner vergeblichen Rebellion gegen die Spießerwelt der Erwachsenen. Er erlebt Schritt für Schritt einen Abstieg, nachdem es ihm zunächst gelingt, ein attraktives Mädchen (Leslie Ash) durch seine wilden und verrückten Aktionen zu gewinnen. Probleme bekommt er, als er feststellt, daß ein guter Freund Rocker geworden ist, und er nicht weiß, ob er die Freundschaft wahren oder künftig zu ihm Distanz halten soll. Nach einer Massenschlägerei mit Rockern bei einem Volksfest in Brighton wird er vor Gericht gestellt und zu einer empfindlichen Geldbuße verurteilt. Er verliert seinen Job als Bürobote (den er aber ohnehin haßt) und wird aus seinem Elternhaus rausgeworfen. Ash kündigt ihm darauf die Freundschaft, weil er seinen Mod-Lebensstil übertreibt; sie behauptet, ihre kurze Romanze in Brighton – befeuert durch die Gefahr der Unruhen und des brutalen Polizeieinsatzes – sei für sie nur „ein Spaß“ gewesen. Der absolute Tiefpunkt für Daniels ist erreicht, als er herausfindet, daß ein von ihm sehr verehrter Mod (gespielt von Sting), der anscheinend den Kampf gegen Bürgerlichkeit wirklich überzeugend lebt, an der Südküste in einem Hotel als Kofferträger arbeitet und also ein perfektes Doppelleben führt. Darauf klaut er dessen silbernen Motorroller (ein absolutes Mod-Statussymbol) und läßt ihn die Klippen hinabstürzen. Das ist keine Lösung, aber immerhin ein eindrucksvolles Filmende.

Was „Quadrophenia“ fehlt, ist Reflektion der Mißstände, an denen die englische Gesellschaft leidet. Daniels sagt einmal: „Irgendwer muß man doch sein. Ich will nicht dasselbe sein wie all die anderen. Darum bin ich Mod.“ Das klingt heute schon ein bißchen schräg, nachdem es keine ausgeprägten oder gar konkurrierenden Jugendkulturen mehr gibt. Gut herausgearbeitet wird, daß Jugendliche damals von Erwachsenen kaum ernst genommen wurden – sie werden mit stumpfsinnigen Jobs abgespeist und sollen sich dafür möglichst ruhig verhalten. Das hat sich ziemlich geändert. Arbeitgeber müssen heute auf die Work-Life-Balance junger Arbeitskräfte größtmögliche Rücksicht nehmen. Die Reaktion der Eltern auf das Aufbegehren der Mods wirkt hilflos – man wundert sich beinahe, daß sie sich der Nutzlosigkeit ihres eigenen Lebens nicht bewußt werden. Auf Reflektion der Probleme kann aber in meinen Augen doch verzichtet werden, weil die Zeiten einfach vorbei sind.

Die Who-Bandmitglieder waren – kurz vor dem Tod von Drummer Keith Moon – an dem Film beteiligt, haben den von eigenen Songs dominierten Soundtrack erarbeitet, und Gitarrist Pete Townshend hat auch ein paar Hinweise zum Drehbuch gegeben. Gut möglich, daß der Hauptdarsteller ein Stückweit den jungen Townshend porträtiert. „Quadrophenia“ hat laut wikipedia sogar zu einem kurzzeitigen Mod-Revival geführt, die Bewegung konnte sich aber gegen den damals in England vorherrschenden Punk nicht mehr durchsetzen. Der Film ist sicher ein Zeitdokument, und das Schicksal des Helden hat mich nicht unberührt gelassen.

Geändert von Peter L. Opmann (29.04.2023 um 07:09 Uhr)
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