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Alt 14.03.2023, 19:02   #7443  
God_W.
Captain Rezi
 
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Ernie Pike (Pratt & Oesterheld Gesamtausgabe)



Den Abschluss meiner einwöchigen Exkursion in Comics mit Kriegsthematik macht ein weiterer großer Klassiker. Erneut handelt es sich um eine Sammlung von Kurzgeschichten, was den Rahmen sehr gut schließt, habe ich meine Strecke mit „Blazing Combat“ doch auch mit solchen Shorties begonnen.

Noch lange bevor Hugo Pratt mit seinem Corto Maltese Weltruhm erlangte und etwa zeitgleich als Hector German Oesterheld mit dem Eternauten DAS Werk der Neunten Kunst vorlegte, welches wie kein anderes die Geschichte Argentiniens unter der Militärknute der Junta in einem in die Science-Fiction entrückten Kontext, nahezu prophetisch voraussieht, hatten die beiden späteren Größen der Comicbranche eine äußerst fruchtbare Zeit der Zusammenarbeit. Bei „Ticonderoga“, der noch auf meinem Lese-K2 auf Sichtung wartet, aber eben auch mit „Ernie Pike“, um den es heute gehen soll.

Ernie Pike ist nicht etwa die Hauptperson in den hier erzählten Geschichten, nein, es handelt sich um einen Kriegsberichterstatter, der stets am Puls der Zeit und vor allem aus dem Herzen des Geschehens heraus berichtet. Er fungiert also als Erzähler, der uns die Gräuel und Dramen, die sich im Krieg abspielen näherbringt. Teils berichtet er uns aus erster Hand, aber auch Berichte, die er von verwundeten Soldaten bei Lazarettbesuchen erfahren hat, bringt er uns näher.

Die Figur des Ernie Pike ist der realen historischen Persönlichkeit, dem Pulitzerpreisträger Ernie Pyle nachempfunden, zumindest was den mutigen Einsatz für klare, ehrliche und ungeschönte Berichterstattung von den gefährlichsten Kriegsschauplätzen angeht. Rein optisch haben wir hier niemand anderes als den Autor Hector Germán Oesterheld vor uns, den sich Hugo Pratt als Vorbild für seinen Erzähler nahm. So haben wir den Mann mit der tragischen Lebensgeschichte fast ständig bildlich vor Augen, während er in seiner ihm eigenen, entwaffnend ehrlichen und äußerst eindringlichen Art ein Sammelsurium mal mutiger, mal trauriger, oft unfairer und immer furchtbarer Vorgänge während des Krieges wie einen Film vor uns abspult.

Da gibt es nur ganz selten Schwarz-Weiss-Malerei, da wird ausgelotet und differenziert berichtet. Da gibt es Graustufen zwischen gut und böse, richtig und falsch. Zum größten Teil emotional äußerst packend werden sowohl erfundene Geschichten erzählt, aber auch solche, die auf wahren Begebenheiten beruhen, wie die der britischen Laconia und des deutschen U156. Einzig die lange Fortsetzungsgeschichte über „Lord Crack“ mutet ein wenig wie ein heldenhaftes Abenteuer an, erinnert sogar ein klein wenig an den schmächtigen Steve Rogers, bevor er zu Captain America wurde. Im Gegenzug ist bei der ein oder anderen Erzählung aber auch schon Pratt‘scher Einfluss zu verspüren, wenn hier und da lyrische Wehmut durchblitzt, wie sie später bei Corto geradezu von den Seiten weht.

Hugo Pratt weiß dabei mit einem Fleiß und einer Detailverliebtheit zu glänzen, die er später beim Finale der Wüstenskorpione nicht mehr an den Tag legte. Die einen sagen er hatte es darin zur Meisterschaft gebracht mit wenigen Strichen den Fokus auf bestimmte Dinge zu legen und besondere Emotionen und Stimmungen zu vermitteln. Das mag teilweise stimmen, dennoch habe ich das Gefühl, dass er später raus auch deutlich fauler und ein wenig schlampiger wurde. Aber hey, das bedeutet nicht, dass ich seinen Stil und, bei seinen eigenen Geschichten, seinen Erzählstil nicht toll finden würde. Ist eben mein Eindruck. Hier war das aber sicherlich noch nicht der Fall und gepaart mit der erzählerischen Kraft und der mal wieder hervorragenden Optik, Haptik und dem hochinteressanten redaktionellen Teil, den das Prachtstück von Avant vorzuweisen hat, haben wir hier ein Gesamtpaket, welches nahe am Meisterwerk kratzt. Nur einige wenige, lediglich „sehr gute“ Geschichten halten mich davon ab die Höchstnote zu zücken.

9,5/10

VG, God_W.



PS: Das war er also, mein einwöchiger Ausflug ins Genre der Kriegscomics. Erneut ein intensives Erlebnis mit vielen lohnenswerten Veröffentlichungen. Gerade der Einstieg, der Abschluss und die beiden Manga von Shigeru Mizuki haben tiefgreifenden Eindruck gemacht. Den Wüstenfalken und Wege zum Ruhm kann man da schon eher als „leichtere Kost“ betrachten, denn das Kriegsgeschehen wird dort nicht so drastisch in den Fokus gesetzt, Himmel in Trümmern lief leider ein wenig an meinem Geschmack vorbei. Insgesamt darf ich aber behaupten, dass mich dieses Jahr kein Werk dermaßen packen und lange beschäftigen konnte, wie im vergangenen Jahr die beiden Meisterwerke Maus und Die Bombe. Wer sich auch nur ein wenig mit dem zweiten Weltkrieg beschäftigen möchte kommt an diesen beiden überragenden Erzählungen nicht vorbei (oder sollte das zumindest nicht).
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