Thema: Filmklassiker
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Alt 22.01.2023, 17:57   #628  
Peter L. Opmann
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Heute würde ich „Die zwölf Geschworenen“ (1957) von Sidney Lumet wohl als zu belehrend empfinden. Aber vor 40 Jahren, als ich den Film erstmals im Fernsehen sah, war er für mich ein Erlebnis. Dieses Erstlingswerk von Lumet im Kino ist zweifellos ein Klassiker, aber der Hinweis ist angebracht, daß der Film zunächst beim Publikum nicht ankam, weil es auch irgendwie eine Zumutung ist, 90 Minuten lang nur diskutierende Männer zu zeigen. Alfred Hitchcock hätte die Aufgabe möglichweise gereizt; er hatte etwa zehn Jahre vorher mit „The Rope“ („Cocktail für eine Leiche“) etwas ähnliches versucht: einen Film, der nur eine Party abfilmt, bei der es freilich Suspense gibt, denn in einer Kiste unter dem kalten Büffet liegt die ganze Zeit eine Leiche. Aber James Stewart soll bei den Dreharbeiten gesagt haben: „Hitch, warum stellen Sie nicht gleich Zuschauerstühle hier im Filmstudio auf?“ Bei Lumet wird über einen potentiellen Todeskandidaten geredet, einen Puerto-Ricaner, der in New York seinen Vater umgebracht haben soll. Bei Hitchcock war zudem Filmzeit und reale Zeit identisch; er tat so, als gebe es überhaupt keine Schnitte. Bei Lumet bin ich nicht sicher, auf jeden Fall wurde aber hier geschnitten.

„Die zwölf Geschworenen“ ist keinem Genre zuzuordnen – es ist nicht einmal ein richtiger Justizfilm. Im US-Kino ist es üblich, in Genres zu arbeiten: Western, Krimi, Melodram, Horrorfilm. Dieser Stoff kam dagegen vom Theater und war vorher auch schon zu einem einstündigen Fernsehspiel verarbeitet worden. Da konnte man auf großartige Bilder und Effekte verzichten und sich ganz auf die Schauspielerleistungen konzentrieren. Und Lumet, der selbst schon fürs Fernsehen gearbeitet hatte, tat das auch. Die Gerichtsverhandlung ist vorbei; die zwölf Geschworenen ziehen sich in ihr Beratungszimmer zurück, um das Urteil zu fällen: Schuldig oder nicht schuldig. Und das sind ziemlich unterschiedliche Charaktere, unter denen freilich Lee J. Cobb die Richtung vorzugeben scheint: Die Beweislage ist eindeutig. Ich habe Karten fürs Baseballspiel – also laßt uns die Beratung schnell hinter uns bringen. Dem schließen sich die anderen an – bis auf einen, Henry Fonda. Er sagt, ähnlich wie einst Joschka Fischer: I am not convinced. Die Jury muß aber einstimmig entscheiden.

Nach und nach äußert Fonda immer mehr Zweifel am Ergebnis der Beweisaufnahme. Die anderen Geschworenen sind zunächst genervt, daß sie sich mit dem Fall so eingehend beschäftigen müssen (obwohl es ja immerhin um ein Menschenleben geht), und das mitten im Sommer in einem brütend heißen Raum, den sie ohne Urteil nicht verlassen dürfen. Dann kommen sie zunehmend zu der Auffassung, daß es doch Indizien gibt, die einen Schuldspruch nicht unbedingt stützen. Am Ende ist nur noch Cobb übrig, der darauf besteht, den Angeklagten zu verurteilen. Aber es zeigt sich, daß er bei der Erziehung seines Sohnes versagt hat und nun seinen Haß auf ihn auf den Puerto-Ricaner projiziert. Im Verlauf der Beratungen erweist sich nicht die Unschuld des Mannes, aber es gibt am Ende genug Zweifel, daß alle für „unschuldig aus Mangel an Beweisen“ stimmen.

Zum Ensemble gehören einige bekannte Nebendarsteller Hollywoods: Martin Balsam, E. G. Marshall, Jack Klugmann, Jack Warden, Ed Begley, Robert Webber. Jeder der Geschworenen stellt eine individuelle Person dar (wie in wikipedia genau aufgeschlüsselt). Der Film entbehrt nicht einer gewissen Spannung, weil man wissen möchte, ob der mutmaßliche Mörder schuldig ist oder nicht. Durch die sorgfältige Inszenierung der quälenden Diskussion in einem engen Raum entsteht eine teils klaustrophobische Atmosphäre. Aber der Film hinterläßt auch Fragen: Warum gibt es eigentlich im Cast keine einzige Frau? Abgesehen davon, daß nur weiße Männer beteiligt sind. 1957 hat das offenbar niemanden irritiert. Fonda sagte auf Anfrage nicht nur zu, die herausgehobene Rolle des Geschworenen zu übernehmen, der als einziger den Schuldspruch der Jury blockiert. Er produzierte den Film auch mit, der allerdings keinen Gewinn erzielte. In Europa lief er erfolgreicher und bekam auch Preise (unter anderem den Goldenen Bären in Berlin) – bei den Oscars ging er leer aus.

Filmtechnisch ist das zweifellos ein ungewöhnliches Werk. Inhaltlich ist mir das aber doch zu plakativ. Der Film verdankt sein Zustandekommen sicher auch dem „neuen“ Medium Fernsehen, wo die Betrachtungsweise weniger überlebensgroß war und man sich eingehender mit realen Problemen (hier: einer schlampigen Justiz) beschäftigte. Der Richter muß sich gedacht haben: Ich habe alle Zeugen befragt – sollen doch die Geschworenen jetzt sehen, was sie daraus machen…
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