Thema: Filmklassiker
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Alt 10.12.2022, 07:00   #394  
Peter L. Opmann
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Diesmal habe ich mich mal wieder für einen sehr bekannten Film entschieden, der auch oft im Fernsehen gelaufen ist: „Die Reifeprüfung“ (1967) von Mike Nichols. Da muß ich wohl kaum den Inhalt referieren – oder doch? Der Skandal, den dieser Film mal gemacht hat, ist nicht mehr nachzuvollziehen – auch wenn die Beziehung zwischen Dustin Hoffman und Anne Bancroft auch heute noch reichlich seltsam wirkt. Er ist immer noch – finde ich – ziemlich mitreißend, zumindest noch ein wirklich gut gemachtes Melodram. Und er hat den berühmten Soundtrack von Simon & Garfunkel. Obwohl ich dieses Duo für die schweigende Mehrheit der Popfans nie besonders gut fand, muß ich neidlos anerkennen, daß „Sound of Silence“ und vor allem „Mrs. Robinson“ tolle Songs sind (die „Lemonheads“ haben „Mrs. Robinson“ mal etwas schwungvoller eingespielt).

Hoffmans Lethargie nach seinem Collegeabschluß konnte ich, als ich den Film zum ersten Mal sah, nicht verstehen, aber seitdem habe ich eine Menge Leute getroffen, denen es nach dem Abi ähnlich ging. Die Inszenierung der Bettgeschichte zwischen Hoffman und Bancroft läßt an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig, obwohl es da natürlich so gut wie keine explizite Erotik gibt. Und es verleiht der Story nochmal gehörig Drive, als er Katharine Ross trifft und ihr sagt: Ich liebe nicht deine Mutter, sondern ich liebe dich! Und dann muß er einen lange Zeit ziemlich aussichtslosen Kampf um sie kämpfen. Den Schluß, wenn sie völlig erschöpft im Bus sitzen – sie im Hochzeitskleid –, finde ich ausgesprochen cool.

Der Film ist natürlich historisch wichtig. Er brach ein Tabu auf, wenn auch kein gesellschaftlich besonders wichtiges. Aber man sprach über so etwas nicht – geschweige denn schaute man sich das in allen Einzelheiten im Kino an. Hoffman nutzte seine Chance: Obwohl er schon 30 Jahre alt war, spielte er den unreifen (aber dann doch gereiften) College-Boy überzeugend und wurde schlagartig bekannt. Anne Bancroft hat in meinen Augen die noch schwierigere Rolle: Einerseits ist sie sexuell vernachlässigt, aber nicht bereit, sich in ihre Rolle zu fügen, und andererseits ist sie auch gelangweilt, weil die Affäre mit dem Jüngelchen auch nicht das ist, was sie braucht. Zum Schluß entpuppt sie sich als ebenso borniert wie ihr dummer Ehemann, und Hoffman wird zum Rebellen im „Summer of Love“, obwohl er das gar nicht angestrebt hat. Das Melodram hat also auch noch starke komödiantische Elemente. Über Katharine Ross kann ich nicht viel sagen. Immerhin ist sie sehr liebenswert und natürlich die weit bessere Wahl als ihre Mutter.

Ich lese, daß die Mrs. Robinson zuerst Doris Day spielen sollte. Das kann man sich kaum vorstellen. Aber ich kann mir gut vorstellen, daß Day absagte – diese Rolle wäre ihrem Image total zuwidergelaufen. „Die Reifeprüfung“ war in meiner Heimatstadt in den 80er Jahren tatsächlich mal im Kino. Ich habe nicht viel über den Film geschrieben. Aber es gab damals schon eine Fachhochschule mit etwa 5000 Studenten, und ich benutzte die Aufführung, um an den Kinochef zu appellieren, öfters mal so einen Filmklassiker ins Programm zu nehmen statt immer nur die aktuellen Blockbuster. Denn, so schrieb ich, wer den Film mal im Kino gesehen hat, werde ihn bestimmt nie mehr im Fernsehen sehen wollen. Da bin ich heute nicht mehr so sicher. Jedenfalls dauerte es noch eine Weile, bis die Kinos in meiner Stadt ihr Programm auch ein wenig auf das studentische Publikum abgestimmt haben.
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