Thema: Filmklassiker
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Alt 01.12.2022, 06:21   #331  
Peter L. Opmann
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Noch eine Filmbiografie, aber ganz anderer Art: „American Splendor“ (2003) von Robert Pulcini und Shari Springer Berman. Ich habe damals in Augsburg die Kinoaufführung verpaßt (vielleicht lief der Film dort gar nicht) und kurz darauf eine gebrauchte DVD in einer Videothek gekauft. Leider fehlte das Booklet, das von Robert Crumb gestaltet ist. Etwas später habe ich die DVD dann aber noch einmal eingeschweißt auf einem Grabbeltisch gefunden. Von den Comics hatte ich schon vorher gehört. Ich habe einen Omnibus von Ballantine („The Life and Times of Harvey Pekar“); soviel ich weiß, sind die Comics noch nicht auf deutsch erschienen.

Zurück zum Film, der erst 20 Jahre alt ist, aber das ist mir in diesem Fall egal. Es handelt sich um eine sehr eigenwillige Mischung aus biografischem Spielfilm (mit Paul Giamatti in der Hauptrolle), dokumentarischen Szenen mit dem echten Pekar und Comiceffekten (so will ich das mal nennen). Das heißt, die Handlung läuft mitunter in wechselnden Panels ab, um den Zuschauer daran zu erinnern, daß es das Ganze bereits als Comic gibt. Pekar ist ein intelligenter, reflektierter Zeitgenosse, der völlig unauffällig als Mitarbeiter einer Krankenhausverwaltung in Cleveland/Ohio vor sich hin lebt. Jemand, der aus sich mehr hätte machen können, dem aber dazu der Ehrgeiz fehlte. Er interessiert sich für alte Schallplatten mit ungewöhnlicher Musik (wie Crumb, den er auf diese Weise kennenlernt), und er liest auch Comics, was ihn auf die Idee bringt, Episoden aus seinem Leben in Form von Comics zu erzählen. Allerdings ist er kein begabter Zeichner, er bringt nur hingeworfene Entwürfe zustande. Als er dann aber Crumb auf einer Plattenbörse trifft, bekommt der dieses Material zu sehen und interessiert sich sofort dafür, das für Pekar zu zeichnen.

„American Splendor“ wird eine Underground-Comicserie, das heißt, alle kommerziellen Anforderungen werden konsequent ignoriert. Ich habe nur ein „Best of“ dieser Comics (die auch von anderen Undergroundzeichnern gestaltet wurden) gelesen, aber es wird deutlich, daß Pekar einfach sein relativ ereignisarmes Leben zum Thema macht – aber so, daß es nicht langweilig ist. Die Comics sind noch viel episodischer als der Film. Hier erlebt man mit, wie Pekar an einer Stimmbandentzündung leidet, wie ihn seine Freundin verläßt, wie er dann seine spätere Frau kennenlernt, eine Verkäuferin in einem Comicladen, die bereits von ihm als Comicfigur gelesen hat, und wie sie schließlich eine Tochter adoptieren (das scheint aber mit der Wirklichkeit nicht ganz übereinzustimmen). Als Nebenfiguren treten überwiegend Kollegen aus der Krankenhausverwaltung auf, darunter ein ziemlich gehemmter bekennender Christ, mit dem Pekar trotzdem in gewissem Sinn befreundet ist.

Die Comicserie „American Splendor“ wurde mit der Zeit so bekannt, daß Pekar vorübergehend als skurrile Gestalt für die David-Letterman-Show engagiert wurde (vielleicht ein bißchen vergleichbar mit Herbert Feuerstein oder Manuel Andrack in der Harald-Schmidt-Show). Zwischendurch muß er sich ein Jahr lang einer Krebsbehandlung unterziehen, was er auch wiederum in einem Comic verarbeitet („Our Cancer Year“). Man sieht, es gibt hier wieder mal kaum eine Story zu erzählen. Dennoch erzeugt der Film eine einzigartige Atmosphäre, der sich der Zuschauer kaum entziehen kann. Auch durch die Macken der handelnden Personen. Dazu trägt freilich wesentlich bei, daß immer wieder zwischen den oben erwähnten drei Ebenen – Spielhandlung, Dokumentaraufnahmen (in denen sich Pekar auch mal direkt an den Zuschauer wendet) und Comiceffekte – hin- und hergeblendet wird. Ich glaube, der Film ist auch nicht streng chronologisch. Giamatti spielt seine Figur ziemlich glaubwürdig, und auch die anderen Schauspieler – wenngleich mir alle unbekannt – machen ihre Sache gut.

Mich hat fasziniert, wie der Weg zur Entstehung eines ungewöhnlichen Comics dargestellt wird. „American Splendor“ hat mich motiviert, selbst einen autobiografischen Comic zu zeichnen, „Daphne erstarrt“ (den ich auch bereits oben erwähnt habe). Im Gegensatz zu Pekar hatte ich mit Zweifeln zu kämpfen, ob mein Leben wirklich erzählenswert ist. Aber ein gutes Mittel, mir über verschiedene Dinge klar zu werden, war mein Comic auf jeden Fall. Der Film „American Splendor“ war durchaus erfolgreich. Er gewann auf mehreren Festivals Preise und wurde auch für einen Oscar nominiert („Bestes adaptiertes Drehbuch“). Die Einnahmen betrugen 8,7 Millionen Dollar, mehr als das Fünffache der Produktionskosten. Wie ich lese, hat Pekar den Film dann auch in einem Comic verarbeitet („Our Movie Year“), man kann also sagen, daß hier Kunst und Kommerz auf seltsame Weise versöhnt werden.
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