Thema: Filmklassiker
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Alt 22.11.2022, 07:34   #273  
Peter L. Opmann
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Über Peter Weir wollte ich schon länger etwas schreiben. Er hat sich als Regisseur darauf spezialisiert, unterschiedliche Milieus (um es mal so zu sagen) aufeinandertreffen zu lassen. Zuerst habe ich eine relativ frühe Arbeit von ihm gesehen, nämlich „Wenn der Klempner kommt“ von 1979. Bemerkenswert finde ich auch „Fearless“, „Die Truman Show“, „Green Card“ und natürlich „Der Club der toten Dichter“, aber behandeln will ich hier einen Film, in dem sein thematisches Interesse meiner Ansicht nach besonders deutlich wird: „Der einzige Zeuge“ von 1985. Ein Polizist aus Philadelphia versteckt sich vor korrupten Kollegen in einer Siedlung von Amish People und bringt deren Lebensweise ziemlich durcheinander. Als Polizeifilm und Thriller funktioniert der Film wunderbar, obwohl die Spannung eher unterschwellig bleibt und die Action sehr zurückgenommen ist. Man kann allerdings geteilter Meinung darüber sein, ob man hier etwas über die Gemeinschaft der Amish erfährt.

Wer sich dafür interessiert, dem empfehle ich das Buch „Das vergessene Volk“ von Michael Holzach: Ein „Zeit“-Reporter lebte ein Jahr lang bei den Hutterern in Kanada, einer den Amish sehr ähnlichen Gemeinschaft, und paßte sich ihnen völlig an. Beide Gruppen haben einen strengen christlichen Glauben, der sie dazu bringt, auf Errungenschaften der modernen Welt wie Telefon oder Fernsehen zu verzichten, sich weitgehend von ihr abzukapseln und von Landwirtschaft wie im 18./19. Jahrhundert zu leben. Holzachs Beschreibung ist eine Außensicht, aber er beobachtet gut und schreibt fair. Doch zurück zum Film. Eine Amish-Frau (Kelly McGillis) hat in Philadelphia etwas zu erledigen und fährt mit ihrem kleinen Sohn (Lukas Haas) mit dem Zug hin. Auf der Bahnhofstoilette beobachtet Haas einen Mord, der die Polizei auf den Plan ruft. Widerwillig muß McGillis sich als Zeugin zur Verfügung stellen. Harrison Ford spielt den Beamten, der sie befragt. Haas entdeckt den Mörder auf einem Foto – es ist ein Polizist, ein Drogenfahnder (Danny Glover). Ford informiert seinen Vorgesetzten (Josef Sommer) und beschließt, McGillis und ihren Sohn so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen, aber in einer Tiefgarage lauert Glover ihm auf und schießt auf ihn. Damit ist klar: Im Polizeiapparat gibt es einen Drogenring.

Ford ist angeschossen, aber es gelingt ihm, mit Mutter und Sohn in ihrem Amishdorf unterzutauchen. Da die Amish völlig außerhalb der amerikanischen Gesellschaft leben, ist er da schwierig zu finden. Seine Schußwunde wird mit einfachen medizinischen Mitteln behandelt. Nachdem sie geheilt ist, bleibt er weiter bei den Amish, weil Sommer immer noch nach ihm sucht. Er nimmt am Leben der Gemeinschaft teil und freundet sich mit McGillis an. Sie ist eine Witwe, wird aber bereits von einem Glaubensgenossen (Alexander Godunov) umworben. Mit seiner Polizeiwaffe, seiner Neigung, Probleme mit Gewalt zu lösen, und seiner – aus ihrer Sicht – lockeren Einstellung gegenüber Frauen eckt Ford bei den Amish ziemlich an. Einmal verprügelt er sogar in einer nahen Kleinstadt provokativ auftretende Jugendliche, was den als pazifistisch bekannten Amish angekreidet wird. Weil er handwerkliche Fähigkeiten hat (er ist Schreiner), genießt er in der Gemeinschaft dennoch eine gewisse Achtung.

Ford hält Kontakt zu seinem Partner im Polizeidienst. Durch ihn kommen Sommer und Glover schließlich doch auf seine Spur. Sie suchen das Amishdorf auf, um ihn umzulegen. Ford tötet Glover, indem er ihn in ein Silo lockt und das Getreide auf ihn herabprasseln läßt. Sommer nimmt McGillis und Haas als Geiseln, aber Ford zwingt ihn zur Aufgabe, weil die Amish, die Zeugen der Auseinandersetzung geworden sind, es ihm unmöglich machen, den Geiseln etwas anzutun. Ford kehrt nun nach Philadelphia zurück, obwohl sich eine Liebesbeziehung zu McGillis entwickelt hat. Sie wird nun vermutlich Godunov heiraten – die Welt der Amish gerät nicht aus den Fugen.

Hier funktioniert die Konfrontation von unterschiedlichen Kulturen sehr gut. Vom Glauben der Amish, der sie zu ihrer Lebensweise gebracht hat, erfährt man allerdings wenig. Sie wirken einfach verschroben. Wie ich lese, hatte Weir massive Schwierigkeiten, die Amish-Kulisse halbwegs authentisch darzustellen, denn diese Leute weigerten sich konsequent, an dem Film mitzuwirken. Am überzeugendsten ist noch der tischlernde Ford, denn dieses Handwerk hat er tatsächlich mal erlernt. Es bleibt ein für mich gelungener Polizeifilm, an dem ich auch schätze, daß er sehr spannend geworden ist, ohne daß dazu die üblichen Schießereien und Autoverfolgungsjagden gebraucht werden. Und die Amish-Umgebung, auch wenn sie nur nachgeahmt ist, macht ihn zu einem unkonventionellen Erlebnis.
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