Thema: Filmklassiker
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Alt 05.11.2022, 07:12   #167  
Peter L. Opmann
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„Stadt in Angst“ (1955) hat etwas von einem Western – so habe ich den Film jedenfalls ursprünglich wahrgenommen. Er spielt allerdings etwa zu der Zeit, als er gedreht wurde. Verschlafene Nester im mittleren Westen der USA sahen da wohl immer noch wie Westernstädte aus, abgesehen davon, daß der Hufschmied durch eine Tankstelle ersetzt war. Außerdem gibt es ein klassisches Westernmotiv: Ein Fremder kommt in die Stadt und sieht sich um. Und der Film hat auch die Lakonie vieler Western. Sein Thema paßt aber nicht ins Genremuster. Es geht um den Umgang von Amerikanern mit im Land lebenden Japanern im Zweiten Weltkrieg, nach dem Angriff auf Pearl Harbor.

In dem Städtchen Black Rock am Rand der Wüste hält der Zug, was so gut wie nie vorkommt. Es steigt ein älterer Mann aus, dem ein Arm fehlt (Spencer Tracy). Die Bewohner fragen sich sofort: Was will dieser Fremde hier? Tracy nimmt sich ein Zimmer im Hotel; er weiß noch nicht, wie lange er bleiben wird. Dann rückt er damit heraus: Er sucht den Japaner Komako. Ein Rancher (Robert Ryan), der offenbar die Stadt beherrscht, erklärt ihm, Komako sei im Zweiten Weltkrieg in ein Lager gekommen, mehr wisse man nicht. Der Japaner sei seitdem nicht mehr gesehen worden. Tracy will trotzdem Nachforschungen anstellen. Nachdem ihm niemand dabei helfen will, manche sogar – vergeblich – versuchen, ihn einzuschüchtern, erklärt sich eine junge Frau schließlich bereit, ihm ihren Jeep zu vermieten. Damit fährt Tracy zu der Farm, die Komako bewirtschaftete.

Sobald der Besucher weg ist, beraten die Städter aufgeregt, was zu tun ist. Die meisten wollen ihn umbringen, damit er keinen Ärger machen kann. Aber viele sind zu feige, zur Tat zu schreiten. Tracy findet inzwischen heraus, daß Komakos Farm zerstört ist. Auf der Rückfahrt in die Stadt versucht ein Autofahrer, den Jeep von der Straße abzudrängen. Tracy überlebt jedoch. Im Saloon der Stadt macht ein Mann (Ernest Borgnine) einen weiteren Versuch, Tracy zu beseitigen. Er provoziert ihn und hofft, ihn dann quasi in Notwehr töten zu können. Tracy bleibt aber ruhig und überwältigt Borgnine schließlich mit seinem einen Arm. Nun möchte er doch lieber die Stadt verlassen, aber Ryan und seine Leute haben dafür gesorgt, daß er nicht wegkommt. Niemand wird ihn irgendwohin fahren oder ihm ein Auto geben. Alle Nachrichten, die er senden wollte, haben ihre Empfänger nicht erreicht. Der Sheriff will zwar Übergriffe auf ihn unterbinden, aber er wird kurzerhand abgesetzt, und ein Mann von Ryans Gnaden wird neuer Sheriff.

Schließlich wollen Leute, die Tracy wohlgesonnen sind, ihn in Sicherheit bringen. Es kommt zum Showdown zwischen Ryan und Tracy. Durch eine Brandbombe, die Tracy gebastelt hat, fängt Ryan Feuer und wird kampfunfähig. Der abgesetzte Sheriff stellt die Ordnung wieder her und nimmt Ryan und seine Leute fest. Es stellt sich heraus, daß Tracy im Krieg zusammen mit Komakos Sohn gekämpft hat. Er ist gefallen; Tracy wollte dem Vater einen Orden bringen, den er erhalten hatte. Doch Komako wurde nach dem Überfall auf Pearl Harbor von einigen Städtern gelyncht.

Regisseur John Sturges ist tatsächlich vor allem für seine Western bekannt („Zwei rechnen ab“). Man könnte sich den Film mit einigen Änderungen auch als Adult Western vorstellen. Aber jedenfalls ich kann mir Spencer Tracy nicht als Westerndarsteller vorstellen. Als Einarmiger sollte er vermutlich auch Westernklischees entgegenwirken. Der Film ist zudem etwas vielschichtiger als Western. Da sind Stadtbewohner meist eine einheitliche Gruppe. In der Regel haben sie Angst vor Bedrohung, vielleicht gibt es einen Mutigen. Hier werden sie sehr unterschiedlich charakterisiert. Viele tanzen nach Robert Ryans Pfeife, aber manche sind Tracy gegenüber so feindselig eingestellt wie Ryan, manche machen mit, weil sie nicht wagen aufzumucken. Ein paar lassen verstohlen Sympathien für Tracy erkennen, andere sind auf seiner Seite und helfen ihm, wenn auch erst nach einigem Zögern.

Spencer Tracy selbst hat eine spezielle Art, einen grimmigen Gerechtigkeitssinn auszudrücken und dabei als Durchschnittsamerikaner zu erscheinen, dem man seine Beharrlichkeit gar nicht zutraut. Gerade durch die Verzögerung des Konflikts, die Bedrohung, die lange nicht manifest wird, erzeugt der Film große Spannung. „Stadt in Angst“ ist allerdings auch nur etwa 80 Minuten lang – über längere Zeit wäre diese Stimmung wohl nur schwer aufrechtzuerhalten gewesen. Interessant: Nur in Cannes wurde „Stadt in Angst“ als bester Film ausgezeichnet. In USA war er bei mehreren Wettbewerben und in verschiedenen Kategorien nominiert, gewann aber keine Preise.
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