Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 06.12.2021, 17:24   #1136  
God_W.
Captain Rezi
 
Benutzerbild von God_W.
 
Ort: Nähe Aschaffenburg
Beiträge: 19.402
Vorab sei kurz erwähnt, dass in dieser Besprechung vielleicht einige heute (zum Glück!) nicht mehr gebräuchliche Worte vorkommen, die beleidigend und diskriminierend, vor allem Afro-Amerikanern gegenüber, zu verstehen sind. Sie waren damals diskriminierend und beleidigend, und sind es auch heute noch, aber zu der Zeit, in der das Buch spielt (amerikanischer Bürgerkrieg) war deren Gebrauch leider gang und gäbe. Es liegt mir fern irgendjemanden zu beleidigen oder zu diskriminieren!



Vom Wind verweht (Margaret Mitchell)



Weltliteratur und Pulitzer-Preisträger, aber auch Meisterwerk? Aber sowas von! Aber mal ganz von vorne. Wie kommt man überhaupt dazu, sich so einen 80 Jahre alten Schinken aus dem Regal zu greifen? Da gibt es der Gründe verschiedenerlei. Grundsätzlich lese ich immer mal wieder gerne klassische und/oder historische Stoffe, als Kind habe ich „Fackeln im Sturm“ geliebt, Andreas Nohl ist mir schon häufiger positiv als Übersetzer aufgefallen (Dracula fand ich sehr gelungen, in seine Dschungelbuch-Adaption habe ich mal kurz reingelesen, schaut auch sehr gut aus), die wunderhübsch gelungene Hardcover-Ausgabe von Kunstmann in blauem Leinen mit Lesebändchen hat mich direkt angesprochen, den Trailer zur vermeintlichen Schmachtschmonzette mit Clark Gable habe ich schon oft gesehen, aber trotz meiner Cineasten-Gene und einigen Oscars für den Streifen, habe ich mich ob der befürchteten Schnulzigkeit bislang noch nicht rangetraut. Das wollte ich endlich mal ändern, einfach um die Bildungslücke zu schließen. Zuvor lese ich allerdings gerne die Werke, die solchen Klassikern zugrunde liegen, wodurch ich mich schon länger mit dem Gedanken umtrieb den 1.322-Seiten-Wälzer in Angriff zu nehmen. Last but not least wartet in der „Entenhausener Weltbibliothek“ eine Adaption des Stoffes auf Sichtung, natürlich mit Donald und Daisy in der Hauptrolle, die sicherlich lustiger daherkommt, wenn man das Original kennt. Damit hätten wir also wieder den Bogen zu den Comics geschlagen.

Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich selten dermaßen von einem Werk überrascht wurde wie von „Vom Wind verweht“. Selbstredend ist das eher meiner unqualifizierten, vorab gefassten, von Vorurteilen geprägten Einstellung zu der Geschichte geschuldet, als dem wunderbaren Stück Literatur, das es nun mal ist. Da schreibt eine junge Frau in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen umfassenden Roman über die Jahre vor, während und nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, und setzt in den Mittelpunkt der Geschichte eine „Heldin?“ – hmmm… falsches Wort. Sagen wir – weibliche Hauptfigur wie sie narzisstischer, selbstsüchtiger und eigennütziger kaum sein kann. Gegen Scarlet O’Hara ist John Constantine ein geradezu generöser, aufopferungsvoller, liebenswerter Gutmensch! Knallhart, berechnend und immer ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht intrigiert sich das verzogene Gör durch die Wirren dieser für die Nation so einschneidenden Zeit. Das macht sie dermaßen kühl und berechnend, dass man sich geradezu diebisch freut, wenn ihre hinterlistigen Pläne mal wieder krachend scheitern, sie zum Beispiel nach einer Trotz- und Neid-Heirat plötzlich mit einem Kind dasteht, welches sie selbst kein bisschen leiden kann und nur als störendes Anhängsel empfindet. Spätestens an dem Punkt müsste jede Mutter (und auch die meisten Väter) jegliche Sympathie für die Protagonistin erloschen sein.

Überraschenderweise ist es dennoch faszinierend und ungemein fesselnd ihren weiteren Werdegang mitzuerleben. Die Irrungen und Wirrungen, die sie teils besteht und beiseite räumt, ihre Erfolge und ihr Scheitern, sowohl im privaten als auch im finanziellen Bereich, all das ist ungemein packend geschrieben. Am herausragendsten ist es jedoch, wie die Autorin ein ganzes Zeitalter, seine Gesellschaft, deren Umbruch und die schrecklichen Kriegs- und Nachkriegsjahre aufzeichnet, ohne uns auch nur an einer Schlacht teilhaben zu lassen. Hier liegt der Fokus auf den Menschen. Ob auf dem Land oder in der Stadt, ob reich oder arm, ob Herren oder Sklaven. Bis ins letzte Detail wird aufgezeigt mit welchen Widrigkeiten die Menschen, die nicht an der Front zugange sind, tagtäglich gegen Hunger und Verzweiflung zu kämpfen haben.

Politische Verflechtungen, Sklaverei und deren offizielle Abschaffung, Gründung und Hintergründe des Ku Klux Klan, wirtschaftliche Herausforderungen, Aufstieg und Niedergang großer und kleiner Anwesen und Familien. Ein durchweg faszinierendes Gemälde einer vergangenen Zeit.

Ich habe oft nicht so viel Zeit zum Lesen, wie ich gerne hätte, weshalb ich mir bei Werken von solchem Umfang ab und an auch mit einem Hörbuch behelfe, sofern verfügbar. Wenn ich in der Leseecke sitze, oder im Bett liege, oder Arbeitspause habe wird gelesen, wenn ich im Auto unterwegs bin, oder mit dem Hund eine Runde mache wird weiter gehört. Bei vom Wind(e) verweht war das ganz spannend, denn das Hörbuch welches ich aufgetan habe wird von Ulrich Noethen wunderbar vorgetragen, selten etwas Besseres gehört, basiert aber auf der alten Übersetzung von Martin Beheim-Schwarzbach. Ich muss sagen, dass mir beide Varianten wirklich sehr gut gefallen, insgesamt aber die Neuübersetzung von Andreas Nohl und Liat Himmelheber deutlich die Nase vorne hat. Warum? Erstmal ist die neue Übersetzung ungekürzt. Die alte war jetzt zwar auch nicht um signifikante Stellen erleichtert worden, aber hier und da wurde mal ein halber Satz oder eine Phrase ignoriert, jedoch nichts Wildes. Allerdings ist die Neuübersetzung wohl auch deutlich dichter an der Vorlage, was den Stil von Margaret Mitchell angeht, der war nämlich offenbar sehr „journalistisch“, also direkt, einfach und stringent gehalten, nicht so blumig wie es vor ihrer Zeit eigentlich üblich war. Die damalige Übersetzung ist da schon etwas lyrischer geraten, was schon direkt am Titel auffällt. Das gefällt mir zwar immer recht gut, ich möchte aber lieber die Arbeit der Autorin möglichst unverändert genießen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist natürlich die Frage des Umgangs mit der „Rassenfrage“ sag ich mal. Selbstverständlich wurde das in den 30er Jahren bei Übersetzungen gänzlich anders gehandhabt als heute, und gerade die angebliche „Romantisierung der Sklaverei“ wurde dem Buch ja des Öfteren vorgeworfen. Das kann ich so nicht bestätigen, denn ich denke da muss man deutlich unterscheiden, ob das Gesagte jetzt von einer Figur der Geschichte ausgeht, oder erzählerisch von der Autorin so vermittelt wird. Das ist ein gewaltiger Unterschied! Wenn ein Aufseher oder ein Ku Klux Klan-Mitglied abfällig und bösartig über „Nigger“ herzieht, dann passt das zu der jeweiligen Rolle. Das wurde damals so gesagt und alles andere wäre Verklärung und Verharmlosung einer schrecklichen Vergangenheit, deshalb sind solche Worte in beiden Versionen weiterhin vorhanden. Wenn sich ein Plantagenbesitzer die „gute alte Zeit“ in der die Sklaven fleißig für ihn gearbeitet haben zurückwünscht, dann passt das auch. Hauptanstoßpunkt waren aber sicherlich die Situationen, wenn sich ein Schwarzer die Zeit vor dem Krieg zurückwünscht. Wenn sich ein „privilegierter Hausnigger“ von den in der Hierarchie unter ihm stehenden „Feldniggern“ abgrenzt, dann kam das mit Sicherheit nicht selten vor, und auch wenn der Vergleich ein wenig hinkt, so kommt mir da direkt die Rolle von Samuel L. Jackson in Tarantinos „Django Unchained“ in den Sinn. Wenn sich schließlich manche dieser bevorzugt behandelten Haussklaven nach dem Sieg der Nordstaaten wünschen es würde alles beim Alten bleiben, weil sie immer gut versorgt wurden und man sich auch um sie gekümmert hat, wenn sie krank wurden oder Ähnliches, und gleichzeitig gegen die „freigelassenen Nigger“ schimpfen, dann mag das vielleicht schwer zu ertragen sein, aber es gab sicher den ein oder anderen Haushalt, in dem es diesen Menschen damals recht gut ging. Sich im Vergleich dazu in der Nachkriegszeit eine eigene Existenz aufbauen zu müssen, wenn Hunger, Kleidungsmangel usw. überall an der Tagesordnung waren, ist dann doch schon wieder nachvollziehbar.

Selbstverständlich war das mit Sicherheit nicht der Regelfall, und wer einen Eindruck davon bekommen möchte, in welche absolut unzumutbare Verzweiflung die Sklavenhaltung Menschen schwarzer Hautfarbe gestürzt hat, dem sei neben den popkulturell sehr bekannten Werken wie „Roots“ und „Onkel Toms Hütte“ auf jeden Fall „Menschenkind“ von Pulitzer-Preisträgerin Toni Morrison ans Herz gelegt. Ich bekomme noch heute Gänsehaut und einen Knoten im Bauch wenn ich nur daran denke, und die Lektüre liegt schon ein paar schöne Jahre zurück.

Um die Kurve zurück wieder zu kriegen: Das böse N-Wort findet in der Neuübersetzung quasi ausschließlich in persönlicher Rede von Personen, die nun mal so gesprochen haben Verwendung, oder wenn ein Absatz eindeutig von der Erzählung dieser Charaktere ausgeht, ansonsten ist zumeist von „Schwarzen“ die Rede. Viel wichtiger und lobenswerter ist aber der Umstand, dass auch die Sklaven im Gegensatz zur alten Übersetzung, jetzt nicht mehr wie dümmliche Legastheniker reden, die ständig den Satzbau durcheinanderhauen. Man kennt das ja aus vielen alten Filmen, egal ob da Schwarze oder irgendwelche Ureinwohner vertont wurden. „Ich mir haben getan weh, Missis“ und solche Satzbauwunder. Die Schwarzen konnten in dieser Zeit genauso normal reden wie jeder Andere, hatten aber einen besonderen Dialekt, der am Ende eines Wortes manchmal einen Buchstaben oder eine Silbe verschluckt. So wurde es im Original geschrieben, und so wurde es jetzt auch wiedergegeben, was viele dümmlich oder kleinkindlich klingende Passagen klar leserlicher gemacht, und vor allem den sprechenden Personen auch wieder eine gewisse Würde verschafft hat.

So, jetzt habe ich mich mit den Zeilen zu dem Buch wieder viel zu lange aufgehalten, sodass wieder keine Zeit bleibt etwas vom Stapel mit den gelesenen Comics zu rezensieren, aber das Werk von Frau Mitchell hat mich einfach dermaßen begeistert, da konnte ich nicht anders.

Den Film Vom Winde verweht habe ich mir im Nachgang natürlich auch angeschaut und ich kann durchaus verstehen, weshalb diese optisch prächtige und wahnsinnig üppig ausgestattete Großproduktion derart in die Geschichte eingegangen ist, aber die Hauptdarstellerin kommt leider viel zu sympathisch rüber und insgesamt fehlen viel zu viele unabdingbare Passagen und auch wichtige Personen aus dem Buch, als dass ich mehr als 8/10 Punkten geben könnte.

Dennoch will ich natürlich wissen, Ob Scarlett ihren Rhett schlussendlich doch noch bekam, also werde ich mir im Weihnachtsurlaub zusammen mit meiner Gattin auch noch den 50(!) Jahre später entstandenen TV-Vierteiler „Scarlett“ einverleiben. Hey, immerhin hat 007 da eine Hauptrolle!

Ach ja, für das Meisterwerk von Buch gibt es natürlich die vollen 10/10

VG, God_W.

Geändert von God_W. (06.12.2021 um 17:29 Uhr)
God_W. ist offline   Mit Zitat antworten