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Alt 06.10.2021, 17:28   #23  
God_W.
Captain Rezi
 
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The Unwritten – oder das wirkliche Leben 6: Tommy Taylor und der Krieg der Wörter



Was habe ich mich geärgert! Nicht über den Band an sich, sondern dass ich nicht genug Zeit hatte, um das Prachtstück in einem Rutsch durchzuziehen. Das hat ja fast schon körperliche Schmerzen bereitet, als ich gezwungen war die Geschichte nach knapp 190 Seiten aus der Hand zu legen und die letzten 50 Seiten erst am folgenden Tag verschlingen konnte!

Tommy ist mies gelaunt und ihn treiben Zorn und Rachegelüste, wie man schon am Ende von Band fünf mitbekommen hat. Jetzt ist es also so weit, er packt alles an Zauberkraft aus, was er in sich versammeln kann, und nimmt sich die Handlanger der Kabale zur Brust, um endlich herauszufinden, von wo aus die finstere Organisation operiert. Richie, Lizzy und Frankensteins Monster übernehmen dabei den eher körperlich betonten Part, wenn einer mal nicht mit der Sprache rausrücken will hilft ein Zauber weiter, um ins Oberstübchen der Tunichtgute einzudringen.

Auf diese Art kommen so langsam mehr und mehr Informationen zusammen, aber auch Tommys Kräfte schwinden rapide. Da hilft nur eins, der Glauben an die Geschichten muss genährt und gefestigt werden. Da kommt unser freundlicher Vampir mit seinem Geschick für Online-Nachrichten wieder ins Spiel. Je mehr Menschen er von der Existenz Tommys und seinem Kampf gegen das Böse überzeugen kann, je mehr darüber nachgedacht wird, je mehr die Leute darüber reden, umso mehr Energie und Macht fließt in die Geschichte und damit auch in Tommys Zauberkraft. Im Gegenzug aktiviert die Kabale all ihre Netzmitarbeiter. Da wird Tommy verleugnet, es werden Lügengeschichten und Schmutzkampagnen gestartet, alles, um den tapferen Streiter schlecht zu machen, runter zu ziehen und in Verruf zu bringen, denn das schwächt ihn ungemein, entzieht ihm all seine Macht. Bleibt Tommy und seinem kleinen Team dennoch genug Kraft, um einen letzten, entscheidenden Angriff zu wagen?

Ihr merkt, im Gegensatz zu den Vorgängern sprüht dieser immerhin 244 Seiten starke Band geradezu vor Action. Wer aber denkt, der Tiefgang und das feine Storytelling würden darunter leiden, der täuscht sich ganz gewaltig! Wir erfahren ganz viel über die Vergangenheit von Pullman und der Kabale, über den Leviathan und sein Dasein, über das Wesen und die Kraft von Geschichten und den bereits Jahrhunderte andauernden Kampf gegen deren Verbreitung. Dabei durchstreifen wir das mittelalterliche China, erleben wie der Spanisch-Amerikanische Krieg vom Zaun gebrochen wurde und besuchen Gutenberg höchstpersönlich. Sogar bis zu Gilgamesch gehen wir zurück, einem, wenn nicht gar dem ältesten bekannten Epos, die biblische Geschichte von Kain und Abel sehen wir hinterher mit anderen Augen und im Jahre 1740 müssen wir vor dem Hintergrund des schlesischen Krieges abgrundtiefes Grauen miterleben.

Welche Bedeutung Geschichten entwickeln können erfahren wir beispielhaft von Soldaten, die im ersten Weltkrieg ein sowohl trauriges als auch gefährliches und tragisches Dasein in den Schützengräben an den Rändern des Niemandslandes fristen. Ob es dafür eine literarische Vorlage gab weiß ich nicht, „Im Westen nichts Neues“ oder „In Stahlgewittern“ war es jedenfalls nicht. Nach einem bombastischen Herzschlagfinale switcht die Sichtweise für das letzte Heft nochmal auf die Gegenseite und wir erleben das Ganze nochmal im Schnelldurchlauf aus dem Blickwinkel eines kleinen Mitarbeiters im Netzwerk der Kabale des Ungeschriebenen. Schnell fand ich Zugang und Mitleid mit dem kleinen Befehlsempfänger, der mit großen Hoffnungen durch sein junges Leben geht, als einfacher Mitläufer und Ja-Sager aber keine großen Chancen bekommt. Er traut sich einfach zu wenig, und so wird stets über ihn bestimmt, welche Auswirkungen seine Taten haben versteht er noch nicht einmal. Ja, die Welt ist auch hier nicht Schwarz und Weiß, denn ein böser Mensch ist der junge Daniel Armitage sicher nicht.

Was für ein großartiger, breit angelegter Band, der allerlei spannende und auch verstörende Themen mit einbezieht, jedem Aspekt ordentlich Tiefe mitgibt und dennoch zu keinem Zeitpunkt überfrachtet oder langatmig wirkt. Die Story wird spannungsgeladen vorangetrieben und die Ausbreitung der Hintergründe zu keinem Zeitpunkt langweilig. Dazu die wechselnden, allesamt äußerst stimmigen Zeichenstile, du jeder Epoche, zu jeder Geschichte sofort differenziert erkennbar und stets aufwändig und stimmungsvoll in Szene gesetzt. Es ist einfach von vorne bis hinten eine Freude, für das Auge genauso wie vom Erzählerischen.

10/10

VG, God_W.
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