Nachdem ich das Publikum habe lange schmoren lassen, folgt hier meine Interpretation von Stieg Larssons
Millenium-Trilogie. Die Lagercrantz-Fortsetzungen lasse ich mal außen vor. Bei Larsson entwickeln sich Figuren, allerdings ziemlich subtil, so daß diese ihr Verhalten ändern; bei den Fortsetzungen handelt es sich bloß um ein Fall für Lisbeth Salander, die Meisterdetektivin. So primitiv hätte Larsson seine Serie nie fortgesetzt.
Natürlich habe ich nicht die Wahrheit mit Löffeln gefressen, aber meine Erklärung läßt einige Vorgänge im anderen Licht erscheinen. Außerdem paßt sie in das Schema feministischer Verweise, die gut das Bild von Larsson erklären. Wir sollten nicht vergessen, daß der erste Band im schwedischen Original "Männer, die Frauen hassen" heißt. Larsson nutzt dazu Wissen, das übersehen wurde, weil es von den 1970er Jahren bis vor wenigen Jahrzehnten üblich war, Männer per se aus feministischen Debatten auszuschließen. Es gab feministische Buchhandlungen, die männlichen Lesern kategorisch den Zutritt verweigerten. Dadurch ist dieses Wissen heute obskur und verfemt. Vieles gerät durch diese Barriere in einen blinden Fleck, der bei den meisten Interpreten unbemerkt bleibt; denn diese Leute sind sich des blinden Flecks nicht bewußt und so bleibt vieles rätselhaft. Es geht mir um einen Begriff, der einiges erhellt und eine neue Perspektive zuläßt.
Die Schlüsselszene dafür ist Mikael Blomkvists Gespräch mit Holger Palmgren über Lisbeth Salanders Vater, den kriminellen Zalachenko (die gibt es im zweiten Band der Romane sowie in beiden Filmfassungen). Palmgren sagt, daß Lisbeth Salanders Mutter ihren Namen aus Liebe zu Zalachenko von Sjölander in Salander geändert hat. Blomkvist raunt dabei gedankenverloren "Sala, Zala ...". Diese jeweils zwei Silben klingen überflüssig und kryptisch, dabei haben sie eine tiefere Bedeutung. Daß Sala ein konkretes Wort ist, ein exakter Begriff, wissen nur die wenigsten.
Um niemanden zu verprellen, verschwindet mein Beitrag nun hinter Spoilerkacheln.
Wer sich mit feministischer Literatur beschäftigt, stolpert nämlich über ein Buch, das zu seiner Entstehungszeit in diesen Kreisen sehr gefragt war. In Deutschland erschien die Übersetzung 1993 bei Zweitausendeins, 1995 bei dtv; im Original schon 1983.
Dort findet sich folgender Eintrag zu Sala:
Zitat:
Sala
Symbol der Jungfernschaft; der heilige Kirschbaum, unter dem die Jungfrau Maya den Buddha gebar. Es gibt eine vergleichbare christliche Legende von einem Kirschbaum, der in einem alten englischen Weihnachtslied, dem Cherry Tree Carol gefeiert und besungen wird. (Siehe Kirsche) Die weiblichen Qualitäten der Röte, Rundheit und Üppigkeit machten die Kirsche im Verein mit anderen roten Früchten - wie etwa Apfel und Granatapfel - überall zu einer der Göttin geweihten Frucht.
Barbara G. Walter: Das geheime Wissen der Frauen. Ein Lexikon, dtv 1995, Seite 942
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Lisbeth Salander ist nun keine Jungfer, sondern sexuell ziemlich aktiv. Walter raunt in ihrem Zitat gehörig und läßt das Wissen recht schleierhaft und mystisch. Deshalb folgt hier ein Verweis in andere Gefilde.
Denn ein Sala gibt es ebenfalls in der Landwirtschaft.
Es handelt sich dabei um (vor)antike Gottheiten des Ackerbaues, die etwas Mythisches mit dem Wachsen, Gedeihen der Saat und Verwelken, Vergehen des Pflanzlichen zu tun haben. Diese Gottheiten eines zyklischen Kreislaufs aus periodischem lebendig sein und schlafen oder tot sein, werden chthonisch genannt.
Zitat:
Vielfach sind Vegetationsgottheiten bereits durch ihren Namen charakterisiert, wie Sala, das "(Korn)mädchen" (hurritisch sala- "Tochter") (...)
Im Herbst, nach der Ernte, oder in Zeiten der Trockenheit ist der Vegetationsgott untätig -er versinkt in tiefen Schlaf (...).
Volkert Haas, Heidemarie Koch: Religionen des Alten Orients, Teil 1, Vandenhoeck & Ruprecht 2011, Seite 234
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Dabei kann der Schlaf auch so tief werden, daß er vom Tod kaum zu unterscheiden ist.
Ein Lexikon der Antike liefert mehr Hinweise darauf, wie diese zyklischen Gottheiten zu verstehen sind:
Zitat:
Chthonische Götter (...), im Gegensatz zu den himmlischen Mächten des Olymp (...) die geheimnisvollen Gewalten der Erdtiefe, deren düsteres Wirken der Grieche (...) mit ehrfurchtsvollem Grauen anerkannte. Einer älteren, vorhomerischen Schicht entstammend, von meist furchterregender Erscheinung (Hunde- und Schlangengestalt (...), bilden sie, getrennnt von der lichten Welt der Olympier, ein besonderes Reich mit eigenen, urtümlichen Ordnungen, die nicht selten eine antagonische Spannung zu den Superi aufklingen lassen (...).
An der stark ausgeprägten weiblichen Seite des Chthonischen vertreten sie den freundlichen Aspekt (...).
dtv Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag 1979, Spalte 1173f. Originalausgabe Alfred Druckenmüller Verlag Artemis 1975
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Dazu zählen der Unterweltgott Hades-Pluton und seine Frau Persephone, Demeter, Hekate, Hera, Hermes, Dionysos und die Erinyen. Die grausame Familie Salander/Zalachenko mit ihrem Wunsch, Familienmitglieder tot zu sehen, paßt gut in dieses Schema.
Lisbeth Salanders Wiederauferstehung aus ihrem Grab auf Zalachenkos Anwesen wird dabei zu einer chthonischen Rückkehr ins Reich der Lebenden. Das äsende Kitz auf ihrem Grab verstärkt in der Verfilmung dabei den mythischen Charakter ihrer Wiedergeburt. Im letzten Band der Trilogie wird ihr juristischer Prozeß zu einer symbolischen Rückkehr in die reale Welt.
Einmal bedankt sich Lisbeth Salander sogar bei der Richterin, als die ihre Gegner in die Schranken weist. Lisbeth Salander nähert sich dabei der bürgerlichen Welt an und gewinnt ein Vertrauen, das ihre notwehrmäßige Selbstjustiz aus purer Verzweiflung in die Schranken weist. Ihre weitere, vorsichtige Annäherung an staatliche Instanzen, ihr zaghaftes Tasten nach positiven Reaktionen auf ihr Verhalten - es wäre spannend gewesen, wie Stieg Larsson das in Szene gesetzt hätte.