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Alt 16.06.2015, 13:58   #14  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Kill Your Darlings, Teil II

Die Redewendung aus dem Titel ist eben das - eine Redewendung, eine Metapher, ein Sinnbild für etwas anderes. Sie wörtlich zu verstehen, das ergibt natürlich einen hübschen Kalauer; aber wenn alle Autoren sich daran hielten, löst sich der Effekt in Luft auf. Wenn Autoren ihre Figuren umbringen, muß das eine Bedeutung haben und im Rahmen der Geschichte Sinn machen. Charaktere sind erst dann "wirklich gestorben", wenn sie dann von der Bühne abgetreten sind - mit allen Konsequenzen.
Falls beliebte, wichtige Figuren oder gar der Protagonist ins Fadenkreuz gerät und mitten aus der Geschichte gerissen wird, kommt die Erzählung ins Schwanken. Sobald Marion Crane in Alfred Hitchcocks Meisterwerk Psycho (USA 1960) im Bates Motel unter der Dusche erstochen wird, kippt die Erzählung aus den klassischen Genremustern eines Hardboiled Noir Krimis heraus. Dem Publikum wurde mitten in der Vorstellung der Teppich unter den Füßen weggezogen, und jetzt suchen die Füße auf dem unvertrauten Terrain neuen Halt. Der Noir hat sich in einen Horror-Thriller verwandelt. Besonders das Kino der 1970er Jahre, das Kino der Post-Nixon-Ära nach Watergate und im Vietnamkrieg ist von solchen Brüchen geprägt.

Bis sich das Fernsehen solche Schocks erlauben konnte, dauerte es einige Jahrzehnte. Das hing auch mit dem Vorurteil zusammen, die "Glotze" wäre im Vergleich zur großen Kinoleinwand ein minderwertiges Medium. Als der Damm einmal gebrochen war, haben sich viele Serien daran versucht, dennoch haben nur wenige Fernsehgeschichte geschrieben.
Damit der Tod zu einer schmerzhaften Zäsur wird, muß dieser Verlust sowohl für andere Figuren als auch für das Publikum Konsequenzen haben. Das heißt, sogar abwesend wirkt der Tote auf das übrige Ensemble weiter.
Den Tod des Polizisten Dieter im Einsatz (Traffik) habe ich oben schon erläutert.

Ein Fanal der modernen Fernsehgeschichte bildet der Mord an D.C.I. David Bilborough in der dreiteiligen Episode Cracker: To Be a Someboy (Für alle Fälle Fitz: Kalte Rache) im Einsatz. Am Ende der zweiten Episode wird Bilborough von Albie Kinsella nach einer Jagd durch Manchesters Hinterhofstraßen erstochen. Die gesamte Wache hört über Funk mit, und kommt doch zu spät. Dadurch entsteht eine Dynamik, die weitere Tode und Verbrechen in den Reihen der Polizisten nach sich ziehen wird.
Rückblickend wird der erste Polizistenmord an DS George "Giggsy" Giggs durch das Liebespaar Sean Kerrigan und Tina Brien in der zweiten Folge zu einem Menetekel, einem bösen Omen. Bilboroughs Nachfolger, D.C.I. Charlie Wise aus Liverpool, folgt ihm schon im Laufe der Ermittlungen und trifft mit DS Jane Penhaligon, DS Jimmy Beck und Fitz an der frischen Leiche ein. Der Kleinkrieg zwischen Penhaligon und Beck eskaliert sprunghaft, als Beck Penhaligon maskiert vergewaltigt. Penhaligons bisheriger Bonus für ihre Beförderung bei ihrem Vorgesetzten hat sich in Luft aufgelöst, bei D.C.I. Wise muß sie wieder von vorn anfangen. Durch ihre Vergewaltigung erlebt sie eine Folge von Traumata: sie erlebt sich als Opfer einer Straftat (das hat Fitz ihr ständig unter die Nase gerieben), niemand glaubt ihr (außer Fitz) und in der Wache begegnet sie dem Täter auf Schritt und Tritt. Sobald Penhaligon Beck entlarvt hat, gerät sein Selbstbild ins Trudeln, Beck versucht, sich durch einen provozierten Unfall umzubringen, was mißlingt. Weil Penhaligon Beck eine Lektion erteilen will, dringt sie in seine Wohnung ein, überfällt ihn und nötigt ihn mit dem Lauf eines Colts.
Beck landet in der Psychiatrie. Penhaligon kann aufatmen.
Daß der entlassene Beck zurückkommt, trifft Penhaligon in der Magengrube: sie muß sich übergeben. Danach legt sie sich optisch eine Rüstung an, bindet ihre Haare streng und schützt sich durch eine dicke Jacke. Es gelingt ihr, D.C.I. Wise zu übertölpeln, indem sie einen gemeinsamen Einsatz mit Beck vorschlägt, bei dem sie Beck überführen will. Doch Beck wittert die Falle und zerschmettert das Aufnahmegerät. Zur Rache ignoriert Penhaligon Becks Hilferufe und läßt ihn krankenhausreif prügeln.
Als der Mörder David Harvey durch seine Frau Maggie Harvey, die sämtliche Verbrechen auf sich nimmt, entlastet wird, spürt Beck seine Machtlosigkeit. Sein Zorn und der Wunsch, seinem Ideal eines guten Polizisten aus der Nachbarschaft gerecht werden zu können, treiben ihn in eine verzweifelte Art der Selbstjustiz. Er verschleppt David Harvey und springt mit ihm vom Dach des Ramada Inn in den Tod, aber nicht, ohne Penhaligon in den letzten Sekunden seines Lebens zu gestehen, daß er ihr Vergewaltiger gewesen ist.

Ein anderes Beispiel aus einem anderen Medium zeigt, daß diese Konsequenzen nicht immer realistisch sein müssen: Alan Moore, Stephen Bissette, Rick Veitch und John Totleben haben Mitte bis Ende der 1980er einen neuen Maßstab gesetzt, indem sie die Prämisse von Swamp Thing konsequent zu Ende gedacht haben.
Aus dem Forscher Alec Holland ist durch das Experiment ein vegetativer Symbiont aus Sumpfpflanzen geworden.
Zum einem weiteren Wendepunkt im Leben des Sumpdings kommt es, als Swampie auf einen Überlebenden des nuklearen Unfalls des Reaktors Three Mile Island trifft. Moore & Co. nutzen die historisch verbürgte Katastrophe in Harrisburg, Pennsylvania (28. März 1979), um das klassische Schema von gutem Superhelden und Superbösewichten aus dem Takt zu bringen - siehe das dritte TPB The Curse (Swamp Thing #35-42/1985)
Denn eigentlich ist Nukeface ein netter Mann, der gern Leuten hilft, die etwas Unterstützung brauchen. Leider ist Nukeface so stark verseucht, daß alle, denen er geholfen hat, kurz darauf verstrahlt zugrundegehen.
Und zunächst sieht es so aus, daß sogar Swamp Thing gegen Nukeface machtlos ist, denn er verkümmert auch. Swampie braucht einige Ausgaben, bis er kapiert, daß er sich regenerien kann. Nach und nach macht er sich mit seiner Fähigkeit vertraut und spürt irgendwann, daß er mehr kann, als sich bloß zu regenerieren: Durch diese Fähigkeit kann er Raum und Zeit überwinden. Bis er sich damit vertraut gemacht hat, bis er diese Fähigkeit als Teil seines Ichs anerkannt hat, durchläuft er eine langwierige und oft auch schmerzhafte Transformation.

Geändert von Servalan (14.02.2020 um 16:19 Uhr)
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