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Alt 03.11.2014, 15:59   #11  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Folge um Folge

Bei einem bestimmten Limit sind die geistigen Kapazitäten ausgeschöpft, und dann mistet das Unterbewußtsein rigoros aus. Was nicht mehr abgerufen wird, verschwindet im Vergessen. Damit etwas als Fortsetzung einer Geschichte verstanden werden kann, muß die nächste Folge in einer überschaubaren Frist erscheinen, am besten in einem festen Rhythmus, der sich den regulären Schemata orientiert (Tage, Wochen, Monate).
Solange kein verläßlicher Rhythmus gewährleistet ist, verbieten sich größere Bögen. Der Vertrieb wird deshalb zum Nadelöhr, an dem sich das Schicksal eines Stoffes entscheidet. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß die klassische Dramaturgie, bei der jede wichtige Information dreimal aufgerufen werden muß, sich aus solchen Erfahrungen entwickelt hat. Falls sich mal sein Sender oder eine Zeitung aus einem syndikalisierten Strip ausgeklinkt hatte, mußte das Werk trotzdem verständlich und die Handlungen der Figuren nachvollziehbar bleiben. Außerdem konnte es passieren, daß jemand mal eine Folge verpaßt oder versäumt hat.
Comicfan Groucho Marx erwähnt in den Briefen* an seine Tochter Miriam, die den Strip Tillie the Toiler geschätzt hat, welche Plackereien er auf sich genommen hat, um in der Provinz die richtigen Zeitungen zu ergattern. Solange eine verläßliche Fortsetzung Glückssache ist, bleibt es bei kurzen Geschichten und Gags.

Früher hat der Kiosk eine gewisse Verläßlichkeit garantiert, heute können das die Autoren in Blogs oder online selbst organisieren. Aus der Sonntagsseite hat sich allmählich das frankobelgische Album entwickelt (48, 56 oder 64 farbige Seiten), das eine komplette Geschichte bietet. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg galten solche Veröffentlichungen als Auszeichnungen für Werk und Autor, mittlerweile hat sich dieser Effekt auf Gesamtausgaben (Intégrales) verschoben. Falls die Serie zu umfangreich ist, bieten sich auf mittlerer Ebene Zyklen von zwei bis sechs Folgen an (selten mehr). Für DVD-Boxen von Fernsehserien gilt das gleiche, denn auch dort finden sich Komplettboxen.

Unter dieser Voraussetzung läuft die Dramaturgie anders ab: zuviel könnte negativ empfunden werden. Eine bombastische Effektorgie sorgt im Kino für anderthalb bis zwei vergnügliche Stunden. Sobald sich die Geschichte episch über sechs oder mehr Stunden ausbreitet, muß darauf geachtet werden, daß sich Effekte nicht vorzeitig abnutzen und im Finale bloß noch ein müdes Gähnen ernten. Weniger ist mehr.
Zudem muß das Fandom berücksichtigt werden, das sich in die Werke vergräbt und Deutungen zutage fördert, von denen die Autoren nicht einmal geträumt haben. Jede bessere Serie plant von vornherein eine wiederholte Sichtung ein, bei der Details eine ungeheure Wirkung entfalten können. Diese Details sollen zwar entdeckt werden, aber nur von den wenigsten beim ersten Mal. Bestimmte Zusammenhänge werden erst nach und nach deutlich, und wenn die Geschichte gut ist, verdichten sie sich zu etwas Schlüssigem, das im Gedächtnis haften bleibt.

In The Wire läßt sich ein üppiges Bündel solcher Elemente entdecken, die sich als Knoten durch die Geschichte ziehen und sich zu einem Netz verbinden. Ständig werden dort Figuren von anderen Figuren belehrt, was wie geschrieben wird, und bestimmte Sätze wandern über die Staffeln von einem Mund zum anderen ("What's wrong with this picture?" / "Was stimmt nicht an diesem Bild?").
Den Insiderwitz der Serie schlechthin bilden die drei Charlies, von denen immer mal wieder geredet wird, eine Hommage an die Stimme des ominösen Charlie, der seine drei Engel losgeschickt hat.
Den ersten, den Gentleman-Trickdieb Charlie Smollet, erwähnt Kima Greggs bei ihrem Damenabend, als sie gefragt wird, warum sie Polizistin geworden ist. In der Hafenstaffel läuft der Grieche, der gesuchte Kingpin an ihrem Wagen vorbei, als sie das Parkhaus verläßt - ihr geht also wieder ein Charlie durch die Lappen.
Als die Schauerleute das Stadtgefängnis verlassen, erwähnt einer von ihnen Charlie Valchek, den älteren Bruder des Polizeioffiziers Stan Valchek.
Als Oldface Andre nach seinem Knastaufenthalt zu Prop Joe flüchtet und ihn darum bittet, ihn vor Marlo Stanfield zu retten, druckst der Don der Eastside verlegen herum und verrät den Flüchtling an Chris und Snoop. Spätestens bei Prop Joes Gespräch über Brother Mouzone dürfte klar sein, daß Joseph Stewart genauestens unterrichtet ist und buchstäblich jeden kennt. Gegenüber Stringer Bell erwähnt er nun Charlie Sollers, der in den sechziger Jahren Drogen wie Wasser verkauft habe. Keine Gangsterattitude, keine Vorstrafen, er hat nur für zehn Cent gekauft und für die doppelte Summe verkauft. Wenig später hört das Publikum, wie Spiros Vondas in der Hafenkneipe einen ähnlichen Spruch vom Stapel läßt. Und von Spiros bekommt Prop Joe seinen Nachschub. In der letzten Folge der Hafenstaffel sagt Spiros lächelnd, die Polizei wisse nur von einem Spiros und das sei nicht sein Name. Und der Grieche bemerkt süffisant, er sei ja kein Grieche.
Marlo Stanfield sorgt letztlich dafür, daß dieses Wissen von den Behörden nicht mehr ermittelt werden kann. Der geschichtsbewußte Prop Joe wäre der einzige gewesen, der Spiros hätte enttarnen können, aber Marlo bringt ihn um.

* in Miriam Marx Allen (Hrsg.): Love, Groucho. Letters from Groucho Marx to His Daughter Miriam, Faber and Faber 1997.

Geändert von Servalan (01.04.2015 um 13:29 Uhr)
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