Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 30.10.2014, 15:22   #10  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
Benutzerbild von Servalan
 
Ort: Südskandinavien
Beiträge: 10.347
Blog-Einträge: 3
Standard Es gibt mehr als eine Art, eine Geschichte zu erzählen

Geschichten erzählen will gelernt sein.
Geschichten genießen zu können, das muß geübt werden.
Je länger und komplexer eine Geschichte ist (oder werden soll), desto schwieriger wird es, sie so zu gestalten, daß das Publikum nicht die Lust verliert, daß der roten Faden nicht aus dem Blick gerät und sich die Geschichte in ein unübersichtliches Gewirr von Anekdoten zerfasert, oder das Geschriebene irgendwann als Fragment endet, als gescheiterter Entwurf.
Dabei wächst der Schwierigkeitsgrad exponential: Eine doppelt so lange Geschichte, erfordert den vierfachen Einsatz; eine zehnmal lämgere Geschichte den hundertfachen Einsatz.
Jede künstlerische Aktivität verlangt eine gewisse Disziplin, und wie bei den Artisten unter der Zirkuskuppel gilt auch hier der Grundsatz: Weil dem Publikum etwas leicht erscheint, heißt das noch lange nicht, daß das Kunststück mühelos von der Hand gegangen ist. Blut, Schweiß und Tränen über mißlungene Ansätze bleiben am besten verborgen, denn die gehen das Publikum nichts an.
Über weite Strecken der Geschichte führte der Prozeß von kürzeren zu längeren Geschichten, wobei das eine das andere nicht ausschließt, schließlich läßt sich beides kombinieren. Eine vor sich hinwuchernde Geschichte kann über kurz oder lang außer Kontrolle geraten, was verhindert werden muß, und geschieht am leichtesten durch Klammern, die einen Rhythmus vorgeben.

In den mittelalterlichen Novellenzyklen Decamerone und Heptameron gliedert die Rahmenerzählung die Folge der einzelnen Novellen, wobei jeder Tag unter einem bestimmten Motto steht, daß der König oder die Königin des Tages vorschlägt. Wie in einem Gemälde der Zeit richtet sich die Größe der Personen nicht nach ihrer physischen Gestalt, sondern nach ihrer Macht und ihrem Einfluß. Der Duktus ist trotz der vermeintlich lockeren Atmosphäre autoritär, verbindlich und wird in einen nachgereichten Kommentar offensichtlich, der festlegt, welche Interpretationen legitim sind und welche nicht.
Die Novellen liegen wie eine zweite Schicht über dem Rahmen.
Moderne Erzähler können gut und gern auf solche unbeholfen wirkenden Konstruktionen verzichten: Verschiedene Spannungsbögen lassen sich nämlich in story arcs staffeln, darüber hinaus kann es Leitmotive geben, die subtil über den gesamten Verlauf von verschiedenen Figuren aufgegriffen und variiert werden, wodurch sich voneinander abweichende Ansichten gegenseitig kommentieren. Geschichte und Rahmen verflechten sich dadurch zu einem Zopf, in dem zwei oder mehr Ebenen ineinander über gehen.

Wieviel Aufmerksamkeit eine Geschichte bekommt, hängt davon ab, wie sie erzählt wird. Leider halten sich bildungsbürgerliche Vorurteile hartnäckig, und danach wird alles, was Kinder und Leute ohne Abitur verstehen können, kategorisch als minderwertig abgetan, als billige Massenware verachtet. Den Lackmustest bildet dabei der Unterschied zwischen E und U. (Was ich jetzt an Begriffen erwähne, läßt sich bei Gustav René Hocke nachlesen, in dessen Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur.)
Grob gesehen, lassen sich zwei Arten von Geschichten unterscheiden: Die eine erzählt linear; erlaubt dem Publikum, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren; und schließt mit einem definitiven Ende. Schon in der Antike wurden solche Geschichten erzählt; allgemein werden sie als Griechischer Roman kategorisiert. Hocke spricht vom attischen Roman (also einem Roman, wie er in Athen erzählt wird), dem konservativen Modell (U).
Das Gegenmodell bildet der asianische (sic! nicht asiatische!) Roman, der sich in endlosen Abschweifungen verliert, die Sprache zum Delirium oder zum Tanzen bringt und sich keinen Deut um Konventionen schert (E).

Das ist die Theorie, und die läßt sich zurechtbiegen.
Die Praxis ist komplizierter.
Was gestern als unversöhnlicher Gegensatz gegolten hat, läßt sich heute geschmeidig als eine Einheit fassen.
Schrittmacher im Comicbereich dürften im Vereinigten Königreich die Miracleman/Marvelman-Zyklen von Alan Moore und Neil Gaiman gewesen sein, des weiteren der Swamp Thing-Zyklus von Alan Moore, Rick Veitch und John Totleben, sowie Cerebus von Dave Sim und Gerhard.

Geändert von Servalan (01.04.2015 um 13:25 Uhr)
Servalan ist offline   Mit Zitat antworten