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Alt 08.10.2014, 16:03   #6  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Ein alter Lateiner, oder: Die Sprüche des Horaz

Während er zum Lehrer umschult, sagt Ex-Polizist Roland Przybylewski (in The Wire Staffel 4) seiner Kollegin, der Lehrerin Grace Sampson, daß seine Schüler gerade dann lernen, wenn sie glauben, sie würden nicht lernen. Dabei läßt er sie mit Würfeln zocken, ein vermeintliches Glücksspiel - wie sich herausstellt, die beste Methode, seinen Schülern die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu vermitteln. (Mein alter Mathelehrer hätte ihm da zugestimmt, allerdings zog der Roulette vor.)

Für meine Begriffe wird heute ein Schmalspurkonzept von Unterhaltung verwendet, das sich krampfhaft bemüht, ja niemanden zu verschrecken oder zu (über)fordern. Das ewige Schielen auf Zielgruppen, das Zutodetesten im Marketing und das nach dem Munde reden, beleidigt meiner Meinung das Publikum. Entsprechend minderwertig ist dann das weichgespülte Zeug, das jeder (möglichen und unmöglichen) Kontroverse aus dem Weg geht und sofort aufgibt, falls etwas nicht auf Anhieb zum Publikumserfolg wird. Diese konzertierten Aktionen von Managern, Buchhaltern, Marketing und Public Relations-Leuten tragen zur allgemeinen Verflachung bei, und dann wundern sie sich über das schwindende Interesse ihre Publikums (siehe die Schwarzrückenpest bei den französischen Alben).
Leider sitzen diese Leute an den Schaltstellen und bestimmen so die Etats. Daß gerade ihr risikoscheues Verhalten in den Abgrund führt, diese Einsicht scheinen sie gut zu verdrängen.

Franquin hat sich darüber lustig gemacht, indem er für (die Zeitschrift) Spirou den Antityp schlechthin erfunden hat: Gaston Lagaffe.

Die meisten der mittlerweile klassischen Autoren, von Hergé bis zu Carl Barks und darüber hinaus, haben sich als Handwerker (nicht als Künstler) verstanden, die gute Qualität bieten wollten. Auch wenn die Alben, Hefte und Magazine in erster Linie für Kinder (mit einem hohen Anteil aus den unteren Schichten der Bevölkerung) gedacht waren.
Und dieser Anspruch fand sich in den "guten Comics" wieder. (Inwieweit das mit den Agendas von Jugendorganisationen wie den Pfadfindern zusammenhängt, wäre übrigens mal eine akademische Studie wert.)

Dabei haben diese guten Handwerker sich lediglich an ein bewährtes Rezept gehalten, das von Horaz stammt, aus seiner Ars poetica (dt. Dichtkunst). Davon gibt es zwei Versionen:
"Prodesse et delectare" - dt. "Nützen und erfreuen", beziehungsweise:
"docere, movere, delectare" - dt. "Belehren, bewegen, unterhalten".

Diese Klassiker sind deswegen so gut, weil sie nicht nur unterhalten, sondern nebenbei eine Menge Wissen über die Welt vermitteln, über Land und Leute. Selbst wenn das bedeutete, daß möglicherweise ein Teil des Publikums die Finessen nicht mitbekommt. Aber gerade diese Vielschichtigkeit hat den klassischen Werken (der Populärkultur, wie das an den Universitäten genannt wird) eine Komplexität beschert, die sie zu All-Age-Werken gemacht hat. Die können auch gern von Erwachsenen gelesen und goutiert werden, ohne daß die sich schämen müssen.

Der Nürnberger Trichter, mit dem die Zöglinge (ich benutze hier bewußt ein altmodisches Wort) traktiert werden, führt meiner Erfahrung nur zum Bulimie-Lernen. Nach der nächsten Prüfung ist wieder alles vergessen.
Das beiläufige Aufschnappen von Wissen scheint mir da nachhaltiger (modernes Plastikwort), weil es nach und nach ein Geflecht bildet, das sich im Gehirn festsetzt.

Geändert von Servalan (01.04.2015 um 13:08 Uhr)
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