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Alt 20.05.2010, 02:06   #12  
Schlimme
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Bester Comic-Strip

"Liō" von Mark Tatulli (Bulls Press)
"Liō" ist einer der ungewöhnlichsten und intelligentesten Comic-Strips der letzten Jahre. Von vielen Seiten wird "Liō" als "beste Serie seit 'Calvin und Hobbes'" gehandelt. Der Vergleich kommt nicht von ungefähr: Die Hauptfigur beider Serien ist ein kleiner Junge, dessen Fantasie im Mittelpunkt steht. Anders als Calvin und Hobbes agieren die Figuren in Liōs Welt aber durchweg ohne Worte. Der Titelheld ist schon sehr anders als seine Altersgenossen: Autor Mark Tatulli entwirft eine Szenerie, in der Liō auf Du und Du mit Monstern, schleimigem Getier und anderen Gruselgestalten agiert und die ganz eigenen erzählerischen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Man liest diesen Strip nicht nebenbei, schmunzelt und macht weiter im Programm. Liō zwingt den Leser zum genaueren Hinsehen und durchaus auch zum Mitdenken. Und doch steht am Ende einer jeden Folge ein klassischer Comic-Gag – das Bekenntnis zur Comicstrip-Tradition ist gegenwärtig. Ungewöhnlich auch der Zeichenstil – kantig, modern, mit hohem künstlerischen Anspruch und unmittelbar wiederzuerkennen.

"Prototyp" / "Archetyp" von Ralf König (Frankfurter Allgemeine Zeitung / Rowohlt Verlag)
Ende September / Anfang Oktober 2008 / September 2009
Lange Zeit hat Ralf König private Geschichten aus homo- und heterosexuellen Wohn- und Schlafzimmern erzählt. Doch dann hat er mit einigen bissigen Cartoons auf den Streit um die Mohammed-Karikaturen reagiert (und 2006 dafür einen Max und Moritz-Spezialpreis bekommen). Das hat ihn zu neuen Fragestellungen in seiner Arbeit inspiriert. Plötzlich geht es ihm um das Religiöse – vor allem in seiner biblischen Ausprägung. Zuerst gab es einen eifernden Moses und einen toleranten, nicht sonderlich monotheistischen Gott. Dann folgte der grandiose Tageszeitungs-Strip um den "Prototyp" der Schöpfung, den schlichten Erdenkloß Adam. Als "Archetyp" folgte ein neuerlich Sodom und Gomorra beschwörender Noah nach. Das Erstaunliche an diesen Geschichten ist nicht, wie perfekt König die Bibel seinem witzigen Strich zu unterwerfen vermag, sondern wie er mit diesem Strich moderne Theologie betreibt, wie er uralte Schöpfungs- und Gottesfragen pointiert zuspitzt und humorvoll doch keineswegs blasphemisch Denkanstöße zu Gottesbild und Religionsausübung gibt. Vielleicht wird man eines Tages sagen, die aktuelle Reformation des Religiösen sei von einem Comic-Zeichner ausgegangen.

"Das variable Kalendarium" von Kat Menschik (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
Traditionell gesehen waren Zeitungs-Strips schon immer ein Feld für innovatives Erzählen, und wenn vereinzelte FAZ-Leser zum Auftakt von Kat Menschiks Serie monierten, "Das variable Kalendarium" würde eigentlich gar nichts erzählen, halten wir dagegen, dass dies zweifellos die Narration der Zukunft (oder zumindest eine Variante davon) ist. Eben diese Zukunft tarnt sich in Menschiks grafischen Festtafeln geschickt als Vergangenheit: pro Jahrestag drängen sich auf den Kalenderblättern viele Ereignisse aus den letzten Jahrhunderten. Im Einzelblatt kann man sich dann in der Frage verlieren, welche Geburtstage und Revolutionsvorkommnisse und Erfindungen erwähnt werden und vor allem, wie groß und in welcher Schrifttype und mit welchen Retro-Deko-Accessoires, alles natürlich Elemente eines Codes, um geheime Botschaften rüberzubringen. Geschichtsbetrachtungen sind nie neutral, damit wäre bereits eine Spur zu den verborgenen "Erzählungen" gelegt, mit denen dieses Kalendarium (eine wiederkehrende Freude in der morgendlichen Zeitungslektüre) seine Leser bedient.

Geändert von Schlimme (21.05.2010 um 02:31 Uhr)
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