Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 09.12.2008, 09:29   #285  
michidiers
Mitglied
 
Benutzerbild von michidiers
 
Ort: Oldenburg
Beiträge: 3.057
Nochmal aus gegebenen Anlass eine Betrachtung aus der Reihe. Eben darum, weil es so gut war und ich es hier nicht vorenthalten möchte:

Tardi – Die wahre Geschichte vom unbekannten Soldaten

33 Seiten, schwarz/weiss


Scheinbar ziellos irrt der namenlose, ständig von Kopfschmerzen gequälte Protagonist durch eine irreale, traumhafte Welt voller Gewalt, Sex und Aberwitzigkeit. Eine alptraumhaft Welt ohne Logik, voller Dekore, antiken Statuen und obzönen, enigmatischen Begegnungen. Nach und nach erkennt der Leser, dass der Protagonist ein Autor trivialer Schundromane ist und sich den Figuren seiner kranken Phantasien als Schriftsteller gegenübersieht.

Die letzte Seite, Szenenwechsel: Der Protagonist liegt am letzten Kriegstag nach einem Kopfschuss tödlich getroffen sterbend im schlammigen Schützengraben eines Schlachtfeldes in Nordfrankreich des Ersten Weltkrieges. Der Leser erkennt: seine alptraumhafte Reise ist die Agonie eines tödlich getroffenen unbekannten Soldatens des 1. Weltkrieges, dessen Körper jetzt im Schlamm zu verrotten beginnt. Das Vorstadium des tödlichen Ausganges seiner Kriegsteilnahme, in dem sich Lebenserlebnisse und Kriegserlebnisse in verzerrter Art und Weise miteinander vermischt haben…

Zwei Jahre später wird die inzwischen skelettierte Leiche eines unbekannten Soldaten geborgen und am Arc de Triompe in Paris zur letzen Ruhe gebettet. Autor hat erreicht, was er erreichen wollte: Der unbekannte Soldat hat für den Leser ein Gesicht bekommen, er tritt aus der Masse der Kriegstoten als Individuum heraus.

Ja, ein schwarz/weiß Kunstwerk in einer solchen Erzählform und dieser graphischen Umsetzung bekommt von mir eine klare 9,5/10 Punkten.
michidiers ist offline   Mit Zitat antworten