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Servalan 09.11.2015 14:02

Jenseits von Reclam: Klassiker entstaubt
 
Pflichtlektüren haben Nebenwirkungen. In der Schule darf sich niemand dem Stoff entziehen, schließlich ist der prüfungsrelevant. Die billigen Ausgaben für den Unterricht sind Arbeitsmaterialien, die nach Vorgabe von oben Kapitel um Kapitel durchexerziert werden und schließlich entsprechend abgenutzt aussehen - siehe auch die Klassiker-Comicadaptionen von Flix.
Lust bringt das nur den Wenigsten.

Einige lassen sich davon jedoch keineswegs abschrecken. Andere entdecken die günstigen Ausgaben später für sich wieder, stolpern zufällig über Second-Hand-Bücher, leihen sich die aus oder finden zufällig ein Exemplar am Straßenrand ("Umzug: zu verschenken!").
Geschmäcker sind verschieden.
Was dem einen gefällt, über das rümpft der nächste die Nase.
Dennoch bin ich mir sicher, daß die meisten den einen oder anderen Klassiker zu ihren Lieblingsbüchern zählen. Mich interessiert dabei, warum ihr diese Werke liebt, wie ihr zu ihnen gefunden habt. Manchmal sind die der Grund, sich später eine bessere, eine stabilere Ausgabe zu besorgen, möglicherweise mit Hintergrundmaterial oder Sammlerexemplare.

Infrage kommen dabei entweder die internationalen Klassiker aus den einschlägigen Buchreihen (Reclam, Penguin Popular Classics / Penguin Modern Classics, Wordsworth, J'ai lu oder folio). Außerdem sollten die Titel in der Schule, an der Universität oder anderswo regulär auf dem Lehrplan stehen.

Servalan 09.11.2015 14:34

Henry James: The Aspern Papers (1888)
 
Penguin Popular Classics [PPC], 137 Seiten
https://en.wikipedia.org/wiki/The_Aspern_Papers
http://www.gutenberg.org/files/211/211-h/211-h.htm

Manche Dinge ändern sich nie: Dichterwitwen und Gerüchte über angeblich versteckte Mauskripte von berühmten Werken gab es schon vor Stieg Larsson.

In der Erzählung fährt der Ich-Erzähler, ein Literaturwissenschaftler nach Venedig, weil er bei Miss Bordereau und deren Nichte ein Manuskript vermutet, das ihm zu einer Karriere an der Universität verhelfen könnte. Miss Bordereau war einmal die Geliebte des amerikanischen Dichters Jeffrey Aspern, dessen Liebesgedichte von Publikum und Kritik gefeiert wurden. Durch Tricks, Listen und Finten schleimt sich der Ich-Erzähler ein, um im Palazzo heimlich den Nachlaß zu durchforsten. Natürlich bekommen das die "Dichterwitwe" und ihre Nichte mit ...

An meiner Uni halten die Buchhandlungen einige Regale für fremdsprachige Bücher frei: eine Mischung aus Klassikern und den Pflichtlektüren für die Seminare des Semesters. Ähnlich wie LTBs können PPCs nicht gezielt bestellt werden, denn die Buchhandlungen müssen immer eine bestimmte Mindestmenge abnehmen, meist Sendungen mit 12-20 Exemplaren.
Deshalb habe ich regelmäßig dort gestöbert. Auf diese Weise habe ich mir nach und nach eine kleine Sammlung von englischsprachigen Klassikern im Original angelegt.

Henry James ist ein spezieller Fall aus meiner Sicht. Wenn er gut ist, mag ich ihn; und meiner Ansicht nach gelingt ihm das bei seinen kürzeren Werken am besten. James wurde in den USA geboren, zog aber später nach Groißbritannien, wo er sich unter anderem mit Joseph Conrad anfreundete. Seine berühmteste Geschichte ist The Turn of the Screw (1898, das unter mehreren deutschen Titeln erschien: Das Durchdrehen der Schraube, Die Unschuldsengel, Das Geheimnis von Bly oder Die Drehung der Schraube.)
The Aspern Papers ist in etwa so umfangreich wie The Turn of the Screw. James nannte das Format 'tale', heute wäre der Zusatz wohl 'Kurzroman', obwohl das altbackene 'Novelle' ebenfalls zutrifft. Das Manuskript von Aspern liefert einen MacGuffin für ein Katz-und-Maus-Spiel, das mich gefesselt hat.

Kein Wort zuviel. Ein Thriller ohne Leiche.

Peter L. Opmann 09.11.2015 14:35

Manchmal kommt mir das wie eine Schutzbehauptung vor: "Die Schule hat mir die Lust auf Klassiker verdorben."

Was eine Rolle spielen kann, ist, daß die Themen in der Schule völlig falsch vermittelt werden - ideenlos, unsensibel, nur mit Druck ("das habt ihr auswendig zu lernen").

War bei mir glücklicherweise nicht so. Die meisten meiner Deutschlehrer mochte ich. Die Schule hat mir Zugang zu vielen Klassikern verschafft.

An erster Stelle nenne ich "Effi Briest" von Theodor Fontane. Dieser Roman hat mich tief angerührt - bis heute.

Wohl kein Theaterstück habe ich so eingehend auseinandergenommen und mir seine Mechanismen, Wirkungsweisen und seine Sprache so genau angesehen wie Goethes "Faust". Leider haben wir damals aus Zeitmangel "Faust II" nur noch in groben Zügen behandelt.

An viele Kurzgeschichten, die wir behandelt haben, erinnere ich mich noch heute sehr genau. "Der Brötchenclou" von Wolfdietrich Schnurre, "Ein Wohltätigkeitsbesuch" von Eudora Welty, "Vor dem Gesetz" von Franz Kafka, die Keuner-Geschichten von Bertolt Brecht.

Gedichte mochte ich nicht besonders. Aber die Ballade "Die Bürgschaft" von Schiller hat mich doch beeindruckt.

Lateinunterricht war natürlich nicht so lustig wie Deutsch. Aber die Lektüre von "De Bello Gallico" von Julius Caesar hat mir doch auch einiges gebracht.

Und auch wenn das hier nicht hergehört: Wir haben im Deutschunterricht auch Comics behandelt. Auf die gleiche Weise: Wie wird da erzählt? Wie funktionieren Comics? Ob man Comics mochte oder nicht, blieb den Schülern selbst überlassen.

Servalan 11.11.2015 12:21

Aus dem Nähkästchen geplaudert
 
Ich glaube, es kommt auf beides an: Eine gute Lehrerin oder einen Lehrer, also jemanden, die oder der seine Begeisterung vermitteln kann - und auf der anderen Seite einen guten Text, der einen eigenen Reiz hat. Jenseits der Botschaft, die wir dechiffrieren mußten ("Was will uns der Dichter damit sagen?").

Gewisse Werke haben eine Qualität, die niemand unter den Teppich kehren kann: Goethes "Erlkönig" hat auch heute noch Gänsehautqualität. Die kurzen Sachen von Brecht hatten schon was, und Kafka halte ich für unkaputtbar.
Allerdings gibt es gewisse Modeströmungen, und in meiner Schulzeit in den 70er und 80er Jahren war das die "engagierte Literatur": Böll, Wallraff und Konsorten. Die meisten Werke haben mich nicht überzeugt, aber ich konnte liefern, was von mir erwartet wurde.

Wenn die Sache so simpel wäre, müßte ich Fernsehserien hassen. Zu meiner Schulzeit flimmerte "Holocaust" über die Mattscheibe. Die Geschichtsleher der 9. oder 10. Klasse meinten, wir Schüler müßten das gesehen haben. Deshalb wurde ein "Medienraum" oder "Fernsehzimmer" improvisiert, durch das die Klassen reihum durchgeschleust wurden.
Der Haken an der Sache: Bei 45 Minuten pro Schulstunde reichte die Zeit nicht für eine Folge. Abgesehen davon, daß die Lehrkräfte meiner Erfahrung nach gewisse Probleme mit technischen Geräten hatten, wurden die VHS-Kassetten so lange mittendrin vorgespult, bis die Folgen in den Stundenplan paßten. Als wir das Berieseln über uns ergehen lassen mußte, fühlte ich mich an die "Haßpropraganda" aus Orwells 1984 erinnert.

Mich würde mal interessieren, was zur Zeit in der Schule abgeht. Dort stehen ja moderne Klassiker wie Patrick Süskinds Das Parfüm, Bernhard Schlinks Der Vorleser oder Umberto Ecos Der Name der Rose auf dem Lehrplan. Manchmal sogar Art Spiegelmans Maus oder Heuvels Anne-Frank-Comic.
Kommt das an? Oder quälen sich die Pennäler da durch?

Peter L. Opmann 11.11.2015 14:19

Mir fällt es leichter zu sagen, was in der Schule prägend war, als was nicht prägend war ("Modeströmungen"). Generell denke ich, daß wir uns wenig mit Zeitgenössischem beschäftigt haben, also sowas wie "Die Wolke" von Gudrun Pausewang, obwohl die auch noch aus unserer Region stammt.

Aber an vieles kann ich mich auch nicht mehr erinnern. Wir haben glaube ich auch was von Heinrich Böll gelesen, aber ob das "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" war oder ob ich das durch den Schlöndorff-Film mitbekommen habe, weiß ich nicht mehr... Vieles, was nichts taugt, schätze ich, habe ich wieder vergessen.

Servalan 11.11.2015 18:53

Alexandre Dumas (père): Le Comte de Monte-Cristo (1844-1846)
 
Le Livre de Poche: Les Classiques de Poche, 798 Seiten (Band 1) + 797 Seiten (Band 2)
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Gr..._Monte_Christo

Jugendbücher werden häufig in der einen oder anderen Weise bearbeitet. Wenn sie in Reihen erscheinen, werden die einzelnen Bände auf eine bestimmte Weise getrimmt, meist gerafft und gestrafft. Natürlich kannte ich schon in jungen Jahren das Grundgerüst der Story, aber bei einem anderthalbstündigen Spielfilm oder einer 180-250 Seiten langen Fassung bleibt bloß ein Skelett von diesem Abenteuerroman übrig.

Mittlerweile ein fester Bestandteil der französischen Literaturgeschichte, gibt es auch von diesem Klassiker preiswerte Studienausgaben für Romanisten und andere Interessierte.
Dabei war der Roman eine Auftragsproduktion, mit der Dumas den damaligen Blockbuster von Eugène Sue Les Mystères de Paris (1843) in die Schranken weisen wollte. Statt einer Stadt überbot er seinen Konkurrenten mit drei Städten (Marseille, Rom und Paris), wo sich ein weit verzweigtes Geflecht von Komplotten, Intrigen und Karrieren entfaltet. Bei den meisten Bearbeitungen reduziert sich das Geschehen auf die Rache des unschuldig verurteilten Edmond Dantès, die lediglich im Hintergrund das Gesellschaftspanorama zusammenhält.

Länge ist relativ: Eine langweilige Kurzgeschichte erscheint mir länger als ein fabelhaft inszenierter Roman.
Wer mit dem Abenteuer des Grafen von Monte Christo zufrieden ist, hat das meiste überflogen.

Einerseits gewährt Dumas einen Einblick in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und spannt seinen Bogen dann bis in damalige Gegenwart: Der verbannte Napoleon, der sein Comeback plant (das bei Waterloo grandios scheitern wird), wird auf diese Art ebenso zum Element wie der technische Fortschritt (vom Segelschiff zum Dampfboot, in der Telegrafie) oder der Rom-Tourismus der gebildeten Oberschicht.
Als das Segelschiff Pharaon das zweite Mal in Marseille einläuft, ist der Windjammer ein Oldtimer, der für eine Reederei wirtschaftlich unrentabel wäre. Das Spiel mit Pünktlichkeit und Präzision oder den fünf Alter Egos der Grafen geht in Richtung von Verkleidungstalenten wie Sherlock Holmes oder Dr. Mabuse.
Literarisch besonders modern empfand ich den fast schon psychedelischen Mittelteil in Rom, wo Touristen zum Spaß gefoppt werden, falsche und echte Räuber sich ein Stelldichein geben.

Mit welcher feinsinnigen Ironie Dumas sein Garn gesponnen hat, wird in einer der Schlußszenen deutlich, in denen der Graf von Monte Christo das Château d’If besucht. Wie im Ric Hochet / Rick Master-Album dient das stillgelegte Inselgefängnis als touristische Attraktion. Dantès erkennt einen seiner ehemaligen Wärter, den er nach Anekdoten fragt, und dieser erzählt Dantès seine eigene Geschichte, ohne daß der den ehemaligen Häftling erkennt.

Mehr als ein Jugendbuch, eines der besten Bücher von Dumas. Für Jüngere eine spannende Geschichte, Erwachsene werden die Zwischentöne genießen.

Peter L. Opmann 11.11.2015 19:36

Das scheint mir jetzt eher in die Reihe "Klassiker, die in der Schule unter den Tisch fielen" zu gehören.

Mir ist die angelsächsische Literatur näher. Als ich Schüler war, gab es eine Gesamtausgabe der Werke von Edgar Allen Poe für 99 Euro (wenn ich mich recht erinnere). Mein Onkel, der ursprünglich Deutschlehrer werden wollte, was dann durch die Nachkriegszeit nicht möglich war, hat damals die Nase gerümpft und gesagt: "Das liest du doch nie."

Er hatte recht. Durch den Wust an Essays, Rezensionen und seine Korrespondenz habe ich mich nicht durchgekämpft. Aber es gibt viele Texte von Poe, die absolute Klassiker sind. Ich glaube, Charles Baudelaire war der erste, der die Bedeutung von Poe erkannt hat.

Servalan 12.11.2015 12:59

Seit den 1970er Jahren hat sich einiges getan. Wenn es um Reader's Digest-Fassungen von Dumas' Klassiker geht, gebe ich dir recht. Aber von denen, die sich als Kinder oder Jugendliche die Abenteuer von Edmond Dantès reingezogen haben, werden die wenigsten die 1.500-Seiten-Fassung kennen. Eigentlich wäre das genug Stoff für eine Premium-Serie in drei Staffeln. Der ungekürzte Roman ist eher etwas für Erwachsene.

Zum Abitur konnte ich mir Prüfungsthemen wählen, und auf der Universität läuft das ähnlich. Wer Matura machen oder Romanist werden will, der wird bestimmt auf die Les Classiques de Poche-Ausgabe verwiesen.

Vielleicht meldet sich mal jemand, der heute seinen Schulabschluß mit Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt oder den Zamonien-Romanen von Walter Moers baut. Ich wollte den Ansatz nicht zu verkniffen sehen.
Außerdem sollten Klassiker aus sämtlichen Sprachen zum Zug kommen: Wer Sinologie studiert, könnte zum Beispiel Der Traum der roten Kammer oder das Djin Ping Meh. Schlehenblüten in goldener Vase einbringen. Viele Manga- und Animefans begeistern sich für die japanische Kultur, die einiges zu bieten hat ...

Peter L. Opmann 12.11.2015 13:40

Ich habe nichts gegen "populäre" Klassiker. Und es gibt glaube ich wirklich eine Tendenz, hinter den Kinderbuchbearbeitungen das komplette Werk zu entdecken.

Etwa bei "Gullivers Reisen", "Moby Dick", "Die Schatzinsel" oder "Robinson Crusoe". (Leider kann ich auf Anhieb keinen romanischen Klassiker nennen, der zum Jugendbuch verwurstet wurde...)

Servalan 12.11.2015 17:59

Dino Buzzati: Il Deserto Dei Tartari (1940)
 
Deutsche Ausgabe: Die Tatarenwüste. Roman, aus dem Italienischen von Stefan Oswald, Klett-Cotta (Greif-Bücher) 1993, 238 Seiten
Italienische Studienausgabe in der Reihe Oscar classici moderni im Verlag Mondadori, 202 Seiten
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Tatarenwüste
https://it.wikipedia.org/wiki/Il_des...rtari_(romanzo)

Weil das regulärer Schulstoff ist, finden sich online weitere Materialien:
http://www.skuola.net/libri/riassunt...o-buzzati.html
http://www.atuttascuola.it/relazioni...ei_tartari.htm
http://doc.studenti.it/scheda-libro/...o-buzzati.html

Buzzatis anspruchsvoller Fantasyroman kann gewissermaßen als Gegenstück zu J.R.R. Tolkiens Herrn der Ringe gelesen werden. Zumal beide Werke zur gleichen Zeit entstanden sind. Außerdem hat der Stoff ziemliche Ähnlichkeiten mit den Grenzstellen aus George R.R. Martins Game of Thrones.

Giovanni Drogo ist ein junger Leutnant in einem ungenannten Land, dessen Grenze gegen einen befürchteten Ansturm der Tataren verteidigt werden muß. Deshalb muß sich Drogo von seiner Geliebten verabschieden und die Hauptstadt verlassen. Stationiert wird er in einem abgelegenen Fort am Rande einer Steinwüste, wo er sich bewähren muß.
In dem Fort schmoren die heißblütigen Möchtegernhelden im eigenen Saft und suchen krampfhaft nach Ablenkung. Regelmäßig ziehen Patrouillen durch das Gelände - doch die Tataren kommen nicht. Die jungen Soldaten gehen sich auf die Nerven, und bei einer Schlacht könnten die Hitzköpfe Dampf ablassen. Mal gibt es falschen Alarm, mal gehen sich die Isolierten gegenseitig an die Kehle. Die Luft flimmert vor Anspannung.
Jahre vergehen. Drogo wird älter und älter, bis er vergreist. Irgendwann soll der alte Drogo in die Hauptstadt verlegt werden. Er liegt schon auf der Bahre, just in dem Moment greifen die Tataren an ...

In seiner lakonischen Sicht auf einen Traum, der erst in Erfüllung geht, als es längst zu spät ist, ist mir dieser Roman im Gedächtnis geblieben. Je länger ich ihn gelesen habe, desto mehr glich er Werken von Franz Kafka oder Joseph Conrad. Wenn sich Drogo an seine Kindheit erinnert, bekommt der Roman etwas Märchenhaftes, von dem sich die trostlose Routine im Fort kontrastreich abhebt. Ein Roman für Leute "von 7 bis 77 Jahren".

Peter L. Opmann 12.11.2015 19:34

Sorry, wenn ich mich dauernd zu Wort melde - aber können Genreromane zu Klassikern werden?

Ich komme darauf, wenn ich lese: "wie Herr der Ringe" oder "wie Game of Thrones". Ist ja klar, die Genreregeln gelten immer. Western bestehen immer aus derselben Handvoll Handlungsmuster; Krimis haben nur drei oder vier Plot-Varianten (jedenfalls wenn es Hard-boiled-Romane sind). Und dann kommt irgendwann die Zertrümmerung der Genreregeln, wie im Comic etwa mit "The Return of the Dark Knight", und dann kann erst recht nichts Neues mehr kommen. Muß man bei einem großen Werk nicht Originalität fordern?

Nicht falsch verstehen - ich mag Literatur- und Filmgenres, auch Comicgenres. Es kann befriedigend sein zu verfolgen, wie die Genregrenzen doch immer wieder mal ein bißchen umdefiniert werden. Aber sind wir da im Bereich von Klassikern?

Nebenbei: Ein toller Western, weitab der üblichen Genreregeln, ist "Pasó por Aquí" von Eugene M. Rhodes. In diesem Buch fällt kein einziger Schuß. Wurde von Hollywood zu verfilmen versucht - erfolglos.

Servalan 12.11.2015 19:47

Können sie schon: Wenn das allgemein Menschliche so stark ist, daß die Genreregeln bloß noch Pipifax sind. Das passiert häufiger, wenn neue Genres entstehen oder wenn sie aus dem letzten Loch pfeifen und totgesagt werden.

Aktuell fallen mir Fernsehserien wie The Wire oder The Fall - Tod in Belfast ein, die ja zunächst als handelsübliche Krimiplots beginnen. Aber je weiter sich der Stoff ausbreitet, desto mehr verblassen die Klischees und etwas anderes wird deutlich. Die Genre-Form wird hier als Lockstoff benutzt, um ein Publikum zu erreichen, das sich sonst womöglich gar nicht mit solchen Themen befaßt hätte.

Klassiker sind selten, aber es gibt sie.

Ich sehe Klassiker wie Mythen: Wer will, kann sie lesen, obwohl der Plot bekannt ist. Das Werk besitzt weitere Qualitäten, die jeder erst langsam für sich entdecken muß.

Peter L. Opmann 12.11.2015 21:10

Wikipedia gibt Dir Recht:

Zitat:

Während Klassiker der Hochliteratur stilistische Merkmale erfüllen müssen, z. B. die durchgängige Einhaltung des inneren Monologs in Arthur Schnitzlers Novelle Leutnant Gustl, die letztendlich ihren Status rechtfertigen, genügen in der Genreliteratur die Bekanntheit und vor allem der Formelcharakter des Werks.
Aber dann wäre doch eher "Herr der Ringe" der Klassiker.

Also, Fantasy mag ich nicht besonders - abgesehen vielleicht von ein paar herausragenden "Conan"-Storys.

Servalan 13.11.2015 16:43

Joseph Conrad: Heart of Darkness (1899 / 1902)
 
Penguin Popular Classics [PPC], 111 Seiten
Deutsche Ausgabe bei Reclam (RUB)
https://de.wikipedia.org/wiki/Herz_der_Finsternis
https://en.wikipedia.org/wiki/Heart_of_Darkness

Wer tiefer in die Materie einsteigen möchte, dem empfehle ich als Ergänzung:
  • Radiofassung von Orson Welles: The Mercury Theatre on the Air: Heart of Darkness (CBS Radio 1939)
  • Der Roman inspirierte John Milius und Francis Ford Coppola zum Kinoklassiker Apocalypse Now (USA 1973) bzw. Apocalypse Now Redux (USA 1973 + 2001)
  • sowie zu guter letzt das Making of Hearts of Darkness: A Filmmaker's Apocalypse (USA 1991), Regie: Fax Bahr, George Hickenlooper, Eleanor Coppola
Zu Lebzeiten galt Joseph Conrad als gehobene Unterhaltung, der sich auf die Genres Seefahrt, Kolonialismus und Spionage spezialisiert hatte. Für den polnischen Seemann war Englisch seine dritte oder vierte Fremdsprache.
Heart of Darkness gehört zu den einflußreichsten Romanen des 20. Jahrhundert und erschien zuerst als Serial in drei Teilen 1899 im Blackwood's Magazine. Auf einen Spaziergang hatte er dem Herausgeber der Zeitschrift von seinen Abenteuer in Belgisch-Kongo berichtet, womit er den Verleger begeisterte. Die gedruckte Geschichte wich jedoch erheblich von Conrads mündlichen Seemannsgarn ab, dem Verleger gefiel das gar nicht.

Obwohl sich der Stoff auf eine Schlagzeile zusammenfassen läßt: Captain Marlow sucht für eine belgische Reederei den mysteriösen Mr Kurtz in Belgisch-Kongo und begegnet dabei seinen Dämonen - biedert sich der kurze Roman nicht an.

Komplex verschaltet beginnt das Abenteuer in einer Herrenrunde auf einer Yacht in der Themsemündung. Während der Abend dämmert, entspinnt sich aus einer Bemerkung Marlows eine Geschichte. Marlow verglich dabei das alte Londinium mit dem tiefsten Dschungel Afrikas am Kongofluß: Obwohl 2.000 Jahre dazwischen liegen, müssen beide Gegenden wie das Ende der zivilisierten Welt auf die Zeitgenossen gewirkt haben. Die anderen Herren auf Deck haken nach, weil sie es genauer wissen wollen.

Die ersten zehn bis zwanzig Seiten können schon eine Hürde darstellen, das teilweise mehrfach Dialoge ineinander geschoben werden. Spätestens Marlows Bewerbung im Brüsseler Büro der Kolonialfirma samt ärztlicher Untersuchung zeigt, daß es um mehr als platten Realismus geht: Die drei seltsamen Frauen könnten auch Schicksalgöttinnen sein. Wer davor nicht zurückschreckt, den erwartet ein leiser Sog, der das Grauen ("The horror! The horror!") verstärkt.

Eines meiner Lieblingsbücher.

Servalan 14.11.2015 16:51

The Complete Short Stories of Ambrose Bierce (1873-1909)
 
University of Nebraska Press, herausgegeben von Ernest Jerome Hopkins, Vowort von Cathy N. Davidson, 496 Seiten
https://en.wikipedia.org/wiki/Ambrose_Bierce
https://de.wikipedia.org/wiki/Ambrose_Bierce

Dort heißt es:
Zitat:

Zu Lebzeiten blieb er als Schriftsteller allerdings weitgehend unbeachtet. Das änderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute sind vor allem seine mustergültigen Kurzgeschichten gängige Schulbuchlektüre. Neben der literarischen Verarbeitung historischer Stoffe ist er vor allem durch seine aphoristischen Begriffsdefinitionen in The Devil's Dictionary bekannt geworden, die zwischen 1881 und 1906 entstanden und durch humorvoll-sarkastischen Wirklichkeitssinn geprägt sind, vergleichbar mit Lichtenbergs Sudelbüchern oder dem Sarkasmus eines Oscar Wilde.

Gemeinsam mit Edgar Allan Poe und H. P. Lovecraft gilt Bierce als Erfinder der modernen Horrorliteratur. Schreibstil, Weltsicht, Themenwahl und Herangehensweise des Autors sind stark vom amerikanischen Bürgerkrieg beeinflusst.
Gerade als Gesamtausgabe versammelt das Buch auch schwächere Geschichten von Bierce. Das Werk gliedert sich in drei Teile (Horror, Krieg und "Tall Tales" - quasi die Vorläufer der Urban Legends). Zu seinen besten Werken gehören "An Inhabitant of Carcosa", "Chickamauga", "The Damned Thing" und sein Meisterwerk "An Occurrence at Owl Creek Bridge". Viele seiner Kurzgeschichten sind als Comics adaptiert worden.

Den stärksten Eindruck vermitteln seine Geschichten aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg, an dem der spätere Journalist als Offizier teilgenommen hat (auf Seiten der Nordstaaten). Sein nicht-realistischer Ansatz vermittelt das Grauen des modernen technisierten Krieges eindringlich. Davidson hält diesen Teil seines Werks für ein besseres Antikriegsbuch als das seines Zeitgenossen Stephen Crane (1871-1900) Red Badge of Courage (1895).

1914 verschwand Bierce wie eine seiner Figuren spurlos in Mexiko.

Servalan 15.11.2015 17:45

Nikolai W. Gogol: Meisternovellen + Phantastische Novellen (1831 - 1842)
 
Könemann (zwei Bände im Schuber), 146 Seiten + 608 Seiten
https://de.wikipedia.org/wiki/Nikola...jewitsch_Gogol

Nikolai Wassiljewitsch Gogol (Никола́й Васи́льевич Го́голь, 1809-1852) wurde auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geboren und gilt als einer der Gründervater der russischen Literatur. Er stammt aus einer Gutsbesitzerfamilie, deren Vorfahren Kosaken waren, und Gogol verherrlicht diese grobschlächtigen Rabauken. Im Könemann-Schuber wird das nationalistische Pathos im Schicksal von "Taraß Bulba" (in Phantastische Novellen) deutlich, der seinen jüngsten Sohn lieber selbst umbringt, als zuzulassen, daß er eine Polin heiratet.

Schilderungen des Landlebens an reißenden Strömen, die ins Schwarze Meer münden, nehmen breiten Raum ein. Am besten wird Gogol, wenn Bürokratie auf menschliche Eitelkeit oder andere Schwächen trifft und der Lauf der Dinge aberwitzige Kapriolen zustandebringen.
Während das Gesamtwerk wahrscheinlich nur Slawisten anspricht, finden sich auf gut 750 Seiten auch jene Geschichten, die ihm den Ruhm der Weltliteratur eingebracht haben:
  • "Die Nase" (1835)
  • "Der Wij" (1835)
  • "Der Mantel" (1842)

Servalan 17.11.2015 14:26

François Rabelais: Gargantua und Pantagruel (1532 - 1564)
 
Winkler Weltliteratur Dünndruck Ausgabe, mit Illustrationen von Gustave Doré, 1517 Seiten in zwei Bänden
Diverse französische Ausgaben in verschiedenen Fassungen, unter anderem in der Bibliothèque de la Pléiade (Gallimard) und Textes littéraires français (Droz)
https://de.wikipedia.org/wiki/Gargantua_und_Pantagruel
https://fr.wikipedia.org/wiki/François_Rabelais

Während die französische Wikipédia Rabelais' Werk ausführlich betrachtet, rafft die deutschsprachige Online-Enzyklopädie seinen Status prägnant zusammen:
Zitat:

Heute gilt Rabelais, obwohl er aufgrund seiner archaisch gewordenen Sprache und seiner oft kaum mehr verständlichen Wortspiele und Anspielungen wenig gelesen wird, als der größte französische Autor des 16. Jahrhunderts, als einer der Großen der französischen Literatur überhaupt und speziell als Galionsfigur des moralisch häufig unkorrekten, dafür aber volkstümlich-heiteren „esprit gaulois“ oder eben „rabelaisien“.
Durch modernisierte Übersetzungen haben Fremdsprachler gegenüber Muttersprachlern einen gewissen Vorteil, sobald die Sprache zu sehr veraltet. Die Originalfassung im mittelalterlichen richtet sich heute vorwiegend an Sprach- und Literaturwissenschaftler, Mediävisten und eingefleischte Liebhaber klassischer Texte. Bei übersetzten Fassungen lassen sich moderne Verständnishilfen flüssiger und subtiler in den Text einarbeiten.

Die insgesamt fünf Bücher über ein imposantes Riesengeschlecht sind Teil der französischen Kultur geworden, und der unersättliche Gargantua dürfte zu den Urahnen des Hinkelsteinlieferanten Obelix gehören: Beide vereint ein schier unersättlicher Appetit und die Lust am Feiern.

Ähnlich wie Luther mit seiner deutschen Bibelübersetzung, hat der frühe Humanistund Ordensbruder Rabelais (1494 - 1553) erst Franziskaner, später Benediktiner) den Leuten aufs Maul geschaut. Die fünf Bände vermitteln ein ziemlich rauhes Bild der frühen Neuzeit aus ihrem Inneren heraus, kein geschönt-bekömmliches Image wie bei einem Mittelaltermarkt oder einem historischen Roman. Zunächst sollte es nur ein Buch geben, aber durch den Erfolg kamen weitere Fortsetzungen zustande, das letzte Buch erschien nach Rabelais' Tod.

Insofern handelt es sich um eine Art Serie im weitesten Sinne, in der Rabelais mittelalterliche Genres vom Fürstenspiegel bis zum Erziehungsratgeber parodiert. Besonders leibliche Genüsse und körperliche Vorgänge werden eindrucksvoll in Szene gesetzt - vom Essen und Trinken bis zum Scheißen und Pissen. Der Klassiker wurde unter anderem von Gustave Doré und Honoré Daumier illustriert.

Wer die fremdartige Welt unserer Vorfahren entdecken möchte, dem empfehle ich die ersten beiden Bücher. Schon das Blättern in den illustrierten Fassungen ist ein Genuß.

Peter L. Opmann 17.11.2015 15:20

Die Sitten waren damals anders. Körpervorgänge, die wir heute bestenfalls lustig finden (weil sie eigentlich mit einem Tabu belegt sind), waren ganz normal; jeder redete offen darüber.

Wenn man sagt, daß Luther dem Volk "aufs Maul geschaut hat", ist das nach meinem Verständnis eine Verkürzung. Seine Leistung lag darin, daß er überhaupt Bücher auf Deutsch publiziert hat. Fast alle Literatur war bis dahin lateinisch - und es war durchaus so gedacht, daß nur Gebildete Zugang zu Literatur haben sollten. Es gab keine Schulpflicht. Luther sagte: Jeder muß das lesen (können), und daraus entstand dann das Bestreben, auch ein gut verständliches Deutsch zu entwickeln. Hätte er nur das Latein 1 : 1 übertragen, wäre nicht viel gewonnen gewesen.

Rabelais habe ich bisher nur ganz am Rande wahrgenommen. Hat er denn irgendwelche Vorzüge, die man in den Tischreden Luthers nicht hat?

Servalan 17.11.2015 15:42

Die Ähnlichkeiten mit Astérix sind frappierend: Das erste (der fünf) Bücher erzählt die Kindheit Gargantuas, das zweite zeigt ihn auf Tour, weil er Ratschläge einholt, wie er am besten heiratet.
Rabelais gelingt es, erzählerische Bögen zu spannen.

Rabelais genießt die Sprache und spielt mir ihr. Die erste Übersetzung von Johann Fischart: Abenteuerliche und ungeheuerliche Geschichtsschrift vom Leben, Raten und Taten der Herren Grandgusier, Gargantua und Pantagruel. (1575) wurde vor einigen Jahren als Band der Anderen Bibliothek nachgedruckt, weil sie von Neologismen, absurden Einfällen und grotesken Szenen nur so wimmelt. Indirekt stellt Rabelais einen Vorläufer von Grimmelshausens Simplicissimus dar, wobei Krieg nur am Rande vorkommt.

Mit dem Riesengeschlecht verhonepipelt er die höheren Stände, die im Grunde auch nur menschliche Bedürfnisse haben. Anders als der "Idealist" Luther mit seinen hehren Ansprüchen bereitet Rabelais hier Autoren wie Michel de Montaigne oder François Villon den Boden. Rabelais wird zu einem sprachgewaltigen Gegenstück zu Breughel oder Hieronymus Bosch.

Peter L. Opmann 18.11.2015 16:44

Wenn ich mal etwas einwerfen darf: Ist Philip K. Dick ein Klassiker?

Mit etwa 15 habe ich alles mögliche gelesen, auch viel Science Fiction, weil das damals ziemlich angesagt war. Was heute in den Buchläden die riesigen Fantasy-Bücherwände sind, das war damals "Heyne SF und Fantasy". Später kam Moewig SF hinzu, und dann habe ich noch die violette Suhrkamp-Reihe entdeckt. Der zweite Autor, der mich gefesselt hat, war Dick (der erste war Ray Bradbury). Später kam noch ein dritter hinzu: Kurt Vonnegut jr. mit "Sirenen des Titan", "Die Katzenwiege" oder "Schlachthof 5 oder: Der Kinderkreuzzug". Als ich drei oder vier Romane von Dick gelesen hatte (der erste war "The Crack in Space"/"Das Jahr der Krisen"), kam "Blade Runner" ins Kino.

Ich denke, Dick hat auf jeden Fall ein paar wegweisende Romane geschrieben. Dazu würde ich zählen: "Der dunkle Schirm", "Das Orakel vom Berge", die "VALIS"-Trilogie, "UBIK", "LSD-Astronauten", eventuell noch "Zeitlose Zeit". Aber ist er nicht doch ein Schundautor? Richtig ernst nehmen kann man seine Romane erst ab den 1960er Jahren. In dieser Zeit hat er aber extrem schnell und schludrig geschrieben. Stanislaw Lem hat nachgewiesen, daß sein bekanntestes Werk, "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?" voller logischer Fehler und Widersprüche steckt. Trotzdem bin ich immer wieder in die irritierende und durchgeknallte Dick-Welt hineingezogen worden - selbst in einem eindeutig schwachen Buch wie "Das Jahr der Krisen".

Dick war in der SF äußerst einflußreich, aber die SF ist heute am Ende. Es gibt keine Zukunft mehr, die man sich gern vorstellen würde, selbst eine dystopische nicht. Wie wird man diesen Autor in 50 oder 100 Jahren sehen? Wird er dann vergessen sein? Aber Hollywood verfilmt einen Dick-Roman nach dem anderen...

Servalan 22.11.2015 14:59

Verglichen mit dem Erzählen von Geschichten, ist Literatur im engeren Sinne eine ziemlich späte Erfindung. Damit es einen Buchmarkt gibt, müssen genügend Leute lesen und sich ihren Lesestoff leisten können.

Bis es das Taschenbuch gab, waren Bücher teure Luxusgüter. Den ersten Boom erlebte der Buchmarkt in den deutschsprachigen Ländern in den 1770ern bis 1780ern. Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) war ein veritabler Bestseller, der die Mode geprägt hat (wie in der Nachkriegszeit Jazz und Rock'n'Roll die "Halbstarken") und heute noch wegen der Selbstmordwelle zitiert wird (heute bewirken das Musiker wie Kurt Cobain).

Dienstboten und andere Leute mit wenig Geld waren deshalb auf billige Zeitschriften angewiesen, wo die künftigen Romane als illustrierte Fortsetzungen erschienen. Andere Möglichkeiten waren Leihbibliotheken oder gemeinsame Anschaffungen, zum Beispiel für die Bibliothek eines Arbeiterbildungsvereins.

Ohne eine verbindliche Schulpflicht gäbe es den Markt nicht. Aber das war nur eine Nebenwirkung, weil die Landesherrn Kanonenfutter rekrutieren wollten, das Lesen können mußte. Schließlich wurde Mitte des 19. Jahrhunderts der Krieg technisiert (Krimkrieg, Amerikanischer Bürgerkrieg). Mittlerweile wächst hingegen sogar in Deutschland der Anteil der Analphabeten in der Bevölkerung. Als weitere Einschränkung kamen damals wöchentliche Arbeitszeiten von mörderischen 60 bis 80 Stunden hinzu.

Meiner Meinung nach ist die Genrefrage von nachrangiger Bedeutung. Damit ein Stoff wirklich literarisch durchgearbeitet werden kann, muß der Autor eine gewisse abgeklärte Distanz haben - und das ist frühestens eine Generation nach den Ereignissen der Fall (siehe Leo Tolstois Krieg und Frieden von 1867/1869 über die Napoleonischen Kriege und das Rußland von 1805 bis 1812). Die besten Werke lassen Genrekonventionen hinter sich, teilweise entstehen sie erst, nachdem das jeweilige Genre seine Blütezeit schon weit hinter sich gelassen hat. Wer will, kann Miguel de Cervantes Saavedras Don Quijote (1605 und 1615) ja gerne als Ritterabenteuer lesen.

Deshalb glaube ich, daß Philip K. Dick und Lem auch in Zukunft gelesen werden. Möglicherweise finden spätere Generationen Dinge darin, die wir heute gar nicht wahrnehmen können oder wollen. Wie diese Ausgaben dann aussehen, wäre eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Ich kann nicht hellsehen.

Seufz, wem erzähle ich das? :zwinker:

Peter L. Opmann 22.11.2015 21:48

Klar, Vorhersagen sind schwierig, insbesondere wenn sie sich auf die Zukunft beziehen. :grins:

Aber mir ging's auch nicht darum, ob Dick auch in Zukunft noch gelesen wird - wenngleich das sicher eine nicht unbedeutende Voraussetzung dafür wäre, daß er ein Klassiker ist.

Ich finde es schwierig, ihn einzuordnen. Am Anfang war er eindeutig ein Pulp-Autor - auch auf Deutsch sind seine Sachen zuerst als Heftromane erschienen. Dann wurde er innerhalb der Science Fiction wichtig. Aber inzwischen scheint die SF insgesamt nicht mehr wichtig zu sein.

Dick wollte immer gern "literarische" Romane schreiben, aber die nahm ihm kein Verlag ab. Nur "Groschenromane" konnte er verkaufen. Bloß daß diese Groschenromane dann auch bei Suhrkamp erschienen sind. Es gibt meiner Ansicht nach tatsächlich Indizien dafür, daß sie als Groschenromane richtig eingeordnet waren. Aber Dicks Romane waren ungemein einflußreich für die Populärkultur (sind es teils noch immer), sie sind oft originell, haben eine deutliche Handschrift, und sie verhandeln mitunter auch wichtige Themen wie Identität, die Gefahren der totalen Überwachung oder Dicks typische Frage: Was ist eigentlich Realität?

Ich habe übrigens auch zwei Mainstream-Romane von ihm gelesen: "Die kaputte Kugel" und "Der Mann dessen Zähne alle exakt gleich waren". Da fällt mir der Zugang schwer. Sein Roman "Der dunkle Schirm" enthält auch relativ wenige SF-Elemente, aber Dick ohne SF finde ich doch irgendwie langweilig...

Servalan 24.11.2015 16:00

Im Laufe der Zeit trennt sich die Spreu vom Weizen.

Dick wird es wohl ähnlich ergehen wie dem Politiker und Vielschreiber Edward Bulwer-Lytton (1803-1873).
Heute kennen ihn die meisten als Namenspatron des Bulwer-Lytton Fiction Contest (BLFC):
Zitat:

Im 20. Jahrhundert gelangte Bulwer-Lytton zu ganz neuer und unerwarteter Popularität durch den nach ihn benannten „Bulwer-Lytton Fiction Contest“ der San José State University. In diesem Wettbewerb geht es in verschiedensten Kategorien darum, den schlechtestmöglichen Anfangssatz eines (fiktiven) Romans zu schreiben. Grund dafür, dass ausgerechnet Bulwer-Lytton als Namenspatron für diesen wenig ehrenhaften Wettbewerb herhalten musste, ist sein berühmt gewordener Anfangssatz zu seinem Roman Paul Clifford: „It was a dark and stormy night …“. Dieser Satz inspirierte selbst Peanuts-Hund Snoopy zu schriftstellerischen Meisterleistungen.
Von seinem stattlichen Werk sind einige wenige Romane aus den unterschiedlichsten Gründen bekannt: Sein Sandalenroman The Last Days of Pompeii (1834) lieferte für Cinecittà und Hollywood das Handlungsgerüst; sein Rienzi-Roman (1835) inspirierte Richard Wagner zu einer Oper; und in seinem Spätwerk The Coming Race (1871) liefert er die Rohfassung für den Vril-Mythos.
Bei seinen deutschen Fassungen tippe ich darauf, daß der Name seines prominenten Übersetzers: Arno Schmidt, den eigentlichen Anreiz zum Lesen geliefert hat.
Im heimatlichen Großbritannien ist er zuerst eine Figur der Geschichte, der mit einigen Redewendungen ("Die Feder ist mächtiger als das Schwert") heute noch in der Umgangssprache gegenwärtig ist. Im Schulunterricht taucht über seine Verbindungen zu anderen Prominenten (Charles Dickens, Jeremy Bentham, Theosophinnen wie Annie Besant und Helena Blavatsky) wiederholt auf. Sein Roman The Last of the Barons (1843) schildert das Ende der Rosenkriege und liefert einen patriotischen Gründungsmythos der Tudors.

Worauf ich hinauswollte: Wenn ich daran denke, wie sich der Umgang mit Büchern und Literatur in den letzten 150 Jahren verändert hat, kommen weitere Faktoren ins Spiel. Während Bücher im Zeitalter der Aufklärung noch etwas Erhabenes ausstrahlten, befindet sich die Belletristik heute (wie die Comics) im Abseits. Bücher, die jemand unbedingt jetzt sofort gelesen haben muß, um mitreden zu können, sind selten. - Und selbst die werden binnen weniger Jahre verfilmt. Durch Wikipedia, Goodreads, Amaz*n-Kommentare und andere Quellen kann heute jeder smalltalken, ohne auch nur eine Zeile gelesen zu haben.
Heute sind eher Games, Serien und die sogenannten Sozialen Medien die Leitmedien. Die geben den Ton vor und prägen den Alltag. In den letzten Jahrzehnten sind innerhalb einer Generation etliche neue Varianten dazugekommen: Video, DVD, Stream, IMAX, Xbox, Wii ...

Ich müßte mich mal, bei den Historikern erkundigen, ob schon ein 'material turn' stattgefunden hat. Was ist das Buch? Reicht der bloße Text wie bei einem eBook aus? Welche Bedeutung hat das jeweilige als Objekt? Worüber geben mir die ergänzenden Texte und Bilder (Waschzettel, Cover, Vorwort / Nachwort, Kommentare, Reihe usw.) Auskunft? Welche Wechselwirkungen verbinden die wissenschaftliche Forschung mit dem Sammlermarkt?

Nüchtern betrachtet, befindet sich jedes veröffentlichte Buch in der Großen Lotterie der Klassik. Ab und zu bequemt sich die launische Fortuna, einen Titel zu ziehen ...

Servalan 25.11.2015 20:09

Giovanni Boccaccio: Il Decamerone (1348/1349-1353)
 
Diverse Ausgaben in deutschsprachigen Verlagen: Fischer TB, Artemis & Winkler, Anaconda, Dörfler, Reclam
Fassung in modernisiertem Italienisch in der Reihe Emozioni senza tempo (Fermento), alte Fassung in der Reihe Einaudi tascabili Classici (Einaudi)
https://de.wikipedia.org/wiki/Decamerone
http://www.klassiker-der-weltliterat...decamerone.htm
https://www.lernhelfer.de/schuelerle...ikel/decameron
http://www.mein-italien.info/literatur/decamerone.htm
https://it.wikipedia.org/wiki/Decameron
http://www.letteraturaitaliana.net/p...ume_2/t318.pdf (Italienisches Original, 896 Seiten)

Im Mittelalter wurde Literatur nach anderen Kriterien beurteilt als heutzutage: Als Klassiker galten ausschließlich antike Werke, die häufig aus dem Arabischen zurückübersetzt worden waren.
Weite Teile der Bevölkerung konnten weder lesen noch schreiben, denn meist stand das blanke Überleben im Vordergrund. Klöster und die Höfe von Fürsten oder Klerikern bildeten ein winziges Refugium der höheren Stände, die genügend Freiheiten besaßen, sich mit solchen Dingen zu unterhalten.

Der Name der Rose fängt jene Umbruchszeit ein, in der sich italienischen Stadtstaaten, die häufig miteinander verfeindet waren, das entwickelt, was wir heute unter Literatur begreifen. Das höchste Ansehen genoß eine Lyrik, die nach strengen Mustern entstand; auf die Prosa wurde verächtlich herabgesehen. Latein oder Griechisch besaßen eine Autorität, die der Umgangssprache des gemeinen Volkes, der Bauern und Fischer, der Händler und Handwerker, fehlte.
Die ersten großen Dichtungen im Volgare (dem damaligen Straßen-Italienisch) markieren einen deutlichen Bruch. Bis in unsere Tage prägen drei Namen den Aufbruch der europäischen Literatur:
  • Dante Alighieri (1265-1321) eiferte den antiken Versepen von Homer, Ovid und Vergil nach. Seine Divina Commedia (oder Commedia, deutsch Die Göttliche Komödie, 1307-1321) schildert die Reise eines etwa 40 Jahre alten Mannes durch Hölle und Fegefeuer ins Paradies.
  • Francesco Petrarca (1304-1374), den andere als ersten Bergsteiger und Begründer des Alpinismus kennen, faßt die Liebe zu seiner unerreichbaren Laura in 366 Gedichte (darunter 317 Sonette) - den Canzoniere (im Original Francisci Petrarchae laureati poetae Rerum vulgarium fragmenta, 1336-1374)
  • Giovanni Boccaccio (1313-1375) schildert in seinem Zyklus aus 100 Novellen (nichts anderes bedeutet der Titel) das alltägliche Leben aus unterschiedlichen Facetten. Im Vergleich zu Dante und Petrarca ist er lebendig und realistisch, außerdem schreibt er in Prosa.
1348 verheert die Pest, der Schwarze Tod, weite Teile Europa. Weil sich die Leute in Städten besonders leicht mit der tödlichen Krankheit anstecken, flieht aufs Land, wer sich das leisten kann.
In Florenz sind das sieben adlige Frauen, denen sich drei Männer anschließen (die Dienerschaft wird zwar mitgedacht, spielt aber keine große Rolle).
Damit das Warten auf der selbst gewählten Quarantänestation nicht zu langweilig wird, erzählen sich die Flüchtlinge nach einem strengen Rhythmus Geschichten.
Jeden Tag wird eine "Königin des Tages" oder ein "König des Tages" gewählt, der ein Thema vorgibt und die Runde moderiert. Dann plaudert jede und jeder der Reihe nach aus dem Nähkästchen.
Die Novellen erstrecken sich über diverse Genres: Für fast jeden Geschmack ist etwas dabei - phantastische und erotische Novellen, Wundergeschichten, Räuberpistolen, Verwechslungskomödien und historische Schlüsselanekdoten.

Aus der Wikipedia:
Zitat:

Wirkungsgeschichte

Bereits die Grammatiker und Rhetoriker der Renaissance waren der Ansicht, dass Boccaccios Dekameron ein Meisterwerk sei. Der Autor wurde zusammen mit Dante und Francesco Petrarca zum Wegbereiter und Vorbild für die eigenen Bestrebungen. Heute gilt das Dekameron unbestritten als Ursprung der italienischen Prosa überhaupt und als ein Werk, das die Weltliteratur nachhaltig beeinflusst hat. So wurde die Novellensammlung unter anderen von Geoffrey Chaucer (Canterbury Tales), Margarete von Navarra (Heptaméron), Miguel de Cervantes (Novelas ejemplares), François Rabelais und zahlreichen, heute nicht mehr so bekannten Autoren nachgeahmt. Johann Wolfgang von Goethe schätzte das Werk sehr und deutschte den Namen Boccaccios in Boccaz ein. Die Romantiker würdigten ebenfalls die Novellensammlung besonders und wurden zu eigenen Werken angeregt, so zum Beispiel Honoré de Balzac mit seinen im späten Mittelalter spielenden Tolldreisten Geschichten. Stoffe einzelner Erzählungen benützten William Shakespeare (Cymbeline und Ende gut, alles gut), Hans Sachs und Jonathan Swift. Die Figur des Melchisedech und das Motiv der drei Ringe, die nicht mehr zu unterscheiden sind (I.3), liegt der Ringparabel in Gotthold Ephraim Lessings Drama Nathan der Weise zugrunde.
In meinem alten Deutsch-Schulbuch gab es die "Falkennovelle" (9. Novelle des 5. Tages).
Als Diogenes eine Taschenbuch-Kassette herausbrachte, habe ich sie mir "wegen der erotischen Stellen" gewünscht. Von meinen Eltern hatte ich nichts zu befürchten: Mit Weltliteratur konnten die nichts anfangen. Und verglichen mit den Kioskauslagen der 1970er Jahre waren besagte Stellen keusch und züchtig.
Gelesen habe ich den Schmöker trotzdem gerne.

Servalan 27.11.2015 15:16

Choderlos de Laclos: Les Liaisons dangereuses (1782)
 
Le Livre de Poche: Les Classiques de Poche, 573 Seiten
Deutsche Ausgaben bei dtv (2007) / Hanser (2003) und Beck (1988)
https://de.wikipedia.org/wiki/Gefährliche_Liebschaften
https://fr.wikipedia.org/wiki/Les_Liaisons_dangereuses

Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos (1741-1803) beschäftigte sich hauptsächlich mit Rekruten und Kanonen, denn er machte als Hauptmann Karriere und wurde später zum General bei der Artillerie der ernannt.
Etliche Leute behaupten vollmundig, sie könnten einen Roman schreiben. Nun ja, Choderlos de Laclos hat diese Idee in die Tat umgesetzt. Am Vorabend der Französischen Revolution erschien sein einziges Buch und machte sofort Furore. In erster Linie wurde dabei getratscht und gerätselt, welche echten Höflinge sich hinter welchen fiktiven Figuren verbargen.
Wer bösartig sein will, kann den Autor als männliche Charlotte Roche seiner Zeit ansehen. Aber im 19. Jahrhundert wurde der Roman regelmäßig nachgedruckt und seither von den prägenden Gestalten der französischen Literatur (Baudelaire, Giraudoux, Malraux, Roger Vailland) gelobt und verehrt. Und weil der belletristische Seitensprung des Militärs heute unbestritten zur Weltliteratur zählt, würdigt die Wikipedia den Autor der Les Liaisons dangereuses. Lettres recueillies dans une société et publiées pour l’instruction de quelques autres (so der vollständige Titel) mit einem Eintrag.

Natürlich geht es um Kabale und Liebe bei Hofe.
Zwei Libertins, die Marquise de Merteuil und der Vicomte de Valmot, versuchen, sich bei ihren Intrigen gegenseitig auszutricksen. Für ihr erotisches Schachspiel nutzen sie dabei skrupellos, raffiniert und hinterlistig lebendige Menschen, über deren Verhalten Wetten abgechlossen werden. Zum Vergnügen korrumpieren und verderben sie diejenigen, über die sie Macht haben und waiden sich an ihrem Schmerz, ihrem Leid und ihrem Unglück.
Zu den Benutzten gehört die 15 Jahre junge Cécile de Volanges, die gerade ihre Klosterschule verlassen hat und bei Höfe die Welt kennenlernt, während sie sich auf ihre Hochzeit mit dem wesentlich älteren Comte de Gercourt vorbereitet.
Bei der zweiten Wette fordert die Marquise de Merteuil den Vicomte de Valmot heraus, seinen Ruf unwiderstehlicher Verführer zu beweisen, indem er Madame de Tourvel, eine loyale, treue und prüde Ehefrau, auf Abwege lockt.
Leider sind die Menschen nicht so naiv und so leicht manipulierbar, wie sich die Strippenzieher das vorstellen. Wenn dann noch eigene Gefühle das Handeln durchkeuzen, muß gewaltig improvisiert werden.

Sprachlich recht anspruchsvoll, erscheinen Choderlos de Laclos' Figuren auf den ersten Seiten wie blasse Chargen, die als Stereotype durchgehen können. Ziemlich rasch brechen die Klischees auf. Der Autor entlarvt das Spiel von Schein und Sein eher unterderhand, verleiht seinen Figuren eigene Stimmen und läßt sie in 175 Briefen lebendig werden.
Choderlos de Laclos' Gefährliche Liebschaften bieten ein größeres Lesevergnügen als der monomanische Über-Philosoph der Libertinage, der "Göttliche Marquis" de Sade. Mit seinen mehrfachen Verschachtelungen, Doppelungen und Brechungen ähnelt er meiner Ansicht nach einem anderen Genre: dem Spionageroman. Hier wie dort gilt es, zu sehen, ohne gesehen zu werden, und zu handeln, ohne dafür belangt zu werden.

Servalan 30.11.2015 14:53

Fjodor Dostojewski: Der Spieler (1867)
 
Фёдор Михайлович Достоевский: Игрок
Deutsche Ausgaben lieferbar von Fischer Taschenbuch, dtv, Aufbau-TB und Anaconda (der Umfang liegt bei ca. 256 Seiten, als Hörbuch beim Hörverlag und DAV
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Spieler
http://www.getabstract.com/de/zusamm...r-spieler/3726
http://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/111697.html

Geld oder Liebe? Eine alte Frage, die sich immer wieder neu stellt.
Dostojewski steckte das Zocken selber im Blut, und weil er dringend Geld benötigte, um seine Spielstunden zu decken, schrieb er diesen (für seine Verhältnisse) kleinen Roman in 26 Tagen.

Die Reichen und Schönen unter den Exilrussen vertreiben sich ihre Zeit in den Spielsälen des kleinen Kurortes Roulettenburg. Erzählt wird die Geschichte von Aleksej Iwanowitsch, dem Hauslehrer der Generalstochter Polina, in die er unsterblich verliebt.
Dem General jedoch steht das Wasser bis zum Hals. In Rußland könnte seine Erbtante sterben, weshalb er auf die erlösende Todesnachricht giert. Dann könnte bei dem hochnäsigen Franzosen de Grieux, der sich ebenfalls in Polina verguckt hat, seine Schulden tilgen.
Statt eines Telegramms erscheint die alte Dame höchstselbst und mischt den Laden kräftig auf. Nachdem sie ihr Vermögen verspielt hat, reist sie wieder nach Moskau ab. De Grieux löst sich von Polina, und der General steht vor dem Ruin.
Da springt Aleksej in die Bresche und hält um Polinas Hand an. Er will sie und den General retten, indem er die fehlende Summe am Spieltisch gewinnt. Aber je länger er zockt, desto mehr Gefallen findet er am Spiel ...

Wer nicht weiß, ob er sich auf Dostojewski einlassen soll, dem bietet sich mit Der Spieler eine Schnupperlektüre. Das Personal bleibt übersichtlich, der Plot (Wie wird jemand süchtig?) ist zeitlos, und ein Wochenende reicht allemal, um den Roman durchzuschmökern.

Wer den richtigen Draht zu einem der russischen Klassiker schlechthin gefunden hat, dem empfehle ich seinen Pentateuch (nach den ersten fünf Büchern des Alten Testaments, der Spitzname für seine Hauptwerke): Schuld und Sühne, Der Idiot, Die Dämonen, Der Jüngling und Die Brüder Karamasow. Zum nebenbei Lesen taugen die wegen ihres Umfangs von 800 bis 1.200 Seiten kaum. Wenn sie zügig gelesen werden (zum Beispiel im Urlaub oder im Krankenbett), bleibt der Kontakt zu den Figuren erhalten.

Peter L. Opmann 30.11.2015 15:07

Wohin führt das jetzt bitte nochmal?

Ursprünglich ging's ja um Weltliteratur, die den Leuten mutmaßlich durch die Schule vermiest wurde.

Ich habe mich schon mal kritisch zu Dumas geäußert, weil der die Meßlatte wohl doch knapp reißt. Rabelais fand ich interessant, weil ich den noch nicht so richtig beachtet hatte.

Aber wie ist das jetzt mit "Decamerone", "Gefährliche Liebschaften" und "Der Spieler"? Zur Schullektüre gehören diese Werke doch nicht unbedingt. Andererseits sind sie sehr bekannt - okay, wie viele Leute diese Werke gelesen haben, ist wieder eine andere Sache. Aber muß man solche Bücher hier ausführlich vorstellen? Was kommt als nächstes? Die "Verlorenen Illusionen"?

Servalan 30.11.2015 16:05

Dem Zugang zur Weltliteratur gilt meine Aufmerksamkeit, und die kann auch über Nebenwerke geschehen - siehe oben: Dostojewski.

Bei den Lehrplänen habe ich nicht nur das Pflichtfach Deutsch in der Schule gedacht, sondern an die internationale Variante, beispielsweise beim Lernen von Fremdsprachen.
Weltliteratur hat da den genialen Vorteil, daß sich kurze Informationen rasch finden lassen. Wer will, kann sich schnell ein Grundwissen verschaffen.
Außerdem eignen sich kürzere Werke zum Selbststudium: Wer zuerst eine deutsche Übersetzung liest und dann zum Original greift, besitzt eine gewisse Orientierung und muß nicht jede Vokabel nachschlagen.

Dennoch gibt es mehr als genug dröge Titel, die auch den Spezialisten an der Uni etwas abverlangen. In Gedanken habe ich eine Schülerin (oder einen Schüler) der höheren Jahrgänge in der Realschule oder im Gymnasium vor mir; als interessierte Laien vielleicht einen Azubi oder Gesellen.

Mir geht die hyperaktive Kurzatmigkeit der Buchbranche auf den Keks. Alles, was älter als sechs Monate ist, wird abgeschrieben und kommt nur noch vor, wenn Preise verliehen werden. Spätestens nach einem Jahr ist der Titel dann durch, und kein Hahn kräht mehr danach.

Während meiner Schulzeit habe ich mir quasi meinen privaten Lektüreplan zusammengestellt. Wenn ich etwas für mich entdeckt hatte, bedeutete mir das mehr als die Pflichtlektüre für die Schulnote.
Etwas in der Form wollte ich dem Publikum hier bieten. Wer will, kann sich die Rosinen herauspicken - oder sich selbst mit Vorschlägen einbringen.

Peter L. Opmann 30.11.2015 21:49

Ich habe hier reingelesen in der Erwartung, vielleicht mit Klassikern bekanntgemacht zu werden, die ich noch nicht kenne oder zu wenig beachtet habe. Deshalb auch meine Anmerkung oben.

Ich kann ja auch mal selbst etwas beitragen - einen Roman, der wohl als Klassiker gelten kann, aber nach meiner Einschätzung wenig bekannt ist. Ich habe ihn selbst auch noch nicht gelesen. Er wird gerade als Hörbuch in Fortsetzungen im Bayerischen Rundfunk präsentiert.

Laurence Sterne: Tristram Shandy (1759 - 1766)

Dazu schreibt der BR:

Zitat:

Tristram Shandy ist ein einzigartiges Werk in der Literaturgeschichte: Erschienen zwischen den Jahren 1759 und 1767, experimentiert Sterne in diesem neunbändigen Roman selbstbewusst mit der Form. In einer Zeit, als der Roman selbst noch nicht klar definiert oder gar etabliert ist, lotet Sterne bereits dessen Grenzen aus, spielt mit der Wirkung auf seine Leser und lässt wie nebenbei fragwürdig erscheinen, wie er überhaupt erzählen kann, wovon er vorgibt, erzählen zu wollen: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman.

Verspricht der Titel nämlich eine wohlgeordnete und fein aufbereitete, womöglich auf ein Ziel hin erzählte Lebensgeschichte, so enttäuscht der Erzähler diese Erwartungen sofort. Eine stringente Biografie beinhalten die neun Bände sicherlich nicht. Stattdessen prägt den Roman eine assoziative Struktur: Vor und zurück blickt der Erzähler, der sich nicht an eine Chronologie halten mag; ebenso wechselt sein Gestus - von beißender Satire oder einem spöttischen Ton bis zu pathetischen Beschreibungen. Und auch optisch verrät Sternes Roman, dass er sich nicht an das hält, was seine Gattung bisher auszeichnete.

Das Vorwort leitet die Geschichte nicht ein, es wird stattdessen nachgereicht, mitten in der Erzählung. Und die wiederum ist gespickt mit Auffälligkeiten: mit Auslassungen, Reihen von Sternchen-Symbolen, oder mit ganzen Kapiteln, die fehlen. Andere Seiten sind dafür ganz in schwarz gehalten, gefüllt mit Druckerschwärze, nicht mit sinnerfüllten Zeichen.

All das sind Hinweise darauf, dass die Ordnung hier bewusst gebrochen wird, dass Autor und Erzähler Freigeister sind, die weniger an einer Biografie interessiert sind als an der bis heute bestehenden Frage, ob sich eine solche erzählen lässt. (...)

Servalan 02.12.2015 14:36

Joseph Conrad: Nostromo (1904)
 
Penguin Popular Classics [PPC], 463 Seiten
https://de.wikipedia.org/wiki/Nostromo
https://en.wikipedia.org/wiki/Nostromo
http://gutenberg.spiegel.de/buch/nostromo-3033/1
http://www.bookrags.com/studyguide-nostromo/#gsc.tab=0

Drehbuchautor und Regisseur Dan O'Bannon schätzte (wie Ridley Scott) diesen Roman von Joseph Conrad so sehr, daß er den Raumfrachter in Alien danach taufte.
Heute empfinden viele Leute eine ausführliche Einleitung, in der die Figuren und Themen vorgestellt werden, als langweilig. In dieser Hinsicht genießt Nostromo den Vorteil, gleich in die Materie zu gehen. Die erste Szene läßt auch heute noch die meisten Actionfilme blaß aussehen.

Schon die Spanier haben im südamerikanischen Costaguana Silber aus den Bergen geholt. Jetzt gehört die Silbermine San Tome in Sulaco dem Unternehmen des englischstämmigen Charles "Don Carlos" Gould, dem "König von Sulaco", in dritter Generation.
Wenn das Silber aus den Bergen zum Dampfschiff Minerva transportiert wird, herrscht Ausnahmezustand. Geschützt von einem bewaffneten Kordon rast eine schwer beladene Kutsche im Höllentempo von der Mine bis an die Küste, und was sich ihr in den Weg stellt, wird niedergefahren. Nichts und niemand darf diesen Transport unterbrechen.
Leider liegt Sulaco vor einer Lagune, weshalb das Silber zunächst von der Kutsche in eine Schaluppe umgeladen muß, bevor es auf den Frachter des Kapitäns Giovanni Battista Fidanza kommt.
Nostromo ist der Spitzname Fidanzas, der als Capataz de Cargadores, als Boss der Schauerleute gilt. Wenn es brenzlig wird, kann sich "Don Carlos" auf seinen Mann ('nostro uomo' auf Italienisch) verlassen.
Damit alles so weiterläuft wie bisher, bedenkt die Minengesellschaft den Gouverneur der Provincia Occidental (Westprovinz) mit Geschenken. Erschwert wird das laufende Geschäft durch den wachsenden Unmut der Bevölkerung, weshalb mit einer Rebellion gerechnet wird.
Nostromo soll dafür sorgen, daß trotz der Unruhen das Silber wie üblich verschifft wird und daß das Geschäft weitergeht. Sollte der Aufstand in der Republik Costaguana erfolgreich sein, planen Politik und Wirtschaft einen Putsch: Dann wollen sie die Westprovinz für unabhängig erklären und ihre eigene Regierung einsetzen ...

Im deutschen Sprachraum wird Conrad häufig auf seine epochemachende Novelle Heart of Darkness und The Secret Agent, seinen stilbildenden Spionageroman (verfilmt von Alfred Hitchcock), reduziert. Conrad hat Besseres verdient.
Nostromo hingegen liegt im toten Winkel der Aufmerksamkeit, obwohl ihm hier das Kunststück gelingt, einen Abenteuerroman vorzulegen, der in über hundert Jahren nichts von seiner Kraft verloren hat. Darüber hinaus schildert er durch seine politische Fabel Mechanismen, die sich bei zahlreichen Regime Changes heute beobachten lassen.

Anglisten und Sprachliebhaber bewundern das brillante Englisch, das Conrad dezent und mit Understatement verwendet. Dort gilt Nostromo (neben Lord Jim) als sein bedeutendstes Hauptwerk.

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@Peter L. Opmann: Tristram Shandy hätte ich ein wenig später selbst in Spiel gebracht. Bei dem Klassiker bekommt die Ausstattung des Buches eine besondere Bedeutung. Ich empfehle die Ausgabe des Haffmans Verlag in neun postkartengroßén Bänden (obwohl gebunden und im Pappschuber, sind das Bücher für die Tasche im engsten Sinne des Wortes). Ein wenig Luxus zahlt sich doppelt aus.
Allein der verquaste Ehevertrag ist schon ein herrliches Kabinettstückchen.

Peter L. Opmann 02.12.2015 15:40

Der namenlose Drehbuchautor und Regisseur dürfte Ridley Scott heißen... :D

Servalan 05.01.2016 13:07

Zitat:

Zitat von Peter L. Opmann (Beitrag 510907)
(...), aber die SF ist heute am Ende. Es gibt keine Zukunft mehr, die man sich gern vorstellen würde, selbst eine dystopische nicht.

Genres haben meiner Ansicht nach ein gewisses Zeitfenster von mehreren Generationen, in denen sie bestimmend sind. Ritterromane und Western werden heute auch noch geschrieben, werden aber nicht umgehend im Feuilleton rezensiert.
Dann gibt es Phasen, in denen sich Genres ändern: Stoffe und Schemata werden bunt gemixt und gemasht, bis irgendwann ein neues Genre entsteht.

Viele Muster der SF finden sich mittlerweile im Krimi-/Thriller-Stoffen:
Cyberheldinnen wie Lisbeth Salander gehören inzwischen zum Repertoire.
Und wer heute eine Dystopie schreiben will, kann etwas über Zeugenschutz und neue Identitäten zu Papier bringen.
Wenn es um Hard SF geht, übertrumpfen die High-Tech-Labore der Pathologen und Forensiker die Brücken alter Raumschiffe wie der Enterprise und der Orion.
Profiler von Format eines Fitz sind die besseren Spocks.

Vor allem die Krimis von Fred Vargas sind hier ein Vorbild, weil sie sowohl vom Publikum gefeiert als auch von den Edelfedern anerkannt wird.

Peter L. Opmann 05.01.2016 15:53

Zitat:

Zitat von Servalan (Beitrag 514134)
Und wer heute eine Dystopie schreiben will, kann etwas über Zeugenschutz und neue Identitäten zu Papier bringen.

Hat Philip K. Dick schon in den 1960er Jahren geschrieben.

Meine Aussage war natürlich sehr zugespitzt. Aber ich lese die Entwicklung am Buchhandel ab: Früher gab es eine große Abteilung Science Fiction mit ein paar Fantasy-Romanen dazwischen. Heute ist die große Abteilung "Fantasy" betitelt, und mit etwas Glück steht daneben noch ein Drehständer mit SF. Und veröffentlicht werden fast nur noch mehrbändige Weltraumopern - also nur noch Stoff für die ganz harten Fans. Daraus ziehe ich die Summe: Die große Zeit der SF ist vorbei.

Dabei habe ich die Heftromane-Ära gar nicht mitbekommen. Die Stoffe waren vielleicht ein bißchen minderwertig, aber haben die Leser sicher noch mehr geprägt wie in meiner Jugend mit Heyne-, Bastei-, Knaur- oder Goldmann-Taschenbüchern.

Servalan 07.02.2016 15:28

Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit / Laus stultitiae / Moriae encomium (1511)
 
Der pure Text steht kostenlos im Projekt Gutenberg-DE bei Spiegel Online:
http://gutenberg.spiegel.de/autor/er...rotterdam-1457 (Autor: Erasmus von Rotterdam)
http://gutenberg.spiegel.de/buch/das...torheit-7105/1 (Lob der Torheit - Kapitel 1)

https://de.wikipedia.org/wiki/Lob_der_Torheit
http://www.deutschlandfunk.de/erasmu...icle_id=318666
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36166/1.html

Passend zu den Tollen Tagen der Fünften Jahreszeit möchte ich die Bühne einem kurzweiligen Klassiker geben, der im letzten halben Jahrtausend nichts von seinem Witz und seiner Ironie verloren hat.
Als die Satire erschien, wurde sie zu prompt zu einem Bestseller bei den wenigen Leuten, die entweder selbst lesen konnten oder sich jemanden leisteten, der ihnen vorlas (zu der Zeit existiert keine Schulpflicht!). Bücher waren sauteuer, die Druckindustrie mit beweglichen Lettern steckte in den Kinderschuhen (damals das Neue Medium), trotzdem verwandelte sich das Selbstlob der personifizierten Dummheit zu einem europäischen Bestseller.
Auf dem Konzil von Trient 1545 wanderte die Schmähschrift auf den Index der Römisch-Katholischen Kirche.

Erasmus von Rotterdam (irgendwann zwischen 1466 und 1469 - 1536) begann den Gepflogenheiten der damaligen Zeit entsprechend als Gelehrter und Priester unter dem Dach der Kirche. Wahrscheinlich wurde er in Rotterdam geboren und starb in Basel, die meiste Zeit seines Lebens reiste er quer durch den Kontinent und traf sich mit Geistesverwandten, daneben schwang er ständig die Gänsefeder: Er schrieb etwa 150 Bücher und verfaßte eine Unzahl Briefe, von denen über 2.000 erhalten sind.
Auf einer dieser Reisen begegnete er (Sir) Thomas Morus (1478-1535), den Verfasser des Staatsromans Utopia / De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia (1516), mit dem er sich anfreundete. Durch die historischen Fernsehserien Die Tudors und Wölfe hat der Ruf von Sir Thomas More gelitten, weil der Humanist buchstäblich über Leichen geht (er wirkt wie ein Vorläufer des "Tugendterroristen" Robespierre).
Erasmus von Rotterdam widmete More sein Lob der Torheit.

Der Theologe, Philosoph und Philologe Erasmus zog seinen Kopf durch einen Kunstgriff aus der Schlinge der Heiligen Inquisition, obwohl weiterhin das Risiko eines vernichtenden Prozesses bestand: Umständliche Widmungen der Verfasser jeglicher Schriften waren damals üblich, denn wer Theaterstücke, Sonette oder Prosa schrieb, wies so auf seinen Mäzen und Sponsor hin, der einen gewissen Schutz verhieß. Erasmus nutzt diese Mode, indem er deutlich macht, daß nicht er als Person aus Fleisch und Blut spricht, sondern seine fiktive Figur, die bloß auf dem Papier (oder Pergament) existiert. Außerdem tat er sein Werk als "Stilübung" ab.

In dem Buch entlarvt sich die Torheit, die aus dem Selbstlob gar nicht mehr herauskommt und sich ihrer grandiosen Weltherrschaft rühmt. Dabei unterstützen sie ihre Töchter (nein, nicht die Musen!), von denen jede eine christliche Todsünde verkörpert: Eigenliebe, Schmeichelei, Vergesslichkeit, Faulheit und Lust.
Diese Büttenrede hat nichts von ihrem Schmackes verloren, denn jeder bekommt sein Fett weg. Satiren bildeten damals einen Teil der völkstümlichen Unterhaltung, bei der sich auch das gewöhnliche Publikum auf die Schenkel klopfte (siehe de Costers Thyl Ulenspiegel oder Sebastian Brants Narrenschiff). Hier beginnt eine Tradition, die bis zum Kabarett und den Blogs reicht.

Viel Spaß beim Lesen!

Peter L. Opmann 07.02.2016 22:19

Dazu passend: Neulich habe ich antiquarisch das Buch "Über die Dummheit. Ursachen und Wirkungen" von Horst Geyer gekauft. Leider noch nicht gelesen. Es soll aber ein Standardwerk sein.

Beziehungsweise - im Klappentext heißt es: "Es gibt nur wenige Untersuchungen über die Dummheit, was angesichts der weltgeschichtlichen Bedeutung dieses Geisteszustandes einigermaßen beunruhigend ist. Aus dieser Unruhe ist dieses witzige und anregende Buch entstanden, das Prof. Geyer, Mediziner und Anthropologe, der Dummheit gewidmet hat."

Man sollte ja nicht so dumm sein, sich für klug zu halten, aber da konnte ich nicht widerstehen zuzugreifen.

Servalan 15.02.2016 16:23

Stanisław Jerzy Lec: Unfrisierte Gedanken (1959) / Myśli nieuczesane (1957)
 
Sämtliche unfrisierten Gedanken. Dazu Prosa und Gedichte (Sanssouci 1996, Neuausgabe 2007), 520 Seiten
https://de.wikipedia.org/wiki/Stanisław_Jerzy_Lec

Richtig, dieser Stanisław heißt Lec und nicht Lem. Er stammt aus einer großbürgerlichen Familie, die in Ostgalizien des k.u.k.-Reiches wohnte (heute West-Ukraine). 1909 geboren, überlebte ein Konzentrationslager und schloß sich dem polnischen, kommunistischen Widerstand ein. Nach der Befreiung von den Nazis verfaßte mit dem berühmteren Marcel Reich-Ranicki (MRR) Propaganda. Zeitweise arbeitete Lec im diplomatischen Dienst, weshalb er 1966 mit einem Staatsbegräbnis geehrt wurde.

Ein Betonkopf wird er kaum gewesen sein. Nach seinem Jurastudium verfaßte er Satiren und Gedichte, bevor er 1936 im schwierigen Genre der Aphorismen zur Hochform auflief.
Im Rahmen der neuen Ostpolitik unter Willy Brandt näherten sich die Bundesrepublik Deutschland und Polen einander an. Vor diesem Hintergrund fanden sich seine ersten Zitate auf den Seiten der ZEIT. Die Rubrik "Zitate" in P.M. dürfte im Laufe der Jahrzehnte nach und nach seine gesamten unfrisierten Gedanken gebracht haben; ich erinnere mich nur an wenige Ausgaben, in denen mir kein Lec-Aphorismus begegnete.

Fasse dich kurz, lautet eine der geläufigsten literarischen Regeln. Je weniger Platz zur Verfügung steht, desto schwieriger wird es, eine überzeugende, eine verführerische Balance finden. Ergo erfordern Aphorismen eine rigorose Disziplin - zum Schluß steht fast nichts mehr da.
Verglichen damit sind Gedichte und Kurzgeschichten geschwätzig.

Während des Lesens leuchten Lecs Geistesblitze ein. Denn leicht kommen einen Situation in den Sinn, in denen einer der Sinnsprüche passend wäre. Aber wenn es soweit ist, wenn der Ernstfall eintritt, dann verpatzt einem der Schock den Triumph. Also steht man da und glotzt blöd aus der Wäsche.

Der andere Stanisław ist ein Klassiker der polnischen Literatur, den es zu entdecken lohnt.

Servalan 19.02.2016 15:23

Dante Alighieri: Das neue Leben / La vita nuova (zwischen 1292 und 1295)
 
Manesse Bibliothek Band 2, Manesse Verlag 1987, 87 Seiten (mit Anmerkungen und Nachwort)
http://gutenberg.spiegel.de/buch/vit...e-leben-7787/1 (Text bei Projekt Gutenberg-DE von Spiegel Online)
https://de.wikipedia.org/wiki/Vita_Nova
http://www.mein-italien.info/literatur/beatrice.htm
http://www.dante-gesellschaft.de/aktuelles/
http://www.enotes.com/topics/vita-nuova
http://mediaewiki.de/wiki/Der_vierfa...eri,_Vita_Nova)

Weite Teile der Medien beschäftigen sich heute mit der Liebe in all ihren Schattierungen, von der ersten zarten Schwärmerei über den ersten Kuß und das erste Zusammensein bis zu Eifersucht, Liebeskummer und Trennungsschmerz. Die meisten Geschichten, Songs oder Filme drehen sich in der Regel um gewöhnliche Menschen, wobei im Hintergrund meist unbemerkt das erfolgreiche Modell von Goethes Bestseller Die Leiden des jungen Werthers (1774) schwebt (für den Titelhelden Werther war das übrigens nicht erfolgreich, denn der ist am Schluß tot!).

Doch bis dahin war das ein weiter Weg. Und wer sich in der Geschichte und der Literatur auskennt, stößt vergleichsweise früh auf eine Epoche in noch prüdere Geschichten revolutionär und epochemachend gewesen sind.
Ende des 13. Jahrhunderts (um die Zeit spielt auch Ecos Der Name der Rose) war Europa eine rückständige Halbinsel von ungebildeten Despoten, die mit ihren Gangs raubten und plünderten, wenn sie ihre winzigen Fürstentümer und Königreiche vergrößern wollten. Was die muslimischen Araber vor dem Untergang der Antike gerettet hatten, wurde in Klöstern wachsam gehütet und mühsam von Hand kopiert.
In der Frührenaissance entdeckten reiche Fürstenfamilien wie die Medici, die Este und später die Borgia die Überreste der versunkenen Antike für sich: Dabei reichte das Spektrum von antiken Fundstücken und Ruinen, die in privaten Kunst- und Wunderkammern am Hofe gesammelt wurden (die Vorläufer der Museen), bis zu einen Revival (Renaissance ~ Wiedergeburt) der wiederentdeckten Traditionen.

Der Florentiner Dante Alighieri (1265-1321) schlug nach seinem Studium eine politische Laufbahn ein. Zu dieser Zeit wurde die italienische Halbinsel durch Krieg zwischen Guelfen und Ghibellinen geprägt, weshalb gewonnene oder verlorene Schlachten politische Karrieren bestimmten.
Leider zog Dante den kürzeren, wurde mit den Kirchenbann belegt und in Abwesenheit zu einer hohen Geldstrafe und zur Niederlegung all seiner öffentlichen Ämter genötigt. Deswegen mußte er fortan Florenz meiden und suchte sich in anderen Fürstentümer Schutzherren, für die er als Philosoph und Dichter tätig war.

Im Mittelalter galt eine strikte feudale Hierarchie, lediglich hinter Klöstermauern war sein sozialer Aufstieg möglich. Der Adel sicherte sich durch dynastische Heiraten seine Privilegien, und das Gesinde war häufig zu arm, um sich eine Heirat leisten zu können. Liebe und Leidenschaft gab es trotzdem, allerdings eher im Schatten des Rechts. Das römische Latein wurde zum Standard, obwohl (oder gerade weil) das gewöhnliche Volk schon längst andere Dialekte sprach.

Dantes Liebe zu seiner angeschmachteten Beatrice mischt in 42 kurzen und kürzesten Kapiteln in italienischer Umgangssprache Prosa und Gedichte in unterschiedlichen Formen. Einerseits greift er die mittelalterliche Minneliteratur auf, da seine Sehnsucht zu der unerreichbaren Adligen nicht über Schwärmerei herauskommt und das Edelfräulein Beatrice jung verstirbt. Andererseits dürfte das die erste Coming-of-Age-Story der europäischen Weltliteratur sein. Was Cervantes durch das als Dulcinea del Toboso von Don Quijote angehimmelte Bauernmädchen verspottet, ist gut 300 Jahre vorher bei Dante tragisch ernst gemeint.

Wer vor der wortgewaltigen Göttlichen Komödie (1307-1320) zurückschreckt, findet hier ein schmales Bändchen, mit dem sich Leute identifizieren können, die zum ersten Mal Schmetterlinge im Bauch haben und himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt sind. Das ist Dante for Beginners!

Servalan 01.03.2016 17:49

Émile Zola: Geld / L'Argent (1891)
 
diverse Ausgaben, darunter Die Andere Bibliothek Band 28 Greno 1987 sowie in der Literaturkassette zum 100. Band der Anderen Bibliothek Eichborn 1993, zuletzt Insel Verlag 2012
https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Geld_(Zola)
https://fr.wikipedia.org/wiki/L'Argent
http://gutenberg.spiegel.de/buch/das-geld-5845/1 (Volltext)
http://www.tagesspiegel.de/kultur/li...g/1150854.html

Vor und nach Émile Zola hat es etliche Autoren gegeben, die das gesellschaftliche Leben ihrer Epoche in Zyklen oder Reihen von Romanen geschildert haben: Zu den berühmtesten gehören Hooré de Balzacs La Comédie humaine (Die menschliche Komödie), Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) oder Thomas Hardys Wessex-Romane. Ähnlich wie Fernsehserien heutztage bieten diese locker miteinander kombinierten Werke ein breites Panorama, das sich meist über mehrere Generationen und durch die unterschiedlichsten Milieus erstreckt.

Zola hat einige Jahre Pressearbeit bei dem Pariser Verlag Hachette geleistet, bevor er zunächst politischer Journalist und dann Romancier geworden ist. Sein 20-bändiges Opus Magnum, der Romanzyklus um die Familie Rougon-Macquart (Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, deutsch: „Die Rougon-Macquart. Die Natur- und Sozialgeschichte einer Familie im Zweiten Kaiserreich“) entstand über mehr als 20 Jahre, nämlich von 1869 bis 1893.
Ursprünglich plante Zola ein Abbild seiner Epoche, des Zweiten Kaiserreichs unter Napoleon III. 1852 bis 1870. Als die letzten Bände in den Handel kamen, war sein naturalistischer Positivismus allerdings schon wieder aus der Mode gekommen. Unter dem schriftstellerischen Nachwuchs, den er in seinem Landhaus in Médan bewirtete und betreute, befanden sich Abtrünnige wie Joris-Karl Huysmans, deren moderner Mystizismus seine Werke altbacken aussehen ließ. Zolas Engagement in der berüchtigten Dreyfus-Affäre ließ seine Auflagenzahlen weiter sinken.

Irgendwie braucht ein solch anspruchsvolles Projekt ein bindendes Konzept und das fand Zola in der Wissenschaft. Zoila tastete sich Stück für Stück an den Punkt heran, an dem für ihn alles klar und folgerichtig wird. Seine Duftmarke setzt er in seinem dritten Roman Thérèse Raquin (1867), einer Dreiecksgeschichte, mit dem ihm der Durchbruch gelingt. Für damalige Verhältnisse war der Bestseller experimentell, aber Zola baut in seinem Vorwort seinen Ansatz zu einer Formel aus: Gefeierte Wissenschaften der damaligen Zeit wie eine deterministische Biologie (Vererbung) vermischen sich mit Milieus, die in Leitartikeln gehandelte Probleme (sogenannte Arbeiterfrage, Frauenfrage, Alkoholismus usw.) als Familiendramen abhandelt.

Ich habe mich für Zola entschieden, weil er damit ein Muster liefert, das noch heute üblich ist und auch in anderen Medien angewandt wird. Seine thematische Fokussierung liefert gewissermaßen die Blaupause für all die erfolgreichen Krimireihen, von Maj Sjöwalls und Per Wahlöös Martin-Beck-Zyklus über Henning Mankells Wallander-Romane bis zum Tatort.

Natürlich schwankt die Qualität innerhalb der Rougon-Macquart beträchtlich: Unbestritten zur Weltliteratur gehören eigentlich nur die beiden Romane Nana (Band 9 über das Theater-Milieu, 1880) und Germinal (Band 13 über Bergarbeiter, 1885). Die meisten Bände zählen zum literarischen Mittelfeld, was heißt: sie lassen sich immer noch gut schmökern, aber sie reißen einen nicht vom Hocker. Je nach persönlichen Interessen lassen sich deshalb verschiedene Einzelbände empfehlen.

Geld (Band 18) wurde das letzte Mal in der Finanzkrise 2008 wiederentdeckt. Zu der Zeit entstanden Dutzende von Rezensionen, Artikeln und Beiträgen in politischen Zeitschriften wie zum Beispiel Berliner Republik, außerdem wurde der Roman als dreiteiliges Hörspiel bearbeitet.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten Kanäle (Panama, Suez, Nord-Ostsee-Kanal) und Eisenbahnen (Wettrennen der Unternehmen in den USA) finanzielle Prestigeprojekte dar. Zola zeichnet allerdings ein desillusionierendes Bild der Finanzindustrie.
Der Ingenieur Georges Hamelin ist ein Idealist, der davon träumt, durch ein Eisenbahnnetz im Mittleren Osten Pilger an die wichtigsten Stätten des Christentums zu befördern. Leider fehlt ihm das Geld. Deswegen wendet er sich an seinen Nachbarn Aristide Saccard, der Erfahrungen an der Pariser Börse hat. Saccard verschweigt Hamelin, daß er bankrott ist, und gründet mit ihm ein gemeinsames Finanzunternehmen, die Banque Universelle.
Kurz darauf befindet sich der praktisch veranlagte Hamelin auf Reisen. In seiner Begeisterung hat er Freunde und Verwandte von seinem Projekt überzeugt, die ihre Notgroschen ihm zuliebe in Kleinaktien angelegt haben. Hamelins Vertrauen scheint gerechtfertigt, schließlich steigt der Kurs.
Aber Saccard hat andere Pläne, Banque Universelle ist für ihn nur Mittel zum Zweck. Mithilfe seines Bruders, des Ministers Eugène Rougon, will Saccard den ihm verhaßten jüdischen Bankiers eins auswischen und manipuliert deshalb die Kurse ...

blubbblubb 04.03.2016 12:39

Der Name der Rose ist gut, das Buch habe ich noch nie gelesen.
Aus aktuellem Anlass sollte cih das mal in Angriff nehmen. Bisher kenne ich Kulturbanause nur den Film.

Servalan 09.03.2016 14:56

William Shakespeare: Shakespeares Sonette / Sonette (1609)
 
diverse Ausgaben, darunter Manesse Bibliothek der Weltliteratur 1983, 308 Seiten (zweisprachige Ausgabe).
https://de.wikipedia.org/wiki/Shakespeares_Sonette
https://en.wikipedia.org/wiki/Shakespeare's_sonnets
http://gutenberg.spiegel.de/buch/sonette-2186/1 (Volltext)
http://www.literaturkritik.de/public...p?rez_id=10324
http://www.nachtkritik.de/index.php?...liner-ensemble
http://www.mellow-melange.de/index.php?pid=179&thema=

Im Post #37 habe ich mich mit Dante Alighieri schon einmal der Liebeslyrik zugewandt. Ich muß gestehen, daß ich persönlich erzählerische Verse (Balladen, Epen und Dramentexte) blumigen Befindlichkeitszeilen vorziehe. Shakespeares Bühnenklassiker habe ich ziemlich bald um einen Band mit seinen 154 Sonetten ergänzt.

Einen Zeitstrahl von Dantes 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart teilen Shakespeares Sonette fast in der Mitte. Durch den Blick in die Vergangenheit verzerren sich die Zeiten, denn die älteren Jahrhunderte rücken dichter zusammen und täuschen dadurch unser Zeitgefühl.

Das London der Shakespeare-Zeit war eine boomende Metropole, obwohl die gut eine Million Einwohner (aus heutiger Perspektive) fast kleinstädtisch wirken. Der aus den Kolonien importierte Wohlstand zeigte seine Pracht in der Kultur der elisabethanischen Metropole, die mit einem Bein im Mittelalter stand und mit dem anderen in der Neuzeit.
Distanzen wurden nach Tagesritten gemessen, so daß die Karibik (das vermeintliche West-Indien) und Venedig oder Böhmen zu fernen Sehnsuchtsorten werden konnten.
Die Straßen waren laut, stanken nach Fäkalien und Pferdekot, doch wer sich unter Leute wagte, tat das auf eigene Gefahr. Gangs und Banden zogen durch die Viertel, und wer sich nicht wehren konnte, wurde überfallen oder vergewaltigt.
Dennoch pulsierte in den Gasthöfen und den übel beleumundeten Theatern das pralle Leben. Die ziehenden Gauklertruppen jedoch wurden scheel angesehen, und was für die Bühne verfaßt wurde, galt als billige Unterhaltung - einerlei, ob die Queen und die Pairs Beifall klatschten oder nicht.

Wer sich in der Literatur eine Reputation erringen wollte, mußte Verse schmieden. Sonette in der Tradition des italienischen Dichterfürsten Petrarca waren damals so beliebt wie heute Haikus und Hiphop. Virginia Woolf beschreibt diese höfische Atmosphäre in den ersten Kapiteln ihres Romans Orlando anschaulich. Hoher und niederer Adel bürgte mit seinem Namen (der sich in der obligatorischen Widmung findet) dafür, daß Sitte und Anstand eingehalten werden. Selbstgeschriebene Sonette trugen die Peers in ihren exklusiven Salons oder anderen Festen dem ausgewählten Publikum vor.

Trotz all seiner Werke bleibt Shakespeare mehr ein Phantom als ein Mensch mit einer lückenlosen Biographie. Sein kanonisierter Status befeuert die Phantasie, mit der die erhaltenen Bruchstücke zu einer Verschwörungstheorie angeordnet werden. Nach dieser Lesart ist Shakespeare das Pseudonym einer Berühmtheit aus den obersten Kreisen der Gesellschaft: Je nach Interpret wird sein Name zur Sockenpuppe für Sir Francis Bacon, Sir Christopher Marlowe (schwuler Dramenautor und Spion, der erstochen wurde), Edward de Vere, 17th Earl of Oxford oder einer Gruppe von Künstlern, Wissenschaftlern und Adligen.

Mit der Forschung ändern sich die Ansichten, und das letzte Wort in dieser Hinsicht ist nicht gesprochen. Doch verglichen mit Dante ist Shakespeare mutiger, lebhafter und geht ästhetische Risiken in einer sehr konservativen Gesellschaft ein (zum Beispiel galten vergewaltigte Frauen als entehrt und konnten deswegen von ihren Vätern, Brüdern oder dem Ehemann umgebracht werden).

Die 154 Sonette bilden einen Großzyklus, der eine Dreiecksgeschichte erzählt. Im Mittelpunkt steht ein lyrische Ich, den klassischen Lobgesang auf eine "fair lady" (eine Dame des Hochadels) auf zwei Weisen bricht und grosso modo den Weg in die literarische Moderne bereitet. Denn das Ich schwärmt zuerst für einen "fair boy" (also ein homosexuelles Verhältnis), später für eine "dark lady" (die dem konventionellen Schlönheitsideal nicht entspricht). Unterbrochen und aufgelockert wird der Liebesreigen durch jugendliche Klagen über die Ungerechtigkeit des Lebens und einen bohrenden Weltschmerz.

Regelmäßig findet sich Bearbeitungen für moderne Theateraufführungen, Vertonungen oder Hörbücher dieses fast schon zeitlosen Klassikers.

Peter L. Opmann 16.03.2016 10:31

Heute bringt die Süddeutsche eine größere Geschichte zum Thema "Schullektüre". Finde ich sehr interessant. Fünf Lehrer wurden gefragt, was sie im Unterricht lesen lassen, was sich für die Schule nicht eignet und womit sie selbst einmal gescheitert sind. Außerdem gibt es einen allgemeinen Artikel mit weiteren Lehrerstimmen. Manche Bücher sind natürlich für Jüngere. Das ist dabei herausgekommen:

Was lesen?
- Ursula Poznanski: Erebos
- Louis Sachar: Löcher. Die Geheimnisse von Green Lake
- Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker
- E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann
- Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen
- Theodor Storm: Der Schimmelreiter
- Georg Büchner: Woyzeck
- J. W. Goethe: Iphigenie auf Tauris
- Dave Eggers: The Circle
- Juli Zeh: Corpus Delicti
- Henriette Wich: Die drei Ausrufezeichen – Tatort Kreuzfahrt
- Jay Asher: Tote Mädchen lügen nicht

Was keinesfalls lesen?
- Joanne Rowling: Harry Potter
- Michel Houllebecq: Karte und Gebiet / Elementarteilchen
- Wolfgang Herrendorf: Tschick
- Bücher von Georg Klein
- Juli Zeh: Corpus Delicti
- Bernhard Schlink: Der Vorleser
- Philip Roth: Das sterbende Tier
- Camilla Läckberg: Die Schneelöwin

Was hat im Unterricht nicht funktioniert?
- Theodor Storm: Der Schimmelreiter
- Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues
- Friedrich Schiller: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua
- Friedrich Schiller: Die Räuber
- Friedrich Ani: Wie Licht schmeckt

Man sieht: Manche Bücher kommen in mehreren Kategorien vor. Von dem, was heute in der Schule gelesen wird, kenne ich einiges nicht, muß ich gestehen. Aber vielleicht sind das ja teilweise interessante Empfehlungen.

Servalan 16.03.2016 12:57

Heute wird aus meiner Sicht wesentlich mehr Gegenwartsliteratur unterrichtet als zu meiner Zeit. Ein weiterer wichtiger Faktor dürfte der Schultyp sein: Klassisch-bildungsbürgerliche altsprachliche Gymnasien oder (möglicherweise noch kirchliche) Internate wie Salem dürften die letzten Dinosaurier sein, die lang gehegte Traditionen pflegen und die Schülerschaft mit Stoffen traktieren, die den Jungen nicht gefallen soll. Gymnasien neueren Typs, Privatschulen und die Sekundarstufen I und II an Fachhochschulen oder anderen weiterführenden Schulen schleppen weniger Ballast mit sich. Ohne die Pflichtfächer Latein und/oder (Alt-) Griechisch reduziert sich zum Beispiel die Antike auf ein Minimum.

Naja, die Kategorie "Was nicht lesen?" finde ich aufschlußreich.
Diese Romane scheinen die Pennäler von sich aus zu lesen, ergo scheiden die aus.
Das erinnert mich an Honeckers hilflosen Umgang mit Beatmusik und Rock'n'Rocll, der gar nicht kapieren konnte, was die Jugend seines Landes an diesen merkwürdigen Tönen so begeistert hat. Sein "Jeh, jeh, jeh" klingt in meinen Ohren sehr nach Altersschwerhörigkeit.

Und durch die G8-Bildungsreform und Bologna quillt der Lehrplan heute über. Kein Wunder, daß schon Kinder mit Ritalin und anderem Zeugs gedopt werden, um das Bulimie-Lernen zu verinnerlichen.
Aus meiner eigenen Erfahrung gerät dabei aus dem Blick, welche Rolle die Lehrerinnen und Lehrer selbst spielen. Ein guter Pädagoge kann seine Klasse für die unmöglichsten Dinge und Sachen begeistern, aber so etwas läßt sich nicht aus dem Hut zaubern.
Zu allererst müssen seine Kompetenzen sattelfest sein, und die Klasse muß spüren, daß sich die oder der da vorne nichts vormachen läßt.
Gute Konzepte brauchen Zeit, und die hat heute anscheinend niemand mehr. Und wer in einer Theater AG alte Stücke live auf die Bühne bringt, wird anders darüber denken als die Mitschüler, die sich mühsam durch die Pflichtlektüre quälen, weil die Note stimmen muß.

Servalan 19.03.2016 15:37

Gilbert Keith Chesterton: The Man Who Was Thursday / Der Mann, der Donnerstag war (1907)
 
http://www.gutenberg.org/ebooks/1695
http://www.chesterton.org/lecture-10/
http://www.booksandculture.com/artic...jun/10.30.html
https://en.wikipedia.org/wiki/The_Man_Who_Was_Thursday
https://de.wikipedia.org/wiki/G._K._Chesterton
https://en.wikipedia.org/wiki/G._K._Chesterton

Damit diese Kolumne abwechslungsreich bleibt, springe ich in den Zeiten und Epochen hin und her: Pro Seite beschränke ich mich deshalb auf eines oder zwei Werke, die älter als 600 Jahre sind; zum anderen habe ich ein persönliches Faible für Geschichten, die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind.
(Außerdem kann ich meine Erziehung nicht leugnen: Zu meiner Schulzeit waren sowohl der Lehrplan als auch das Angebot in den Buchhandlungen und Bibliotheken ziemlich europalastig. Häufig gab es nur bereinigte, gestraffte und gekürzte Fassungen von außereuropäischen Klassikern. Der jeweilige Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse lieferte einen Anlaß für eine Stippvisite und einige Appetithäppchen.
Durch den Boom der Nachkriegszeit und die Begeisterung für die Jugendkultur der USA wurden angelsächsische Bücher quasi allgegenwärtig. Lektüren im Englischunterricht kamen später dazu.)

G.K. Chesterton fällt in diese Epoche des technischen Aufbruchs und des gesellschaftlichen Umbruchs. Seine berühmteste Schöpfung ist der spitzfindige Pater Brown (im Original Father Brown), der in mehreren Bänden von Kurzgeschichten der Polizei auf die Sprünge hilft oder Verbrechen verhindert. Allerdings wird er wenig gelesen - es sei denn, von Leuten, die das Kriminalgenre studieren oder Anglisten. Die meisten kennen diese scheinbar biedere Figur aus dem Kino, aus Fernsehserien oder Hörspielen. Dieser Erfolg erweckt einen falschen Eindruck.
G.K. läßt sich nicht auf Pater Brown reduzieren, vielmehr gehörte der Journalist, Romancier und Essayist zu den umtriebigen Vielschreibern. Die englische Wikipedia schätzt sein imposantes Werk auf 80 Bücher, mehrere hundert Gedichte, über 200 Kurzgeschichten, um die 4.000 Essays sowie einige Theaterstücke.
Bei dem Pensum schleichen sich gewisse Routinen ein, die sich in seiner Vorliebe für bestimmte Redefiguren zeigt. Ihnen verdankt er seinen Spitznamen "prince of paradox". Wenn er scheitert, liest sich das heutzutage pubertär-pennälerhaft, andererseits kippt sein satirischer Humor oft ins Bizarre und Skurrile, wodurch er manchmal wie ein übervorsichtiger Vorläufer von Monty Python's Flying Circus wirkt.

Diese Masche hat Chesterton in etlichen Werken durchsexerziert. Dabei unterfüttert er seine Stories mit christlichen Allegorien (der Anglikaner trat später zur Römisch-Katholischen Kirche über), wodurch sie so etwas wie Koans in Cinemascope werden. Neben zahlreichen Hommagen wurden seine besten Ideen immer wieder von anderen abgekupfert.
Das trifft auch auf sein Hauptwerk, Der Mann, der Donnerstag war, zu: Die Szene mit den vermummten Verschwörern auf den ersten Seiten von Tim und Struppi: Die Zigarren des Pharaos lehnt sich deutlich an eine frühe Schlüsselszene des metaphysischen Thrillers an.

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderte grassierte im Vereinigten Königreich die Angst vor Terroristen. Unter den Exilanten aus Osteuropa wurden anarchistische Spione vermutet, die mit ihren Netzwerken die Gesellschaft untergruben und schlimmstenfalls Revolutionen anzetteln konnten. Hier kommen verdeckte Ermittler ins Spiel, denn auch neunmalkluge Besserwisser aus den höchsten Kreisen liebäugeln mit radikalen Ideen.

Im London King Edwards VII wird Gabriel Syme von Scotland Yard rekutiert, der einen anarchistischen Kreis infiltrieren und außer Gefecht setzen soll. Syme empfiehlt sich, indem er auf einer Party des Poeten Lucian Gregory den Gastgeber in ein Streitgespräch verwickelt. Die beiden Debattierenden verbeißen sich ineinander, bis Gregory Syme vorschlägt, ihn in den Obersten Rat der Anarchisten Europas einzuschleusen.
Der besteht aus sieben Personen, die sich konspirativ treffen und nur unter ihren Decknamen kennen, die den Wochentagen entsprechen. Symes Alter Ego lautet Donnerstag.
Allerdings schöpft der schon beim ersten Treffen in einem Hotel den Verdacht, daß noch andere mit gezinkten Karten spieler. Alle Verschwörer tragen falsche Bärte, Perücken und ähnliche Accessoires, und nicht immer wirken die Legenden überzeugend.

Das flotte Erzähltempo täuscht über die episodische Struktur der Scharade hinweg, im Grunde besteht die Nummernrevue aus witzigen Pointen, verblüffenden Kehrtwenden und einem irrwitzigen Überbietungswettbewerb, der irgendwann zu Slapstick wird. Verglichen damit bleiben Chestertons Figuren blass.
Deshalb liest sich sein Meisterwerk wie eine Reihe von Kabinettstückchen.

Servalan 23.03.2016 16:51

J.B. Heinrich Savigny und Alexandre Corréard: Schiffbruch der Fregatte Medusa (1818 / 1821)
 
Der vollständige Titel lautet: Schiffbruch der Fregatte Medusa auf ihrer Fahrt nach dem Senegal im Jahr 1816, oder vollständiger Bericht von den merkwürdigen Ereignissen auf dem Floß, in der Wüste Sahara, zu Saint-Louis und in dem Lager zu Dakar / Naufrage de la frégate La Méduse, faisant partie de l'expédition du Sénégal, en 1816 ; relation contenant les événements qui ont eu lieu sur le radeau, dans le désert de Sahara, à Saint-Louis et au camp de Daccard ; suivie d'un examen sous les rapports agricoles de la partie occidentale de la côte d'Afrique, depuis le Cap-Blanc jusqu'à l'embouchure de la Gambie
Deutsche Ausgaben Greno 1987 (139 Seiten), zuletzt Matthes & Seitz 2005
http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt...0Méduse.langFR (Volltext in Französisch)
https://fr.wikipedia.org/wiki/Le_Radeau_de_La_Méduse

Neben den wichtigen und bedeutenden Werken gehören zur Klassik im weitesten Sinne auch die Arbeiten der Pioniere, die zur Entwicklung beitragen, obwohl sie nur selten vom Publikum gewürdigt werden oder nur Spezialisten bekannt sind. Ein gelegentlicher literaturgeschichtlicher Blick hilft einem, eigene Vorurteile oder Wissenslücken zu erkennen, manchmal verändern sie Perspektive. Meist sind Stoffe nämlich vieler älter als gedacht. Wenn diese Werke zurecht kanonisiert worden sind, werden sie regelmäßig wiederentdeckt, nachgedruckt und für jüngere Generationen neu aufgelegt.

Diesmal habe ich mir einen frühen dokumentarischen Roman herausgepickt, der ein ein ganzes Land in Aufruhr versetzt, die Regierung erschüttert und die Schiffahrt selbst revolutioniert hat. Den Untergang der Fregatte Medusa kennen heute sogar diejenigen, die keine Ahnungen haben, was damals eigentlich passiert ist:

England und Frankreich pokerten in den Napoleonischen Kriegen auch um Kolonien, und 1816 war Frankreich im Vorteil, weshalb es die westafrikanische Kolonie Senegal zurückgewinnen konnte. Eine der vier Fregatten, die Siedler in die Kolonie bringen sollte, war die "Méduse". Der Kapitän hatte zwar die erwünschte Gesinnung, als Emigrant aber kaum Erfahrung auf hoher See. Die "Méduse" läuft auf Grund, aber es gibt nur sechs Rettungsboote. Von den gut 400 Passagieren und Crewmitgliedern retten sich knapp 149 vor dem nassen Tod auf ein rasch zusammengezimmertes Floß. Nur 15 Personen überlebten die zehn Tage auf dem Meer. (Weitere Details siehe Wikipedia)

Von der Resonanz läßt sich das Desaster mit dem Untergang der "Titanic" hundert Jahre später vergleichen.

Über das Monumentalgemälde Das Floß der Medusa / Le Radeau de la Méduse (1819) von Théodore Géricault (1791–1824), das heute im Louvre hängt, schreibt sich der Schiffbruch bis heute in die populären Medien und die hohen Künste ein. Zitate und Anspielungen finden sich in Hergés Tim und Struppi wie in René Goscinnys und Albert Uderzos Astérix. Der Stoff wird immer mal wieder zum Anlaß für Romane, Filme und Musik.

Zwei der Überlebenden, der Arzt Heinrich Savigny und der Ingenieur-Kartograph Corréard, faßten ihre Empörung in Worte und landeten damit einen veritablen Bestseller. Gut 150 Jahre vor Truman Capotes Kaltblütig / In Cold Bood (1965) und vor David Simons erzählerischem Journalismus über das Morddezernat (Homincide 1991) und die Drogenszene in Baltimore (The Corner 1997) entsteht so ein einflußreiches Dokument über menschliche Abgründe und Hoffnungen.

Die Unsicherheiten der damaligen Gesellschaft spiegeln sich in der Sprache, die mehr verrät, als es zunächst scheint. Der schwülstig-barocke Titel folgt noch der ehrwürdigen Tradition der Berichte stolzer Seefahrer, die unter Lebensgefahr Weltumsegler begleitet haben (wie Georg Forster).
Aber Heinrich Savigny und Corréard sind moderne positivistische Wissenschaftler, die nüchtern Fakten aufzählen und Listen nicht scheuen. Zu der Zeit muß das Publikum ähnliche Werke wie Defoes Robinson Crusoe und Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg im Hinterkopf gehabt haben, die letztlich immer etwas Gutes bewahrt haben.

Wie später bei Truman Capote zerstören auch hier die Autoren eine Idylle, wodurch der Bericht etwas Dystopisches bekommt. Der schonungslose Bericht zeigt, wozu gewöhnliche Menschen in Extremsituationen fähig sind. (In ihrer Not haben sich die Überlebenden kannibalisch ernährt.)

Servalan 13.04.2016 16:24

Ben Johnson: Volpone, or The Fox / Volpone oder Der Fuchs (1605 oder 1606)
 
diverse Ausgaben, unter anderem in: Ben Johnson: Three Comedies (Penguin Classics), Seite 35-171.
http://www.gutenberg.org/ebooks/4039 (Volltext)
http://www.dtver.de/downloads/leseprobe/f----425.pdf (Volltext, deutsche Übersetzung von Stefan Zweig)
https://de.wikipedia.org/wiki/Volpone
https://en.wikipedia.org/wiki/Volpone

Wenn sich Gauner gegenseitig austricksen wollen, beginnt eine schwarze Komödie, die tief blicken läßt. Ein betrogener Betrüger allein wirkt langweilig, altmodisch und oft belehrend, da bleibt der Genuß auf der Strecke leicht auf der Strecke. Sobald aber jeder glaubt, er könne seine Konkurrenten übers Ohr schlagen und den fetten Reibach absahnen, wird es lustig und mancher Witz erweist sich als Bumerang.
Auf diese Weise bleibt das Spiel offen.

Zu den besten Gaunerkomödien zählt Ben Johnsons rasantes Drama Volpone, or The Fox, das auch heute noch erfolgreich inszeniert und öfter mal verfilmt wird. Johnson bemüht sich gar nicht um Realismus, lieber nutzt die Möglichkeiten der Fabel und überzeichnet Typen wie in einer Karikatur. Wer wollte, konnte die lebendigen Vorbilder erkennen ...
Johnson rangierte in der Gunst des Londoner Publikums an der Spitze und stritt sich mit Shakespeare und Christopher Marlowe um die vordersten Plätze.

Ein verdorbenes, gieriges und zugleich elegant prunkendes Venedig gibt die Kulisse für die Posse um Volpone ab, den Fuchs, der ein Kabinett von Erbschleichern anlockt, um ihnen das Fell (oder das Gefieder) über die Ohren zu ziehen.
Sein Diener Mosca, die Fliege, verbreitet das Gerücht, der steinreiche Volpone liege im Sterben und werde seiner Krankheit erliegen, an der der Patrizier schon lange leidet. Nach und nach stellen sich Voltore, der Geier (ein Rechtsanwalt), Corbaccio, der Rabe (ein alter Adliger) und Corvino, die Krähe (ein Kaufmann) ein, natürlich mit einschmeichelnden Geschenken.
Schillernde Nebenfiguren vervollständigen das Ensemble: Corbaccios Sohn Bonario, der seinen Vater davor hüten will, in sein Unglück zu laufen, und zum Dank enterbt wird; ein englischer Ritter mit verblasenen politischen Ambitionen (Sir Politic Would-Be) mit seiner papageienhaften Gattin; Pilger, ein Reisender mit mehr Grips; der Zwerg Nano, der Hermaphrodit Androgyno, der Kastrat Castrone und die Richter von Venedig.

Venedig sehen ... und erben, so lautete der kalauernde Titel einer Verfilmung aus den 1960er Jahren.

Peter L. Opmann 25.04.2016 15:58

Die Augsburger Allgemeine hat die Aktion der Süddeutschen vom März wiederholt, Lehrer zu fragen, was sie als Schullektüre empfehlen und was nicht. Die Geschichte war am Samstag im Feuilleton.

Das sagen Augsburger Lehrer:

Was sollten Schüler lesen?
- Wolfgang Herrendorf: "Tschick" (ist aber wohl zu dick)
- Das Tagebuch der Anne Frank
- Daniel Kehlmann: "Ruhm"
- Thomas Mann. "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" ("Buddenbrooks" ist wohl zu dick)

Was kam überhaupt nicht an?
- Ist von Schüler zu Schüler verschieden
- Z. B. "Mit Jeans in die Steinzeit", "Die Insel der blauen Delfine" (generell was vor 20 Jahren hip war)
- Bertolt Brecht: "Leben des Galilei" (erfordert als Drama zu große Fantasieleistung)
- Birgit Vanderbeke: "Das Muschelessen"

Persönliche Empfehlung:
- Blake Nelson: "Paranoid Park"
- Daniel Glattauer: "Gut gegen Nordwind"
- Aldous Huxley: "Schöne neue Welt"
- Markus Zusak: "Die Bücherdiebin"

Servalan 01.05.2016 14:41

Lukian von Samosata: Lügengeschichten und Dialoge (Antike)
 
Diverse Ausgaben, darunter Band 1 der Anderen Bibliothek im Greno Verlag, Nördlingen 1985, hrsg. von Hans Magnus Enzensberger.
Zuletzt Matrix Verlag 2014.
https://de.wikipedia.org/wiki/Lukian_von_Samosata
http://gutenberg.spiegel.de/autor/lu...n-samosata-391 (Volltext-Übersetzngen bei Gutenberg.de)
http://www.zeno.org/Literatur/M/Lukian

Wie versprochen, geht es nun ganz weit zurück in die Vergangenheit - und zwar in das erste Jahrhundert unserer Zeitrechnung.
Der Autor, Lukian von Samosata, lebte von 120 bis 180 oder 200 (darüber streiten sich die Gelehrten) und wurde am Oberlauf des Euphrat geboren, also im Grenzgebiet der heutigen Staaten Türkei, Irak und Syrien. Zu seiner Zeit war Samosata die Hauptstadt des Königreichs Kommagene, Lukian bezeichnete sich selbst als Syrer (nach der römischen Provinz Syria).
Im Laufe seines Lebens bereiste er mehrmals das Mittelmeer, dabei unterrichtete er als Lehrer oder bekleidete Ämter von Gallien bis ins ägyptische Alexandria.

Historiker kennen das Problem: Was über Jahrtausende überliefert wird, hat nicht unbedingt etwas mit Qualität zu tun. Manche Werke aus der Epoche sind lediglich als Zitate in anderen Werken überliefert; Mißverständnisse, Schreibfehler oder bewußte Fehler der Kopisten sorgen für weitere Entstellungen.
Wessen Werke es in Häppchen in den Lehrplan vergangener Zeiten geschafft hatte (Caesar, Cicero & Co.), war deutlich im Vorteil. Auf der anderen Seite finden sich die Autoren der jeweiligen Gegenwart, die für das werben, was ihnen persönlich gefällt und so zur (Wieder-) Entdeckung beitragen.
In diesem konkreten Fall gebührt Christoph Martin Wieland (1733-1813) dieses Verdienst, denn der Aufklärer aus Weimar hat Lukian von Samosata neu übersetzt und bildet heute noch den Fundus der deutschsprachigen Online-Volltexte.

Berechtigte Quellenkritik kippt bei allzu viel Mißtrauen in Paranoia um.
Desinformation gehört zum Standard-Handwerk jedes Geheimdienstes, und Fälschungen sind ein übliches Mittel, um irgendwo Ansprüche anmelden zu können (ich verweise auf das Beispiel der "Konstantinischen Schenkung" des Vatikans).
Was Geschichte betrifft, kursieren diverse Theorien über erfundene und gefälschte Jahrhundert herum.
Die extremste Verschwörungstheorie verwirft alles vor dem 16. Jahrhundert als Lüge und interpretiert die Antike als pure Erfindung vor allem der Renaissance: Nach dieser Lesart haben sich die Königshäuser erhöht, indem sie ihre Regierungszeit in einer antiken Fantasywelt gespiegelt und verdoppelt haben. Diese beiden dynastischen Verzeichnisse sollen danach allerdings nur Allegorien astromonischer Ereignisse sein.

Sowohl Lukian von Samosata als auch Wieland hätten sich köstlich über diese verstiegenen Spekulationen der VT'ler amüsiert. In Post #31 habe ich Das Lob der Torheit empfohlen, und ich kann hier ergänzen, daß der Satiriker Lukian von Samosata sowohl Erasmus von Rotterdam als auch Thomas Morus inspiriert hat.

Der Syrer machte sich über alles lustig, was seinen Zeitgenossen hoch und heilig war. Seine Qualität liegt in der Tatsache begründet, daß seine Kritik heute noch sticht: Er macht sich über Sekten und Mystiker lustig, lobt hinterfotzig den Parasiten und feiert die Lüge. Von ihm stammt eine der frühesten Geschichten über Luft- und Raumfahrt. Seine Hetärengespräche (die Egon Schiele zu Gemälden angeregt haben) entlarven die feine Gesellschaft, die sich diesen antiken Edel-Escort-Service (vom Anspruch glichen die "Damen des Gewerbes" eher Geishas als Callgirls) leisten konnte.

Durch das Format der Buchrolle bleiben seine Werk schlank und übersichtlich, meist schwankt die Länge zwischen 40 und 60 Seiten.

Servalan 23.05.2016 17:10

Mary Shelley: The Last Man / Verney, der letzte Mensch (1826)
 
Diverse Ausgaben, darunter The Hogarth Press 1985, 342 Seiten
https://en.wikipedia.org/wiki/The_Last_Man
https://de.wikipedia.org/wiki/Verney,_der_letzte_Mensch
http://www.gutenberg.org/ebooks/18247 (Volltext auf Gutenberg)
http://www.gutenberg.org/ebooks/18247 (Englisches Audiobook in Public Domain)
https://www.ualberta.ca/~dmiall/Shel...n_synopsis.htm (Synopsis / Kurzfassung)
https://skullsinthestars.com/2009/04...-the-last-man/

Brian K. Vaughan und Fiona Staples haben mit ihrer DC Vertigo-Reihe Y: The Last Man einen modernen Comicklassiker geschrieben, der weltweit ein riesiges Publikum gefunden und Lob bei der Kritik eingeheimst hat. Wer tiefer in die Materie gestiegen ist, wird dabei früher oder später über einen Roman gestolpert sein, der von der Verfasserin des legendären Frankenstein, or The Modern Prometheus stammt: Mary Shelley.

Aus meiner Sicht war ein Klassiker aus weiblicher Hand in dieser Rubrik mehr als überfällig, aber die sind rar gesät. Obwohl es sie gab, wurden sie kaum gewürdigt, und des öfteren mußte die eine oder andere Welle der Frauenbewegungen bei der Wiederentdeckung nachhelfen.
Anglisten oder Fans der Schauerliteratur ist Mary Shelleys Name geläufig, das gewöhnliche Publikum begnügt sich lieber mit dem Namen ihrer berühmtesten Schöpfung.
Ihr apokalyptischer Roman über eine seltsame Seuche im Jahre 2092 wurde zu Lebzeiten verrissen, obwohl Mary Shelley ihn als ihren Lieblingroman bezeichnete. Erst in den 1960er Jahren wurde das vergessene Werk neu aufgelegt, weitere Ausgaben folgten.

Zu ihrer Zeit gehörte Mary Shelley zur Prominenz und war bestens mit den Ikonen ihrer Epoche verbunden: Ihre Mutter Mary Wollstonecraft hatte seinerzeit durch ein feiministisches Gründungsmanifest Furore gemacht, während ihr Vater der anarchistische Sozialphilosoph William Godwin war. Ihr tragisches Leben wurde durch etliche Tode und Verluste in der Familie geprägt, obwohl sie Teil einer Clique gewesen ist, die sich Freiheiten herausnahmen und Konventionen eher lächerlich fanden.
Der Entstehung ihres Frankenstein-Romans hat Ken Russell in Gothic ein Denkmal gesetzt: Den kalten und stürmischen Sommer 1816 verbrachte der Dichter Percy Bysshe, ihr Ehemann, mit Claire Clairmont, ihrer Cousine, in einer Villa am Genfersee. Zusammen mit Lord Byron und dem Arzt John Polidori wollte die illustre Runde je eine Gespenstergeschichte wie in den Bänden von August Apel und Friedrich August Schulze (unter dem Pseudonym Friedrich Laun).zu Papier bringen ...

In The Last Man geht die Welt in Zeitlupe zugrunde. Trotz der futuristischen Jahreszahlen befinden wir uns einer Pferde- und Postkutschen-Ära. 2073 tritt der englische König zurück, wodurch das Land demokratischer wird. Besonders die ersten beiden Teile lesen sich wie ein Schlüsselroman aus dem frühen 19. Jahrhundert: Shelley, Byron & Co. lassen sich leicht wiedererkennen.
Zu Beginn spielt das Drama in Cumberland und in London auf der isolierten Insel. Zwischen Griechanland und der Türkei bahnt sich ein Befreiungskrieg an, während die Nachricht von einer merkwürdigen Seuche ein besseres Gerücht bleibt. Als die Gefahr erkannt wird, ist es längst zu spät: Tausende werden dahingerafft, aber einige Leute bleiben immum.
Etwas muß geschehen.
In Großbritannien leben bloß noch 2.000 Menschen, als ein Trupp Abenteurer in den Süden aufbricht - erst nach Frankreich, dann in die wilde Schweiz und nach Österreich. Das Ziel der Flüchtlinge liegt in Griechenland ...

Servalan 31.05.2016 17:24

Massimo Bontempelli: 522. Racconto di una giornata (1932)
 
Deutsche Ausgabe: 522. Ein Tag aus dem Leben eines Automobils (S. Fischer 1996), 123 Seiten.
https://de.wikipedia.org/wiki/Massimo_Bontempelli
https://it.wikipedia.org/wiki/Massimo_Bontempelli
http://www.britannica.com/biography/Massimo-Bontempelli
https://de.wikipedia.org/wiki/Magischer_Realismus (Magischer Realismus)
https://de.wikipedia.org/wiki/Futurismus (Futurismus)

Bei meinem eigenen Lektüreplan habe ich auf Abwechslung geachtet, weil ich mich schnell gelangweilt habe und Neues zu entdecken meine Sinne geschärft hat. Aus diesem Grund stelle ich diesmal einen Autoren und ein Werk vor, das im deutschsprachigen Raum wohl weitgehend unbekannt sein dürfte.

Trotz dieses Makels habe ich es ausgewählt, weil es für mich viele Dinge auf den Punkt bringt: Zum einen verknüpft sich in ihm die künstlerische Avantgarde des italienischen Futurismus mit dem Magischen Realismus, der mehrere Jahrzehnte zum Markenzeichen für Literatur aus Lateinamerika geworden ist.
Andererseits knüpft er mit seinem belebten Gegenstand an alte Mythen, Märchen und Sagen an, und diese Tradition setzt sich in der modernen Fantasy und Science Fiction in lebendigen Raumschiffen oder den baumähnlichen Baumhirten der Ents fort.
Außerdem werden solche Ansätze gern in Waldorfschulen oder bei Creative Writing-Kursen genutzt, tote Dinge zum Leben erweckt werden sollen. Allerdings kann das leicht schiefgehen, und dann wird es peinlich ...

Massimo Bontempelli (1878-1960) verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Lehrer und Journalist. 1921 und 1922 verbrachte er einige Monate in Paris, wo er die französische Avantgarde kennenlernte. Er brannte vor Leidenschaft und wollte in Italien etwas Vergleichbares auf die Beine stellen. Dadurch vernetzte er sich mit Künstlern und Literaten, die später bedeutender wurden als er: Alberto Savinio, Giorgio de Chirico, Luigi Pirandelli, Curzio Malaparte.
Der Futurismus wird heute mit spitzen Fingern angefaßt, weil er sich für Krieg und Faschismus begeisterte. Auch Bontempelli gehört zu den begeisterten Anhängern des Duce Bebito Mussolini, der durch seine Verbindungen zunächst an einflußreiche Posten gelangt. Weil er von der orthodoxen Parteilinie abweicht, fällt er in Ungnade und wird 1939 aus der Partei ausgeschlossen. Später wird er nach Venedig verbannt.

Die Futuristen feiern die modernsten Maschinen, begeistern sich für den Rausch der Geschwindigkeit und lieben heiß gewordenen Stahl. Was damals hochmodern war, steht heute als Oldtimer aus der Guten Alten Zeit im Museum. Durch diese Distanz bekommt der futuristische Aufbruch und Ausbruch einen Beigeschmack des Niedlichen, dem auch Bontempelli nicht entrinnt - manches liest sich unfreiwillig komisch.

Heldin des schmalen Romans ist das Fiat-Modell 522, das auf der ersten Seite vom Fließband läuft und so geboren wird. Gekauft wird der naive Wagen (Ähnlichkeiten mit Edmond Calvos Comicheldin Rosalie sind unverkennbar) von dem jungen, sportlichen Bruno, der mit ihr quer durch die Lande brettert. Bei der Höchstgeschwindigkeit von 90 Stundenkilometern schießt 522 über den Asphalt - aber noch gibt es überall Pferde. Und natürlich ist die blecherne 522 eifersüchtig auf Brunos hübsche Beifahrerinnen.
Im 13. und letzten Kapitel landet 522 schließlich im Graben.

Servalan 08.06.2016 16:15

Pedro Calderón de la Barca: El gran teatro del mundo (um 1630) / Das große Welttheater (1981)
 
Diverse Ausgaben, darunter Diogenes Taschenbuch 1981, 81 Seiten (mit Nachwort)
https://de.wikipedia.org/wiki/Das_große_Welttheater
http://gutenberg.spiegel.de/buch/das...theater-5443/1 (Volltext der deutschen Übersetzung von Joseph von Eichendirff, 1846, auf Gutenberg.DE)
http://www.cervantesvirtual.com/obra...-del-mundo--0/ (Volltext in der Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes)
http://www.welttheater.ch/geschichte_calderon.asp
http://universal_lexikon.deacademic....ße_Welttheater

Wer mit den Matrix-Filmen vertraut ist, kennt den Ausspruch, das Leben sei nur ein Traum.
Dieser Gedanke hat allerdings eine lange Geschichte, und im erzkatholischen Spanien des 17. Jahrhunderts brachte Pedro Calderón de la Barca (1600-1680) sein Versdrama Das Leben ist ein Traum / La vida es sueño auf die Bühne.

Zahlreiche strenge religiöse Strömungen verachten Spaß, Vergnügen und die Lust am Leben. Deswegen haben sie Schwierigkeiten, das ganz gewöhnliche Leben von einfachen Menschen abzubilden. Andererseits brauchen sie die Medien, um ihre Sicht der Dinge und der Welt unter die Leute zu bringen und die junge Generation mit ihren Vorstellungen vertraut zu machen.
Monty Python machte die Spanische Inquisition zur Witzfigur, aber im Spanischen Weltreich konnte ein falsches Wort rasch Kerkerhaft und Folter für den (vermeintlichen) Ketzer nach sich ziehen. Entsprechend vorsichtig gingen die Autoren zu Werke, schließlich durfte auch das Königshaus nicht beleidigt werden.

Aus diesem Grund bestimmen die christlichen Feiertage mit ihren Festivitäten den Jahresablauf. Wie in anderen Ländern auch werden besonders Ostern und Fronleichnam mit Prozessionen und Festspielen zelebriert, siehe die Passionsspiele in Oberammergau.
So wußten die hohen Herrschaften einerseits, was sie erwartet, andererseits wurde kein realer Mensch durch seine Hauptrolle im Stück erhöht - vielmehr wurde ein Exemplum statuiert, ein allegorisches Beispiel, das als Richtschnur diente.

Wie seine René Descartes oder Miguel de Cervantes kann der adlige Calderón auf ein bewegtes Leben zurückblicken: Der Jesuitenschüler wollte zunächst Priester werden, verdingte sich jedoch wenig später als Landsknecht. Der Hofkaplan König Philipps IV. leitete und wurde Nachfolger des berühmten Lope de Vega als Hofdramatiker und Leiter des königlichen Theaters.
Er galt als bester Dramatiker seiner Zeit, und heute noch werden seine Werke zum Beispiel bei den Ruhrfestspielen oder von der Welttheater-Gesellschaft Einsiedeln aufgeführt.
Nach heutigen Maßstäben war er ein Vielschreiber: ca. 120 Dramen (sog. Comedias), 80 Fronleichnamsspiele (Autos sacramentales) und etliche Kurzszenenfolgen (Zarzuelas) sind erhalten geblieben.

Das große Welttheater zählt zu den Fronleichnamsspielen.
Ähnlich wie Fabeln personifizieren Allegorien abstrakte Eigenschaften, Gefühle oder Prinzipien und spitzen sie dramaturgisch zu. Hier steht der Mensch an sich im wahrsten Sinne des Wortes nackt auf der Bühne, und mit ihm ist jeder Mensch gemeint, egal, ob jung oder alt, arm oder reich, gesund oder moribund.
Der Schöpfer oder der Meister erweckt die Menschen wie Puppen tanzen, dadurch erlaubt er einen Blick hinter die Kulissen. Er weist den aufgerufenen Schauspielern ihre Rolle zu.
Während die Menschen in der Matrix Programmen begegnen, bedient sich der Schöpfer hier seiner Helfer Macht, Demut, Schönheit, Überfluß, Mühsal und Elend, um den Menschen den ihnen zugedachten Platz in der Gesellschaft zuzuweisen.

Die deutsche Klassik und die Romantik entdeckten das konservative Stück für ihre Zeit neu.
Wer mal wissen will, was es abseits von René Pollesch oder Rimini Protokoll, jenseits von Thomas Bernhard oder Sarah Kane sonst noch an Möglichkeiten auf dem Theater gibt, sollte mal reinschnuppern.

Servalan 14.06.2016 17:57

Théophile Gautier: Le Roman de la momie / Der Roman der Mumie (1858)
 
Diverse Ausgabe, daunter Maxi-Poche, Classique Français 1995, 253 Seiten
https://beq.ebooksgratuits.com/vents/gautier-momie.pdf (Volltext bei der La Bibliothèque électronique du Québec)
https://fr.wikipedia.org/wiki/Le_Roman_de_la_momie
http://www.mediterranees.net/romans/momie/sommaire.html

Das antike Ägypten findet eigentlich immer ein dankbares Publikum, und das schon seit geraumer Zeit. Allerdings verschiebt sich der Schwerpunkt, so daß mal historisch belegte Fakten im Vordergrund stehen (siehe Jan Assmann), mal eher eine esoterische Wunschvorstellung (ich verweise auf das Buch von E.W. Hornung: Das esoterische Ägypten). Dem Alter der gewünschten Leserschaft läßt sich das Ambiente anreichern, Erotik für Erwachsene oder Hinweise auf das Alte Testament für Bibelfeste. Und seit C.W. Cerams Sachbuch-Klassiker und Bestseller Götter, Gräber und Gelehrte läßt sich die Vorgeschichte der Ägyptologie als fesselnde Abenteuergeschichte von Glücksrittern, Schatzsuchern und Gläubigen nachlesen.

Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts gelang es Gautier, möglichst viele Aspekte des Themas unter einen Hut zu bringen. Bei dieser Rubrik geht es mir auch darum, effektiv möglichst viele Schreibstile kennenzulernen und einen groben Überblick über die Epochen der Literaturgeschichte zu vermitteln.
Gautier drängt sich regelrecht auf, weil sein Roman in drei Teile zerfällt, die unterschiedliche Genres repräsentieren.

Der Einstieg erfolgt über einen Prolog, in dem erzählt wird, wie die Mumie nach 3500 Jahren wieder ans Tageslicht gekommen ist: Der englische Lord Evandale und der deutsche Ägyptologe Dr. Rumphius sind an den Nil gereist wie die späteren Entdecker des Grabes von Pharao Tut-Ankh-Amun.
Als Führer heuern sie den zwielichtigen Griechen Argyropoulos an, der sie ins Tal der Könige bringen soll. Nach langen Anstrengungen werden sie (natürlich) in einer Pyramide fündig, doch zu ihrer Überraschung liegt darin kein Pharao sondern die schöne Hofdame Tahoser.

Der zweite Teil schildert nun das Leben Tahosers in Theben, die das ganz große Los gezogen zu haben scheint: Der Pharao verliebt sich in die Tochter des Hohepriesters Pétamounoph. Aber die liebt den wesentlich älteren Juden Poëri, der Rachel versprochen worden ist. Unter dem Decknamen Hora schleicht sie sich heimlich ins jüdische Viertel und lernt die Not dort kennen.

Im dritten Teil geht sie auf die Avancen des Pharaos ein, um den jüdischen Sklaven zu helfen. Der Pharao weigert sich, wofür er mit den sieben Plagen bestraft wird. Moses bleibt hartnäckig, und bald darauf brechen die Juden zur Flucht auf ...

Gautier hat auf seinen Reisen Ausgrabungen aus der Antike besucht und ist mit dem Forschungsstand seiner Zeitgenossen vertraut. Gerade die Brüche machen seinen Roman heute noch interessant: Die Rahmenerzählung gleicht einem Indiana Jones-Abenteuer aus der Hand von Jules Verne, dann öffnet er ein breites gesellschaftliches Panorama wie in einer historischen Serie ... und zum Schluß läßt er die Vorgeschichte des Exodus lebendig werden.

Servalan 19.06.2016 15:04

Georg Büchner: Woyzeck (1836/37, erschien erstmals 1879)
 
Diverse Ausgaben, zuletzt in der Marburger Ausgabe 2006, darunter auch Altamira Literaturcomic 1990, 62 Seiten
Die Lese- und Bühnenfassungen unterscheiden sich erheblich voneinander, weil Büchner nur ein Fragment hinterlassen hat.
https://de.wikipedia.org/wiki/Woyzeck
http://www.gutenberg.org/ebooks/5322 (Volltext bei Projekt Gutenberg-DE)
http://www.gutenberg.org/ebooks/21185 (gemeinfreie Hörbuchfassung bei Projekt Gutenberg-DE)
http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/Buechner/woyzeck.htm (Der Fall Woyzeck)

Aufgeführt wurde das soziale Drama fast zwei Generationen später, nämlich am 8. November 1913 im Residenztheater München. Dadurch liegen zwischen Büchners Handschrift und der Premiere auf den Brettern, die die Welt bedeuten, fast 80 Jahre, und das ist kein Zufall. Denn das Stück hätte das bürgerliche oder höfische Publikum der 1830er Jahre enttäuscht, weil es weder ein bürgerliches Trauerspiel war, noch zu den Idealen der Klassik oder Romantik paßte. Soweit zum historischen Hintergrund.

Mich verwundert das nicht.
Dieses Drama um einen Getriebenen paßt besser in eine Epoche, in der jeder Jack the Ripper kennt und der Erste Weltkrieg in der Ferne dräut.
Der Soldat Woyzeck muß sich als Ordonnanz eines Offiziers einiges für seinen mageren Lohn bieten lassen. Weil der zum Sterben zuviel, aber zum Leben zu wenig ist, verdient er sich bei einem Mediziner sein Zubrot. Heute nennt sich das Pharmastrich: Das medizinische Experiment besteht in einem strikten Diätplan, also darf Woyzeck nur Erbsenpüree essen.
Woyzeck liebt Marie, der er seinen kompletten Sold abgibt. Deswegen läßt er sich sowohl vom Offizier als auch vom Arzt triezen und drangsalieren. Als er jedoch spitzkriegt, daß ihn seine Marie mit einem Tambourmajor hintergeht und sich sein Verdacht bestätigt, fängt er an, Stimmen zu hören. Und die befehlen ihm, Marie umzubringen ...

Daß Büchner gerade diesen Stoff gewählt hat, ist kein Zufall. Büchner muß ein wahrer Tausendsassa gewesen sein, der drei Leben auf einmal gelebt hat.
Der Pate des bedeutendsten deutschen Literaturpreises war im Brotberuf ein Mediziner, der an Universitäten in einem Bereich forschte, der heute das Label "Lebenswissenschaften" trägt.
Sein Spezialgebiet war die Neurologie und die Erforschung des Gehirns. Seine Probevorlesung an der Universität Zürich hielt er "Über Schädelnerven". Das Material seiner Untersuchungen waren die Köpfe von frisch Enthaupteten.
Allerdings drohte ihm ein ähnliches Schicksal. Der Sohn aus einer Ärztefamilie wurde steckbrieflich als Terrorist gesucht. Seine heute noch beliebte Parole "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" aus dem Hessischen Landboten (1834) wurde jahrzehntelang in linken und anarchistischen Kreisen skandiert.
Seine literarischen Meilensteine enstanden bei dem Workoholic quasi nebenbei.

Dort bündeln sich seine verschiedenen Interessen.
Der historische Fall des Drama bildet den Fokus für einen juristisch-medizinischen Paradigmenwechsel, denn seither wird über menschliche Zurechnungsfähigkeit und Schuldfähigkeit gestritten. Erstmals kommt hier ein medizinischer Gutachter ins Spiel, der das Gericht berät und im Vorfeld des Urteils vieles vorwegnehmen kann.

Außerdem wendet sich der Republikaner (im Sinne der Französischen Revolution) Büchner den untersten Schichten zu, den Parias und Ausgestoßenen, die von Bessergestellten als "Pack" verachtet werden. Büchner läßt sie reden wie gewöhnlich, ungekünstelt und unverstellt. Woyzeck wird auf diese Weise zu einem tragischen Vorläufer von Tagelöhner-Helden wie Charlie Chaplins Tramp oder Pat & Patachon.

Peter L. Opmann 19.06.2016 17:27

Hier eine ganz knappe Information zu "Woyzeck" (für mich ist die Figur untrennbar mit Klaus Kinski verbunden): www.youtube.com/watch?v=vJmDL19i3J4

Servalan 22.06.2016 16:31

Giogrio Vasari: Le Vite ... / Lebensläufe ... (1550)
 
Der vollständige Titel lautet: Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue infino a’ tempi nostri: descritte in lingua toscana da Giorgio Vasari, pittore arentino – Con una sua utile et necessaria introduzione a le arti loro / Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten
Diverse Ausgaben, darunter Manesse Bibliothek der Weltliteratur 1993, 675 Seiten (Auswahlband)
http://gutenberg.spiegel.de/autor/giorgio-vasari-1059 (Volltext bei Projekt Gutenberg-DE)
http://www.memofonte.it/autori/giorg...1511-1574.html (Volltext im italienischen Original)
http://www.kunstgeschichte.uni-muenc...ni_disegno.pdf (Biographie als pdf, 38 Seiten)
http://www.designerhistory.com/giorgio-vasari.htm
http://www.italian-renaissance-art.c...io-Vasari.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Giorgio_Vasari

Für klassische Bildungsbürger beginnt die Kunst mit Giotto - und die Kunstgeschichte mit Vasari.
Wer sich ernsthaft mit Kunst beschäftigt, hört ziemlich rasch den Namen Giorgio Vasari, der eigentlich selbst ein berühmter Künstler werden wollte. Schließlich baute und malte er für die Dynastie der Medici aus Florenz, unter deren Fittichen auch eine Sammlung von Künstlerbiographien entstand.

Heute geschieht alles in Echtzeit, weite Teile des Globus sind nur einen Klick entfernt, und Copy&Paste erlauben Kopien in Bruchteilen von Sekunden.
Im Grunde fertigte der weitgereiste Vasari so etwas wie sein Social Media-Profil an, allerdings in mühsamer Handarbeit.
Von ungestörter Arbeit konnten die alten Meister der Renaissance nur träumen. Kirchliche und weltliche Fürsten in ihren Stadtstaaten kämpften um Einfluß, Macht und Geld, weshalb gewöhnliche Sterbliche einen hohen Herrn zum eigenen Schutz brauchten. Falls der unterlag oder geschlagen wurde, half nur die Flucht.
Auf diese Weise kam Vasari auf der Halbinsel weit herum.
Sein unfreiwilliges Exil nutzte er, indem seinen Kollegen, ihren Meistern und Schülern über die Schulter schaute.
Nachdem ihm die Medicis 1537 einen Posten im Orden der Olivetaner verschafft hatten, konnte er seine Reisen fortsetzen. Im Gegenzug verlangte die sagenhaft reiche Dynastie von ihm einen Katalog.
Was Vasari darin zeigen wollte, mußte er abzeichnen oder umständlich beschreiben. Über Schüler-Meister-Beziehungen ging er drei Jahrhunderte zurück, denn sein Werk beginnt mit Giovanni Cimabue (* 1240) und reicht bis zu seinen Zeitgenossen Michelangelo, Leonardo da Vinci und Raffael.
Seine insgesamt 108 biographischen Skizzen ergänzte er mit Beschreibungen der wichtigsten Kunstwerke.

Vasaris Kompendium existiert in zwei Fassungen, einer zweibändigen 1550 und einer dreibändigen 1568.
Ästhetisch sind für in die Ideale der römischen und griechischen Antike das Maß aller Dinge. Verständlicherweise sehnt er sich einer Wiedergeburt (rinascita) solcher Kunstfertigkeit und prägt den Begriff der Renaissance.
Falls er mal die Gotik erwähnt, dann eher abfällig und verächtlich.
Heutigen wissenschaftlichen Kriterien historischer Methodik wird er nicht gerecht, dennoch gelten seine Lebensläufe ... fur kunsthistorische Interpretationen weiterhin als unerläßlich.
Die wenigsten werden sich das trockene Werk in Gänze antun.
Gezielte Vergleiche mit greifbaren populären Sachbüchern oder Kunstbiographie-Reihen zeigen jedoch, wieviel Vasari in unseren Vorstellungen von dieser Epoche stecken.

Servalan 25.06.2016 18:46

Kālidāsa: Śākuntalā. Ein indisches Schauspiel (4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung)
 
कालिदास: अभिज्ञानशाकुन्तल
Diverse Ausgaben, zuletzt Amman Verlag 2006, darunter Manesse Bücherei (Band 1) 1987, 144 Seiten, mit der Vorrede von Johann Gottfried Herder (1803).
http://www.gutenberg.org/files/16659...-h/16659-h.htm (Volltext der englischen Übersetzung von Arthur W. Ryder 1912 bei Projekt Gutenberg-DE)
http://www.yorku.ca/inpar/shakuntala_ryder.pdf (Volltext der englischen Übersetzung von Arthur W. Ryder, pdf)
https://de.wikipedia.org/wiki/Abhijnanashakuntala
http://www.yavanika.org/theatreinindia/?page_id=286
http://www.sacred-texts.com/hin/sha/sha12.htm

Ringe sind ein beliebtes Requisit - von Märchen über Lessings berühmte Ringparabel bis hin zur Operntetralogie von Richard Wagner und der High Fantasy von J.R.R. Tolkien. Jeder kennt sie aus dem Alltag, wo sie Verlobung und Heirat oder andere Versprechen symbolisieren. Außerdem können sie verloren gehen ... und wiedergefunden werden.

Mein Einblick in die indische Mythologie und Literaturgeschichte ist leider begrenzt. Abgesehen vom fast allgegenwärtigen Glücksgott Ganesha verfüge ich bloß über bruchstückhaftes Wissen. Zuletzt habe ich in die moderne Version vertieft, die Virgin-Gründer Richard Branson in seinen indisch-britischen Comicserien Devi und Snake Woman vorgelegt hatte.

Gewisse Mechanismen der Geschichte ähneln sich jedoch auffallend.
Sakuntala (eigentlich Die Wiedererkennung der Shakuntala) gilt als Nationaldrama des epischen Theaters und beruht auf einer Geschichte des indischen Epos Mahābhārata (महाभारत, verschiedene Fassungen aus vorchristlicher Zeit). Das Sanskrit-Epos Mahābhārata ist etwa zehnmal so umfangreich wie Homers Ilias oder Die Odyssee und gilt als "das längste jemals verfaßte Gedicht", wobei sich religiöse und philosophische Bedeutungen überlagern und verstärken.

Kālidāsa bedeutet wörtlich übersetzt "Diener der Göttin Kali", und der ist biographisch ebenso ungreifbar wie Homer oder Shakespeare, zumal mehrere Dichter diesen Namen trugen. Ende des 18. Jahrhundert entdeckten Briten langsam die Literatur der Kolonisierten für sich: 1789 wurde Śākuntalā ins Englische übersetzt, 1791 von Georg Forster ins Deutsche. Weitere deutsche Fassungen folgten 1854 durch Friedrich Rückert und 1924 durch Rolf Lauckner.
1888 gestaltete die Bildhauerin Camille Claudel eine gleichnamige Skulptur in Bronze, 1905 schuf sie das Motiv in Marmor. Franz Schuberts 1820 komponierte Oper Sakontala blieb unvollendet, weshalb sie von Karl Aage Rasmussen rekonstruiert wurde, so daß sie 2006 konzertant und 2010 szenisch uraufgeführt werden konnte.

Auf der Jagd verfolgt der junge König Dushyanta eine Gazelle im Wald und gelangt so in eine Einsiedelei, wo fromme Asketen den Göttern huldigen.
Der Älteste der Asketen, Kanva, hat eine Tochter, Śākuntalā, der sich Dushyanta als Gelehrter am Hofe des Königs vorstellt. Er beobachtet sie und verliebt sich in die Schöne.
Nach und nach erfährt er dabei, daß Kanva bloß ihr Pflegevater ist. Śākuntalās wahrer Vater sei ein Heiliger gewesen und ihre Mutter eine Elfe, also ein Göttermädchen. Weil Dushyanta den Frieden der Einsiedelei nicht weiter stören will, bricht er seine Jagd ab und will aufbrechen. Doch die Einsiedler bitten ihn, er möge sie vor bösen Dämonen schützen.
Bei dieser Gelegnheit heiraten Dushyanta und Śākuntalā. Als dringende Geschäfte Dushyanta an den Königshof zurückrufen, schenkt er Śākuntalā zum Abschied einen Ring und verspricht, sie nachkommen zu lassen.
Die verliebte Śākuntalā ist der Welt entrückt, weshalb ihr ein Lapsus unterläuft. Sie versäumt es, einem Priester die gebührende Ehre zu erweisen, wofür der sie hinter ihrem Rücken verflucht: Sollte sie ihren Ring verlieren, dann wird Dushyanta sie vergessen und nicht wiedererkennen ...

Servalan 30.06.2016 16:20

Joris-Karl Huysmans: Là-bas (1891) / Tief unten (1921)
 
Diverse Ausgaben, zuletzt Reclam 1994 und Gallimard 2004, darunter Maxi-Poche, Classique Français 1994, 349 Seiten
http://www.gutenberg.org/files/14323...-h/14323-h.htm
https://fr.wikipedia.org/wiki/Là-bas_(roman)
https://de.wikipedia.org/wiki/Tief_unten
http://www.larevuedesressources.org/IMG/pdf/La_-bas.pdf (Volltext im Original bei La Revue des Ressources als pdf, 259 Seiten)
http://www.theparisreview.org/blog/tag/la-bas/
http://www.e-litterature.net/publier...5&id_article=7

Mangelnde Menschenkenntnis gehört zu den beliebtesten Vorwürfen, die besonders Schreibanfänger und junge Autoren treffen. Verständlich. Wie unsere Spezies tickt, das erschließt sich nicht über Nacht.
Allerdings hat Menschenkenntnis nur bedingt etwas mit den biologischen Alter zu tun. Wer sich bloß in der eigenen Filterblase bewegt, seine Echokammer dicht abgeschottet hat und eigentlich mit dem Leben zufrieden ist - den trifft der Vorwurf natürlich härter. Authentische Erfahrungen werden heute umso lieber geschätzt. (Lebensläufe können frisiert werden, und wenn das ruchbar wird, verwandelt sich der potentielle Bestseller zu Altpapier.)
Reisen bringt nur denjenigen etwas, die fremde und fremdartige Erfahrungen an sich heranlassen und ihr Weltbild, wenn nötig, auch korrigen. Besonders spektakuläre Fälle haben jedoch schon in früheren Epoche Presse und Publikum gereizt.

Einige dieser Fälle sind so bizarr und faszinierend, daß sie wie der Kern eines Mythos durch etliche Jahrhunderte wirken. Dadurch werden sie überlebensgroß, weshalb häufig nur Bruchstücke und Fragmente ins Spiel kommen, sobald ein Paar aus zwei solchen Projektionsfiguren besteht.

Das beste Beispiel dafür sind Jeanne d'Arc und Gilles de Rais, die Heilige und das Monster, die Seite an Seite für den Dauphin gekämpft haben.

Die tragisch-verklärende Leidensgeschichte des Bauernmädchens von Orléans, einer Minderjährigen aus der Provinz, die mutig in den Krieg gezogen ist und ihrem obersten Lehensherrn die französische Krone beschert hat, ist heute eine Ikone für Feministinnen und französische Nationalisten. Denn sie wurde schmählich verraten, an den englischen Feind ausgeliefert, einem demütigenden Prozeß als Ketzerin unterzogen und auf dem Scheiterhaufen verbrannt - später jedoch heiliggesprochen.
Gilles de Rais hingegen lieferte das Vorbild für den frauenmordenden König Blaubart im gleichnamigen Märchen. Als Ritter schlug er seine Schlachten erfolgreich, allerdings beschäftigte er sich mit Alchemie und vermutlich auch mit Nekromantie. In der Umgebung seiner Schlösser entführten und verschleppten seine Diener Kinder, vorwiegend Jungen. Solange er unter dem Schutz des Königs stand, war er unantastbar. Irgendwann ging er zuweit, und dann geriet in die Mühlen der Justiz und wurde von der Inquisition wegen Häresie angeklagt.

Für den niederländischen Kardiologen und Hobby-Kultuwissenschaftler A.J Dunning bildet die Kombination Jeanne d'Arc-Gilles de Rais das erste Paar moderner Menschen, die in ihrer mittelalterlichen Welt dafür kein Verständnis erwarten dürfen (nachzulesen in seinem Buch Extreme. Beobachtungen zum menschlichen Verhalten).

Seine Brötchen verdiente der holländischstämmige Huysmans (1848-1907) als Beamter im französischen Innenministerium, während er ständig Texte veröffentlichte. Die meisten davon sind allerdings (wohl zurecht) vergessen.
1876 lernte er Zola kennen und wurde in dessen Schule von Médan (Gruppe der sechs) aufgenommen, wo er u.a. Guy de Maupassant und Paul Alexis kennenlernte. Huysmans naturalistische Romane über drastische Frauenschicksale aus der Pariser Unterschicht waren Bestseller, die jedoch von der Zensur bedroht wurden und als sittenwidrige Lektüre verboten werden konnten. In seinen späteren Jahren wurde Huysmans zum christlichen Mystiker.

Zum Kultautor, beispielsweise für Oscar Wilde, entwickelte sich Huysmans, als er mit Zolas Tradition brach und gewohnte Muster auf den Kopf stellte.
Vom Konzept her ähnelt sein bahnbrechendes Manifest À rebours / Gegen den Strich (1884) eher Lawrence Sternes absurd-verspieltem A Sentimental Journey Through France and Italy / Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien (1768). Huysmans' Anti-Reiseroman entwickelt sich zur Pflichtlektüre der dekadenten jungen Generation, denn der neurotische Aristokrat Jean Floressas Des Esseintes bereist nur ausgiebig sein Zimmer.

Là-bas hingegen liest sich über weite Strecken wie ein Vorentwurf zu Schnitzlers Traumnovelle oder Stanley Kubricks Eyes Wide Shut.
Durtal gehört zu Pariser Bohème, wo er sich mit anderen Autoren über andere Werke und Ästhetiken streitet. Sein eigenes Hauptwerk will er Gilles de Rais widmen, und um dessen Rätsel zu lösen, muß er sich mit Jeanne d'Arc befassen. Dabei will er nicht nur in Papier wühlen, vielmehr möchte er ähnliches erleben wie Gilles de Rais. Also hört er sich in okkulten Zirkeln und unter Satanisten um, weil er bei einer Schwarzen Messe unbedingt dabei sein will.
Im Laufe der Monate vergräbt er sich immer tiefer in sein Gilles de Rais-Projekt, was seine Gesundheit nicht fördert. Nach und nach treffen seltsame Briefe von einer Unbekannten bei ihm ein, die er mühsam einschätzen muß: Sind das ernst gemeinte Einladungen? Oder nimmt ihn einer seiner Freunde auf den Arm?

Servalan 11.07.2016 16:34

John Milton: Paradise Lost. A Poem in Twelve Books (1667)
 
Auch dieses Werk liegt wieder in zwei Fassungen vor: Eine frühere Fassung gliedert das Werk in 10 Bücher, die ältere in 12.
https://de.wikipedia.org/wiki/Paradise_Lost
https://en.wikipedia.org/wiki/Paradise_Lost
https://en.wikipedia.org/wiki/Paradi...opular_culture
http://www.klassiker-der-weltliterat...adise_lost.htm (Zusammenfassung bei "Klassiker der Weltliteratur")
http://www.zeno.org/Literatur/M/Milt...orene+Paradies (Volltext der deutschen Fassung bei Zeno.org)
http://www.dartmouth.edu/~milton/rea...k_1/text.shtml (Volltext des Original im John Milton Reading Room)
http://www.samizdat.qc.ca/arts/lit/paradiselost.pdf (Volltext-Ebook im Stil des 17. Jahrhunderts, pdf, 159 Seiten)
http://darknessvisible.christs.cam.ac.uk/ (Darkness Visible, eine Site mit Materialien, zusammengestellt von Studentinnen und Studenten des Milton's Cambridge college, Christ's College)
http://www.paradiselost.org/ (Paradise Lost Guide für Studierende)
http://oyc.yale.edu/english/engl-220/lecture-9 (Open Yale courses: Onlinemitschnitt einer Vorlesung an einer Elite-Universität)

Zu den gern geplünderten Werken zählt unbedingt John Miltons Das verlorene Paradies dazu, wahrscheinlich weil es selten gelesen wird, aber jeder den Plot der Story kennt:

Nachdem der Erzengel Lucifer in Ungnade gefallen und in die Hölle verstoßen wurde, warnt Erzengel Raphael Adam im Garten Eden vor dem heimtückischen Versucher. Leider beschränkt sich Raphael auf Adam, denn Eva entstand ja auch Adams Rippe und fällt somit nicht die Zuständigjkeit des Erzengels.
Aber tagsüber verrichten Adam und Eva ihre Arbeit, indem sie den Dingen Namen geben. Hinzu kommt der Umstand, daß Raphael seine Nachricht ausführlich schildert, was Tage dauert - und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf.

Die Ausgaben des Klassikers sind als Requisiten beliebt, die besonders gern Serienkillern und ihren Fans untergeschoben werden, zuletzt beispielsweise in The Fall - Tod in Belfast. Katie Benedetto scheint eines von Paul Spectors Lieblingsbüchern in einer Szene entdeckt zu haben, wird jedoch von ihm entdeckt, als sie den Band durchblättert.

Das Netz strotzt nur so zu Hinweisen, Interpretationen und Erklärungen zu diesem Klassiker. Denn noch heute steckt in seinen Zeilen eine ungeheure Wucht.
John Milton hatte in Cambridge studiert und schrieb vorwiegend Sonette, die heute vergessen sind. Später reiste er umher, lernte vor allem Italien kennen, und schrieb nach seiner Rückkehr religiös-politische Pamphlete. Für seine puritanischen Überzeugungen saß er im Knast. Im Alter erblindete der mehrmals verheiratete Frauenheld.
In seinem monumentalen Epos eiferte er den staatstragenden Epen der Antike von Homer und Vergil nach, um etwas Vergleichbares zu schaffen, das christlich war. Sein Blankvers verbindet den Diktus eines charismatischen Predigers oder eines alttestamentarischen Philosophen mit einer Fabulierlust, die das Geschehen plastisch werden läßt.

Ob Milton allerdings mit seinem Ruhm heutzutage glücklich wäre, bezweifle ich.
Der gestürzte Erzengel Lucifer aka Satan gibt eigentlich den verruchten Bösewicht im Stück. Miltons ausführliche Schilderung läßt ihn allerdings höchst sympathisch erscheinen:
Lucifer reißt sich als Erzengel ein Bein aus, um seinen Boß und den Junior glücklich zu machen, alles Lob und alle Privilegien bekommt aber Gottessohn, weil er eben Gottes Sohn ist. Lucifer fühlt sich betrogen und wiegelt seine Mitengel zum Aufstand auf. Leider scheitert er.
Miltons Satan wird schon bald zur Blaupause für einen neuen Heldentypus, den Byron'schen Helden, einen Antihelden vom Format eines Prometheus oder Ikarus. Zu den Bewunderern solcher Rebellen zählen neben Byron und Shelley auch Goethe und die deutschen Romantiker. Wer ihn sich vorstellen will, kann zum Beispiel die erste Staffel True Detective gucken: Matthew McConaugheys Detective Rust Cohle ist ein Byron'scher Held.
Und Satans Sturz in die Hölle regte Neil Gaiman bei seinem Sandman an.

Paradise Lost ist kein leichtes Buch. Wer es jedoch gelesen hat (vielleicht nur teilweise), wird es an anderer Stelle im modernen Gewand wiedererkennen. Die eigenwillige Sprache ist eine Hürde, die überwunden werden will, danach entfaltet sie ihre Faszination.

Nichts für Feiglinge.

Servalan 23.07.2016 16:21

Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman (1909)
 
Diverse Ausgaben, leider nur antiquarisch.
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_andere_Seite_(Roman)
http://www.alfredkubin.at/Philosophie.htm
http://www.deutschlandradiokultur.de...icle_id=137704
http://www.habenichtse.de/moderne-ph...-andere-seite/
https://phantastikon.de/20150205/alf...-andere-seite/
https://www.literaturportal-bayern.d...&pnd=118567365

One-Hit-Wonder gibt es nicht nur in Musik, sondern auch in der Literatur. Diese Kometen am Himmel der Belletristik können verdammt einflußreich sein und/oder sich zeitweise zu richtigen Bestsellern entwickeln.
Ein kurz zuvor verstorbener Autor - Freitod wirkt spektakulär - oder ein Prominenter aus einer anderen künstlerischen Disziplin sorgten schon damals für die entsprechende Mundpropaganda.
Das Angebot reicht dabei von wissenschaftlichen Schriften (wie Otto Weiningers Geschlecht und Charakter*) über Unterhaltungsromane von Journalistinnen (Margaret Mitchells Gone With the Wind / Vom Winde verweht) bis hin zu frustrierten Bildenden Künstlern wie J.J. Grandville (Un autre monde / Eine andere Welt).
Eine Garantie für ein großes Publikum bietet diese Masche allerdings nicht: Grandville fühlte sich von seinen Zeitgenossen mißverstanden und mußte erst Generationen später wiederentdeckt werden.

Wie Grandville war Alfred Kubin im k.u.k.-Österreich eigentlich ein Grafiker, der vor allem durch seine Buchillustrationen und Bühnenbilder einen Ruf erwarb. Er gehörte 1909 zu den Gründern der Künstlergruppe Neue Künstlervereinigung München (N.K.V.M.), aus der 1911 der berühmtere Blaue Reiter hervorging.
Kubins Titel klingt verdächtig nach Grandvilles spätem Roman. Beide Romane wurden von den Surrealisten oder auch von Franz Kafka geschätzt, obwohl ihre Qualitäten völlig unterschiedlich gelagert sind.
Bleiben wir bei Kubin.

Der Tod seines Vaters warf Kubin völlig aus der Bahn. Um seine Depression zu bewältigen, setzt er sich an den Schreibtisch. In zwölf Wochen entsteht Die andere Seite, die Kubin selbst mit 52 Zeichnungen illustriert.

Hauptfigur des Romans ist ein namenloser Ich-Erzähler, ein Zeichner wie Kubin, der Besuch einem Gesandten seines ehemaligen Klassenkameraden Claus Patera erhält. Der Multimillionär (sic!) Patera hat sich in Asien sein eigenes Traumland Perle eingerichtet, in das er den Ich-Erzähler und seine Frau einlädt. Die tun das großzügige Angebot zunächst als Scherz ab, doch irgendwann siegt die Neugier und sie brechen auf.
Perle liegt allerdings hinter einer dicken Mauer, und der Zoll läßt das Paar erst durch, als sie ihr gesamtes Hab und Gut hinter sich lassen. Das hermetisch abgeschottete Traumreich soll den Zeichner inspirieren, aber in Perle funktioniert der Alltag nach aberwitzigen Regeln, so daß sich das Leben allmählich in einen Alptraum verwandelt.
Aber der Herrscher Claus Patera hat einen Rivalen und Widersacher, den Amerikaner Hercules Bell, der eine Revolution anzetteln will. Der Zweikampf ruiniert Perle, und mit jedem Tag nähert sich die Apokalypse ...

Mit Kubin gelangt die phantastische Seite des Alltags in die Belletristik, die andere und die eigene Welt lassen sich zuerst kaum voneinander unterscheiden. Heute zählt Stephen King zu den Meistern dieser Schreibweise, aber in der Belle Epoque war das eine revolutionäre Neuerung.
Im ersten Jarzehnt des 20. Jahrzehnt krempelten technische Durchbrüche den Alltag komplett um: Grammophon, Kintopp, Automobile, U-Bahnen und etliche andere Dinge drangen ins Leben der gewöhnlichen Bevölkerung ein (siehe Philip Bloms Kompendium The Vertigo Years: Europe, 1900-1914 / Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914). Neurasthenie war damals das, was heute Burn-Out genannt wird.

*Die Ansprüche an wissenschaftliche Erkenntnisse ändern sich: Heute gilt Weininger eher als reaktionärer Ideologe denn als Wissenschaftler.

Servalan 27.07.2016 16:52

Henry David Thoreau: Walden; or, Life in the Woods (1854)
 
Deutscher Titel: Walden oder Leben in den Wäldern oder Walden oder Hüttenleben im Walde.
Diverse Ausgaben, darunter Signet Classic CE 2121 (NAL Penguin 1980), 256 Seiten, zuletzt Diogenes Verlag 2015
https://de.wikipedia.org/wiki/Walden
http://www.gutenberg.org/ebooks/205 (Volltext bei Gutenber.DE)
https://archive.org/details/waldenorlifeinwo1854thor (Volltext der US-Erstausgabe im Internet Archive)
https://librivox.org/search?title=Wa..._form=advanced (Volltext als Audiobook, Public Domain bei LibriVox)
http://thoreau.eserver.org/walden00.html (Volltext mit Anmerkungen)

Die Erstausgabe lag wie Blei in den Regalen. Es dauerte sage und schreibe fünf Jahre, bis die 2.000 Exemplare ihre Leserschaft gefunden hatten. Bis zum Tode Thoreaus 1862 war das Buch verständlicherweise vergriffen.
Er veröffentlichte noch ein weiteres Buch, das sich aus verlegerischer Sicht gleichfalls nicht rechnete. (In diesem Sinne war Thoreau kein One-Hit-Wonder.)

Im 19. Jahrhundert lasen vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter dieses Brevier über das einfache Leben in der Natur. Allgemein gilt der Transzendentalist Thoreau als Säulenheiliger der ökologischen Bewegung, zumal es Mahatma Gandhi inspirierte. Gewaltfreiheit, Spiritualität und Askese sorgten für einen festen Platz in der Lektüre der 1968er.
Ähnlich wie Shakespeare läßt sich dieser einflußreiche literarische Text auf vielerlei Arten interpretieren, denn ein weiterer Strang führt über Survivalisten und Extremlibertäre zu Theodore Kaczynski (verurteilt als Unabomber) sowie zu den berüchtigten Turner Diaries. Robbie Williams' Kinohit Der Club der toten Dichter hingegen ist eine harmlosere Hommage.
Deshalb wundert es mich nicht, daß sich jede Generation ihren eigenen Thoreau ins Deutsche übersetzt.

Bei meinem privaten Curriculum jenseits des Klassenraums habe ich darauf geachtet, möglichst viele Standpunkte kennenzulernen - auch wenn mir die nicht gefielen. Ich mußte mich mit fremden Gedankengängen vertraut machen, damit ich mich aus Klischees und Stereotypen lösen konnte.
Wenn ich Leute schildern wollte, mit denen ich mich persönlich auf keinen Fall identifizieren wollte, mußte ich über meinen Schatten springen.

Mit seinem Werk erschuf Thoreau die Blaupause für (Selbst-) Erfahrungsbücher, Experimente am eigenen Leib (wie Karen Duves Logbuch über ihre Ernährungsgewohnheiten) und das, was später Autofiktion genannt wurde.
Thoreau war mit dem Schriftsteller Nathaniel Hawthorne befreundet und diente Ralph Waldo Emerson als Sekretär, bevor er sein Experiment in die Tat umsetzte und sich in die Natur zurückzog.
Der Walden Pont in Massachusetts befindet sich heute in einem Naturschuitzgebiet, aber eine wirkliche Konfrontation mit der harten Natur (frei nach Natty Bumppo und Chingachcook) bedeutete sein Rückzug nicht. Der See liegt in einem idyllischen Winkel, das zum Fischen, Wandern, Picknicken und Jagen geeignet ist. Allerdings beträgt die Entfernung zur nächsten Regionalzugstation bloß 1,4 Meilen und schon zu Thoreaus Zeiten durchschnitt ein Pendlerzug das Gelände.
Weil er Menschen verabscheute und am liebsten mied, hielt er nichts von Arbeit (Karl Marx' Neffe Paul Lafargue schlägt in seinem Das Recht auf Faulheit 1883 einen ähnlichen Tonfall an). Walden hat etwas von einem Fakir, einem Sufi oder einem Mönch, der seine Kreise nicht gestört sehen möchte.

Vom März 1845 bis September 1847 lebt er in einer selbstgebauten Hütte und notiert feinsäuberlich, mit welchen geringen Mitteln er auskommt. In seinem Reservat versucht er zu leben wie Robinson Crusoe auf seiner Insel.
Wer sich näher mit der US-amerikanischen Mentalität befassen will, erhält hier tiefe Einblicke.

In meiner Ausgabe wird das tagebuchartige Werk durch Gedichte und Thoreaus wirkungsvollsten Aufsatz On the Duty of Civil Disobedience (1849) ergänzt.
Von den einen wird die Schilderung eines Gefängnisaufenthaltes wegen verweigerter Steuerzahlung als Manifest gewaltlosen Widerstands interpretiert, andere wie zum Beispiel die Tea Party-Bewegung lesen es als Abkehr vom Staat und der Gesellschaft.

Servalan 05.11.2016 14:37

Karel Čapek: Válka s mloky (1936) / Der Krieg mit den Molchen (1937)
 
Diverse Ausgaben, zuletzt Aufbau-Verlag 2009 sowie deren Lizenzausgabe 2016 bei der Büchergilde Gutenberg, darunter Diogenes 1981, 330 Seiten
http://www.rodon.cz/admin/files/Modu...ka-s-mloky.pdf (Volltext auf Tschechisch, pdf, 170 Seiten)
https://web2.mlp.cz/koweb/00/03/34/7...ka_s_mloky.pdf (Volltext auf Tschechisch, pdf, 219 Seiten)
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Krieg_mit_den_Molchen
https://cs.wikipedia.org/wiki/Válka_s_Mloky

Karel Čapek (1890-1938) zählt zu den wichtigsten tschechischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts.
Ihm verdanken wir das heute alltäglich gewordene Wort "Roboter", das durch sein Theaterstück R.U.R. (Rossumovi Universální Roboti) (1920) seinen Siegeszug antrat. Dennoch wäre es kurzsichtig, ihn auf seine phantastischen und futuristischen Werke zu verengen, obwohl diese im deutschsprachigen Raum am weitesten verbreitet sind.

Weil diese Literatur unseres Nachbarvolkes ein Nischendasein führt, ist er in unserem Sprachgebiet eher ein Geheimtipp. Während Václav Havel, Milan Kundera und der Schwejk-Erfinder Jaroslav Hašek zumindest dem Namen nach bekannt sind, muß Čapek auch unter Bücherfreunden vorgestellt werden (Ausnahmen bestätigen die Regel).

Die UNESCO hat seinen Roman Der Krieg mit den Molchen in ihre Sammlung repräsentativer Werke aufgenommen und mit Übersetzungen gefördert. 1937 erschien die erste deutschsprachige Fassung in einem Wiener Verlag, 1954 ließ der Aufbau-Verlag (der DDR) das Werk von Eliška Glaserová neu übersetzen - auf dieser Fassung basiert die letzte Neuausgabe der Büchergilde Gutenberg 2016.

Persönlich war Čapek mit dem ersten Präsidenten der Tschechischen Republik, Tomáš Garrigue Masaryk, eng befreundet, trotzdem ließ er sich von niemandem vereinnahmen und pochte auf seine Unabhängigkeit. Der Science-Fiction-Roman spielt mit der Idee, dass eine fremde Rasse entdeckt wird - aber nicht auf einem fremden Planeten, sondern in einem fernen Meer, sprich im heutigen Indonesien.
Teilweise nimmt Čapek Klischees auf die Schippe, die aus King Kong bekannt sind: Leute aus Hollywood filmen vor exotischer Kulisse und stoßen auf Wesen, die sie als Monster betrachten.
Doch bald erkennt ein Tycoon aus Prag, das sich die Molche als nützliche, billige Arbeiter einspannen lassen. Damit diese Amphibien überleben können, müssen künstlich Küstengebiete hergestellt werden. Doch diese Ware entwickelt eine eigene Dynamik und schon bald gibt es zwei unabhängige Molchreiche, eines unter dem Chief Salamander, das andere unter dem King Salamander.

Allgemein wird der Anschluß der Fantasy und Science Fiction an die moderne Literatur mit der britischen New Wave verbunden: Michael Moorcock, James Graham Ballard, Brian Aldiss & Co.
Insofern ist Čapeks Kleinod ein Solitär, der sich am besten mit anderen modernen Romanen aus weniger bekannten Ländern verglichen werden kann, zum Beispiel dem spanischen Roman Schweigen über Madrid von Luis Martín-Santos (Erstausgabe 1961 in Mexiko).
Denn wie James Joyce spielt er mit den literarischen Formen: Der erste der drei Teile kommt locker-flockig wie ein Jugendbuch daher, allerdings schwingt untergründig ein jovial-süffisanter Tonfall mit, der sich an Erwachsene richtet.
Durch elliptische Kunstgriffe verkürzt und verdichtet er im zweiten Teil die simple Chronik des Aufstiegs der Molche zu Konkurrenten der menschlichen Spezies. Das Buch wimmelt von Inserts und zitierten Schlagzeilen, die graphisch den Fließtext unterbrechen. Im zweiten Teil treibt er das Prinzip auf die Spitze: Die Leserschaft verfolgt das Geschehen über die Schulter von Herrn Povondra, dem Portier des Konzernbesitzers G.H. Bondy, indem er fleißig Zeitungsschnipsel archiviert. (Das erinnert an Charles Fort, ein Vorbild H.P. Lovecrafts.)
Das Schlußkapitel ist reine Metafiktion: Der Autor interviewt sich selbst, bis er nicht mehr weiter weiß.

Servalan 29.05.2017 11:21

Gustav Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums (1838-1840)
 
Diverse Ausgaben, teilweise gekürzt, modernisiert oder bearbeitet, zuletzt Insel-Verlag 2001 und Ravensburger Buchverlag 2006, darunter Droemer Knaur 1978, 702 Seiten
http://gutenberg.spiegel.de/buch/sag...tertums-4962/1
http://gutenberg.spiegel.de/buch/sag...tertums-4962/9
http://gutenberg.spiegel.de/buch/sag...rtums-4962/135
http://gutenberg.spiegel.de/buch/sag...rtums-4962/232
(Volltext bei Projekt Gutenberg-DE in vier Teilen)

Mit den Mythen ist das so eine Sache. Wer sich intensiver mit der Materie beschäftigt, wird schnell feststellen, wie unübersichtlich das Feld ist. Meist existieren nämlich mehrere Fassungen, die voneinander abweichen.
Aber für den Einstieg wäre eine sauber gegliederte Übersicht nützlich, die zumindest das grundlegende Wissen und eine gewisse Orientierung vermitteln.
Mythen werden rund um die Welt weitererzählt, deshalb beschränken sich die Übersichtswerke üblicherweise auf einen bestimmten Ausschnitt.

Der schwäbische Pfarrer und Gymnasiallehrer Gustav Schwab (1792 - 1850) hat sich auf die Sagenkreise der griechisch-römischen Antike spezialisiert. Diese Sammlung gehört im weitesten Sinne zu den Vorläufern von leichten Einführungen für ein allgemeines Publikum wie zum Beispiel "... für Dummies".
Ich habe meine Ausgabe pünktlich zum Wechsel auf das Gymnasium geschenkt bekommen. Die Lektüre sollte mir bei den Übersetzungen aus dem Lateinischen helfen. Genau das war der Sinn und Zweck dieser Nacherzählungen.

Schwab hat seinen Schülern nicht nur Latein und Griechisch beigebracht, auch nach Schulschluß ließ ihn seine Leidenschaft nicht los. Denn er war gut vernetzt, schrieb für die Programme von F.A. Brockhaus Leipzig, die Cotta’sche Verlagsbuchhandlung und den Metzler-Verlag. Bei Metzler betreute er Editionen antiker griechischer und römischer Werke.
Ursprünglich erschien sein Sagenkreis für die deutsche Jugend Mitte des 19. Jahrhunderts in drei Bänden. Diese Fassung hat mittlerweile selbst den Status eines Klassikers der deutschen Literatur.
Der Vorteil seiner Ausgabe liegt in der Kürze und der fast enzyklopädischen Struktur, die ein Nachschlagen erlaubt. Ganz so prickelnd liest sich das heute nicht mehr. Seit 1840 hat sich die Sprache erheblich gewandelt. Heute kommt der Vorteil hinzu, mit einem Klick die Sagen lesen können, ohne etwas zu zahlen.

Vor einigen Jahren haben sich 40 Verlage rund um die Welt zu einem Projekt zusammengeschlossen, um die Mythen von etablierten Autorinnen und Autoren der Gegenwart frisch nacherzählen zu lassen: "The Myths Project"
Die deutschen Ausgaben erschienen beim Berlin Verlag und dem S. Fischer Verlag.
Antiquarisch sollten die Titel zu beschaffen sein:
  • Karen Armstrong: A Short History of Myth (Canongate 2005), Eine kurze Geschichte des Mythos (Berlin-Verlag 2005)
  • Margaret Atwood: The Penelopiad (Canongate 2005), Die Penelopiade. Der Mythos von Penelope und Odysseus (Berlin-Verlag 2005)
  • Jeanette Winterson: Weight: The Myth of Atlas and Heracles (Anongate 2005), Die Last der Welt: der Mythos von Atlas und Herkules (Berlin-Verlag 2005)
  • Victor Pelevin | Wiktor Olegowitsch Pelewin: The Helmet of Horror (Canongate 2005), Шлем ужаса (Ripol + Soyuz + Exmo 2006), Der Schreckenshelm. Der Mythos von Theseus und dem Minotaurus (Berlin-Verlag 2005)
  • David Grossman: Lion's Honey: The Myth of Samson (Penn Publishing 2006), Löwenhonig. Der Mythos von Samson (Berlin Verlag 2006)
  • Alexander McCall Smith: Dream Angus: The Celtic God of Dreams (Canongate 2006), Der Gott der Träume: Der Mythos von Angus (Berlin Verlag 2006)
  • Sally Vickers: Where Three Roads Meet: The Myth of Oedipus (Canongate 2007)
  • Ali Smith: Girls Meets Boy (Canongate 2007), Girl meets boy. Der Mythos von Iphis (Berlin Verlag 2007)
  • Su Tong | 蘇童 | 苏童: Binu and the Great Wall: The Myth of Meng (Canongate 2007), Die Tränenfrau. Der Mythos der treuen Meng (Berlin Verlag 2007)
  • Michael Faber: The Fire Gospel (Text Publishing + Canongate 2008)
  • Dubravka Ugrešić: Baba Yaga Laid an Egg (Canongate 2009), Baba Jaga legt ein Ei (Berlin Verlag 2008)
  • Klas Östergren: Orkanpartyt (Bonniers 2007), The Hurricane Party (Canongate 2009)
  • Milton Hatoum: Orfãos do Eldorado (Cia. das Letras 2008), Orphans of Eldorado (Canongate 2010), Die Waisen des Eldorado. Der Mythos von der verzauberten Stadt (Berlin Verlag 2010)
  • Philip Pullman: The Good Man Jesus and the Scoundrel Christ (Canongate 2010)
Irgendwie scheint da was schiefgelaufen zu sein, denn nach einer Weile herrschte Funkstille. 2010 erschien der letzte Band.


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