Sammlerforen.net

Sammlerforen.net (https://www.sammlerforen.net/forum.php)
-   Film und DVD (https://www.sammlerforen.net/forumdisplay.php?f=158)
-   -   Filmklassiker (https://www.sammlerforen.net/showthread.php?t=46165)

Peter L. Opmann 26.10.2022 12:46

Ich denke, wir müssen uns hier nicht einigen. Ich kann gut damit leben, wenn andere sagen: Mit dem Film kann ich überhaupt nichts anfangen.

Lieber erzählen, was Ihr an anderen Filmen gut findet.

(Du hast recht, daß das Liebespaar Olivier - Monroe eigentlich nicht sehr überzeugend ist, es sei denn man stellt den 50er-Jahre-Rahmen in Rechnung. Aber Marilyn ist nach meinem Eindruck meistens so aufgetreten. Eine ganz andere Rolle hatte sie möglicherweise nur in "Misfits". Warum ist sie immer noch so beliebt?)

Peter L. Opmann 27.10.2022 11:35

Kommen wir zu Billy Wilder. Ein Europäer, der von Anfang an nach Hollywood wollte und sich dort tatsächlich vom Drehbuchautor zum Regisseur hochgearbeitet hat. Seine allerersten Filme sind vielleicht noch nicht so gut, aber ansonsten hat er nur Filme gedreht, die alle Klassiker wurden. Ich möchte auf einen eingehen, der jedoch vielleicht doch nicht so bekannt ist. Wie „Sein oder Nichtsein“ ist es ein Anti-Nazi-Film, und es ist auch eine Satire, aber Wilder hat es doch ganz anders gemacht als Lubitsch, für den er anfangs als Drehbuchautor tätig war. Ich rede von „Fünf Gräber bis Kairo“ (1943). Man sollte diese beiden Filme nicht gegeneinander ausspielen, aber Wilder macht die Nazis nicht lächerlich (eher die italienischen Faschisten), und der Film ist dennoch sehr witzig.

Ein britischer Panzer fährt führerlos durch die Sahara; einer seiner Insassen (Franchot Tone) wird hinausgeschleudert. Mit letzter Kraft schleppt er sich zu einer Oase, in der sich ein Hotel befindet. Der Krieg ist in vollem Gange, und die Truppen von Feldmarschall Erwin Rommel rollen das Schlachtfeld vor sich auf. Bald werden sie auch das Hotel erreichen. Der Besitzer und ein Zimmermädchen (Anne Baxter) sind bereits in Deckung gegangen. Sie wollen keinen Ärger und sind nicht begeistert, daß sie nun einem britischen Soldaten einen Unterschlupf bieten sollen. Aber der übernimmt zur Tarnung die Rolle eines Hotelbediensteten, der vor kurzem umgekommen ist.

Bald darauf trifft Rommel (Erich von Stroheim) mit seinem Stab ein und beschlagnahmt das Hotel. Bei ihm ist auch ein italienischer General, der mehr für Verdi-Opern als für den Krieg übrig hat und von den Deutschen nicht für voll genommen und dauernd benachteiligt wird. Es stellt sich heraus, daß Rommel sich mit dem Toten treffen wollte. Er kennt ihn aber nicht persönlich, so daß Tone ihm gegenüber vorgeben kann, dieser Kontaktmann zu sein. Umgekehrt versucht er dahinterzukommen, was Rommel plant. Die Situation ist jedoch für ihn äußerst gefährlich. Das Zimmermädchen, eine Französin, will mit den Deutschen kollaborieren, um ihren gefangenen Bruder frei zu bekommen, und ist bereit, dafür auch den britischen Panzersoldaten zu verraten. Der deutsche Hauptmann, der versprochen hat, ihr zu helfen, will sie aber nur verführen.

Das führt zu einigen Verwicklungen. Zwischendurch wird auch der tote Spion entdeckt. Dennoch gelingt es Franchot Tone herauszufinden, was Rommel vorhat. (Achtung, Spoiler!) Auf seiner Nordafrika-Karte ist da, wo das Wort „E G Y P T“ steht, sein Nachschub im Wüstensand vergraben. Tone kann die Karte rasch abzeichnen, dann wird er von Rommel mit einem Auftrag nach Kairo geschickt. Dort weiht er dann die Briten ein, wie sie die deutsche Armee empfindlich treffen können. Das Blatt wendet sich; die Deutschen müssen sich zurückziehen, Rommel das Hotel verlassen, das nun wieder in die Hände der Briten fällt. Am Ende kehrt Franchot Tone dorthin zurück, um Anne Baxter wiederzusehen, in die er sich verliebt hat. Zunächst trifft er den italienischen General, der gerade mit einer schönen Arie auf den Lippen in Kriegsgefangenschaft geht. Dann erfährt er, daß Baxter nicht mehr lebt – die Deutschen haben sie kurz vor ihrem Abzug umgebracht.

Wer den Film nicht kennt, könnte sich fragen: Was ist daran – abgesehen vom Spiel des italienischen Generals sowie des ängstlichen Hotelchefs (Akim Tamiroff) – eigentlich eine Komödie? Tatsächlich könnte man den Film auch unter Abenteuer, Thriller oder Suspense einordnen. Das liegt daran, wie die Rolle von Rommel angelegt ist. Stroheim stellt ihn intelligent, kultiviert, aber auch gefährlich dar. Jedenfalls vermeidet er die üblichen Nazi-Klischees. Der echte Rommel war einer der wenigen Deutschen, die im Zweiten Weltkrieg Achtung genossen, und ihn umgab sogar ein gewisser Mythos („Wüstenfuchs“). Er wird dadurch aber nicht sympathisch, sondern man nimmt ihn als Gegner ernst. Das gelingt Stroheim in eindringlicher Weise. Die Komödie liegt in den Verwechslungen und dem Kampf zwischen Tone und Baxter. Aber das Grauen des Krieges ist nie weit weg, was der ungewöhnliche, düstere Schluß des Films unterstreicht. Für mich ist „Fünf Gräber bis Kairo“ ein frühes Meisterwerk von Wilder.

Nante 27.10.2022 14:14

Mhm, als Komödie hatte ich den eigentlich nicht in Erinnerung. Eher als guten Anti-Nazi-Film. Vor allem der Catch mit den Buchstaben auf der Landkarte fand ich genial, den Rest weniger. Allerdings ist es auch schon Jahrzehnte her, daß ich den Film gesehen habe.

Wilder hat ja speziell in seiner Anfangszeit als Regisseur zeigen wollen, daß er mehr als "nur Komödie" kann. Nicht umsonst kam ja als nächster Film mit "Double Indemnity" ein ganz schwarzer Klassiker.

Aber vielleicht muß ich ihn mir wirklich mal wieder anschauen, denn außer Stroheims Auftritten habe ich wirklich kaum noch was davon im Kopf.

Peter L. Opmann 27.10.2022 14:28

Ich würde sagen, es ist wie bei guten frankobelgischen Comicalben (von Hergé, Franquin oder Tillieux): Ein Abenteuerstoff, aber mit lustigen Einsprenkseln und Untertönen. Ich könnte mir vorstellen, Wilder hat sich - anders als Lubitsch - gesagt: Der Krieg ist nichts, worüber man laut lachen sollte, aber es soll auch kein todtrauriges Drama werden.

Nante 27.10.2022 19:27

Gut, nachdem Billy Wilder nun schon eingeführt wurde, muß ich wohl doch schon meinen „Wilder-Klassiker“ vorstellen. Eigentlich sind es zwei, aber „Some like it hot“ vorzustellen, hieße ja Eulen nach Athen zu tragen.

Den anderen, nämlich „1-2-3“ habe ich dagegen erst Anfang des Jahrtausends zum ersten mal gesehen. Und wie immer auch da natürlich zufällig und erst mal nur die zweite Hälfte.
Andererseits war das vielleicht auch nicht schlecht, denn auf der DVD, die ich mir dann deswegen zugelegt habe, war dann auch die Original-Fassung. Und die OE-Fassung sollte man sich in diesem Fall auch gönnen. Nur hier kommen viele Gags, die sich aus dem Zusammenspiel der amerikanischen und deutschen Schauspieler in ihrer jeweiligen Muttersprache bzw. dem Germano-Englisch der Deutschen ergeben, erst richtig zum Tragen.

Zum Inhalt: J. Cagney spielt den Leiter der örtlichen Coca-Cola-Niederlassung in (West)-Berlin kurz vor dem Mauerbau. Und im Gegensatz zu seiner Frau genießt er seine Vizekönig-Position in vollen Zügen incl. sehr attraktiver Sekretärin (Lilo Pulver). Sein ganzes Denken kreist um seinen Meister-Coup: Coca-Cola in den Ostblock auszuweiten. Seine Gespräche mit einem russischen Trio (u.a. mit „Sam Hawkins“ Ralf Wolter) , bei dem nie ganz klar ist, wer hier wen überwacht, sind schon recht fortgeschritten.
Sein oberster Boss in Atlanta lehnt den Deal aber ab und verdonnert ihn stattdessen dazu, auf seine Tochter aufzupassen, die gleich in Berlin landen wird. Er macht gute Miene zum bösen Spiel und ist froh, daß sich die junge (und offenbar nicht sehr intelligente) Dame offenbar ganz gut allein amüsiert.

Nach ein paar Wochen allerdings platzt die Bombe. Sie stellt ihm erstens ihren frisch angetrauten „Otto“ (Horst Buchholz) vor, der zweitens knallharter Ostdeutscher Kommunist ist und mit dem sie drittens noch am gleichen Tag nach Moskau abreisen will.
Mit einer improvisierten Intrige und seines Assistenten Schlemmer schafft es Cagney zwar, den unwillkommenen Bräutigam als „Klassenfeind“ von der ostdeutschen Polizei verhaften zu lassen. Aber der nächste Schock folgt: Die Dame ist schwanger und ihre Eltern landen in weniger als einem Tag in Berlin!
Wie Cagney nun den Bräutigam mit Hilfe seiner russischen Kontakte erst aus dem Gefängnis und über die Sektorengrenze lotst und dann den kommunistischen Proleten Otto gegen dessen Willen in einen Dandy mit adligerm Stammbaum verwandelt, kann man nicht beschreiben. Das muss man gesehen haben.
Nur das unvermeidliche Ende, an dem Cagney zugunsten der Familie in der Karriere zurück steckt, mindert für mich den Film etwas. Aber wirklich nur etwas.
Ansonsten lebt der Fim neben dem irrwitzigen Tempo, daß Cagney vorgibt vor allem von dem Zusammenprall von ihm und den als unheilbar kriecherisch dargestellten Deutschen, wobei auch mehr als einmal auf deren nicht ganz rühmliche Vergangenheit angespielt wird. („Was waren Sie im dritten Reich, Schlemmer?“ – „Ich war im Untergrund“ – „Im Widerstand?“ – „Nein, Schaffner bei der U-Bahn.“)

Das der Film im Osten nicht gezeigt wurde, war klar. Aber auch im Westen floppte er eher, was wohl auch aber sicher nicht nur am Mauerbau lag. Der jüdische Emigrant Wilder nahm nun mal keine Rücksicht auf Empfindlichkeiten der Deutschen Wirtschaftswundergesellschaft.
Was mich selbst angeht, ist das in der Chronologie der letzte Wilder-Film, den ich als Klassiker bezeichen würde. Die danach kamen sind auch noch gut bis sehr gut, aber total begeistert hat mich von denen keiner mehr.

Peter L. Opmann 27.10.2022 20:49

Danke für den Beitrag, Nante!

Ja, warum wurde "Eins, zwei, drei" kein Erfolg? Was Deutschland betrifft, stimme ich Dir sofort zu, daß die Deutschen einfach zu unvorteilhaft porträtiert werden. Aber warum erging es dem Film in USA genauso? Es erschien wohl auch unvorteilhaft, daß die Amerikaner anscheinend nur ihre Geschäfte im Kopf haben, wo es doch um den - auch moralischen - Konflikt zwischen West und Ost ging.

Heute spielt das alles keine Rolle mehr. Man erkennt mit etwas Abstand, daß er zeigt, daß jegliche Ideologie durch menschliche Schwächen untergehen muß. Sehr scharfsinnig. Ich hoffe nur, daß sich diese Weisheit auf Putins Rußland und Xis China irgendwann auch anwenden läßt.

Das Urteil, daß das Wilders letzter guter Film war, finde ich hart - aber es sei Dir natürlich unbenommen. Ich würde zumindest "Irma la Douce" und "Der Glückspilz" noch gelten lassen. Und zudem gefallen mir auch noch die Remakes "Extrablatt" (Journalismus!) und "Buddy Buddy" - ich finde, Lemmon und Matthau schaffen es, daß der Film zumindest mit Ach und Krach an "Die Filzlaus" herankommt.

Nante 27.10.2022 20:57

Ich habe ja geschrieben, daß auch danach noch gute Filme kamen.
Aber es waren eben keine mehr, die Maßstäbe gesetzt haben, wie "Some like it hot" und "1-2-3" für die Komödie, "Zeugin der Anklage" für ein Gerichtsdrama oder auch "Das Appartement" als Mileuschilderung des kleinen Angestellten.
"Irma La Douce" hat sicher auch das Zeug zum Klassiker, aber hier stört mich einfach diese überdeutliche Studio-Atmospäre.

Peter L. Opmann 27.10.2022 21:42

Also, da habe ich Dich etwas mißverstanden. Aber es erhebt sich wieder die Frage: Was ist hier ein Klassiker?

Ich lege da jedenfalls weniger strenge Maßstäbe an. Weil man eben nie objektiv sein kann und persönliche Vorlieben immer eine Rolle spielen. Ich hätte kein Problem damit, auch "Extrablatt" als Klassiker vorzustellen, obwohl dieses Attribut sicher eher dem Original von Howard Hawks ("His Girl Friday") zusteht. Aber das ist auch ein Film, den ich mir immer wieder anschauen kann - auch wenn der gar kein so schönes Bild der Journalistenzunft entwirft.

Nante 28.10.2022 06:04

Zitat:

Zitat von Peter L. Opmann (Beitrag 803734)
Aber es erhebt sich wieder die Frage: Was ist hier ein Klassiker?

Die Antwort muß jeder für sich selbst finden; - sonst könnten wir den Thread ja gleich wieder zu machen. :D

Peter L. Opmann 28.10.2022 06:54

Also mal sehen, ob uns das gelingt...

Da eben von Jack Lemmon die Rede war, stelle ich jetzt einen Film vor, in dem er einmal eine ausgesprochen ernste Rolle gespielt hat: „Vermißt“ von 1982. Unter dem Aspekt des Klassikers hätte ich vielleicht eher „Z“ vom selben Regisseur, Constantin Costa-Gavras, auswählen sollen. Aber ich habe diesen Film gesehen, als ich für seine Botschaft wie auch seine Machart sehr empfänglich war („Z“ erst einige Jahre später). Er hat auch ein paar unbestreitbare Vorzüge.

Es ist eine dokumentarisch angelegte Geschichte aus der Zeit (1973/74), als die linke Regierung Chiles von dem Diktator Augusto Pinochet gestürzt wurde. John Shea spielt einen jungen Amerikaner mit sozialistischen Idealen, der in Santiago mit Freunden eine Kommune gegründet hat. Er bekommt den Umsturz hautnah mit, als er mit einer Besucherin durch das Land reist. Ein US-Colonel hilft ihnen, trotz des verhängten Kriegsrechts wohlbehalten nach Santiago zurückzukehren. Shea fragt sich allerdings, was der Militär in dieser Situation überhaupt in Chile zu suchen hat. Er macht sich Notizen, auch wenn seine Bekannte ihm rät, das lieber bleiben zu lassen.

Wenige später geht seine Frau, gespielt von Sissy Spacek, eine Freundin besuchen. Als sie zurückkehrt, ist ihre Wohnung verwüstet, und Shea ist weg. Sie stellt bei der örtlichen Polizei Nachforschungen an, aber niemand scheint etwas über seinen Verbleib zu wissen. Schließlich ruft sie seinen Vater in den USA an (Jack Lemmon) und bittet ihn, ihr zu helfen. Er reist sichtlich unwillig und mit der Vorstellung an, er müsse nur bei den Behörden seinen Einfluß als Amerikaner geltend machen, um seinen Sohn aus der mutmaßlichen Haft freizubekommen. Lemmon ist absolut überzeugter Amerikaner und denkt, sein mißratener Sohn habe sich seine Schwierigkeiten selbst eingebrockt. Spacek verteidigt ihren Mann, aber von ihr hat er auch keine sehr hohe Meinung.

Zu Lemmons Überraschungen führen auch seine Ermittlungen zu überhaupt nichts. Sogar der US-Botschafter, zu dem er politische Kontakte hat, beteuert zwar, er werde alles tun, um Shea wiederzufinden, aber wochenlang gibt es null Ergebnisse. Freunde von Shea berichten, wie sie inhaftiert wurden und ihren Tod vor Augen hatten, dann aber doch glücklich freikamen und ausreisen konnten. Was Spacek schon früher befürchtet hat, zieht nun auch Lemmon in Erwägung: daß sein Sohn in den Wirren des Militärputschs umgebracht wurde und die Sache nun vertuscht werden soll. Er glaubt allerdings nicht, daß auch sein eigenes Land da die Finger im Spiel hat.

Unermüdlich suchen Lemmon und Spacek Gefängnisse, Krankenhäuser, Flüchtlingslager und alle Einrichtungen, in denen sich Shea befinden könnte, ab. Dabei bekommen sie tiefe Einblicke in die schlimmen Zustände, die im Land herrschen (wobei unterstellt wird, daß das Leben in Chile unter dem linken Präsidenten Allende wunderbar war). Ein Freund, der angeblich das Land verlassen hatte, taucht als Leiche auf. Eine US-Journalistin bringt Lemmon und Spacek schließlich mit einem Gewährsmann zusammen, der miterlebt hat, daß Shea wegen seiner Aufzeichnungen, die die USA als Pinochet-Helfer enttarnten, hingerichtet worden ist. Er fügt hinzu, die Chilenen hätten das nicht gewagt, wenn nicht die USA ihr Okay dazu gegeben hätten. Wir sehen, wie sich Lemmon im Verlauf der Suche verändert. Insbesondere verbessert sich sein Verhältnis zu seiner Schwiegertochter deutlich.

Der Botschafter bittet Lemmon und Spacek noch einmal zu sich, um ihnen eine gute Nachricht zu verkünden: Er habe nun erfahren, daß Shea in die USA zurückgekehrt sei und bald mit seiner Frau und seinem Vater Kontakt aufnehmen werde. Lemmon bedeutet ihm, er wisse inzwischen, was aus seinem Sohn geworden ist, worauf der Botschafter plötzlich umschwenkt und sagt, es gehe um amerikanische Interessen, um den american way of life; deshalb seien die USA in Chile engagiert. „Wenn es sich nicht zufällig um Ihren Sohn handeln würde, würden Sie doch satt und selbstzufrieden in Ihrem Sessel sitzen“, fügt er hinzu. Dem Film liegt ein realer Fall zugrunde, und am Ende wird noch mitgeteilt, die Leiche des Sohnes sei erst Monate später in die USA überführt worden, so daß eine genaue Autopsie und die Rekonstruktion, wie er umgekommen ist, nicht mehr möglich war. Der Vater habe die US-Regierung und speziell Außenminister Henry Kissinger verklagt, weil sie die Ermordnung eines amerikanischen Staatsbürgers zugelassen hätten – erfolglos.

Wer sich mit dem Vietnamkrieg befaßt hat, hätte schon während des Films darauf kommen können, wie er vermutlich ausgehen wird. Dafür war ich aber zu jung. Der Film wurde übrigens von Universal produziert – also die USA hatten mit der Story offensichtlich auch kein Problem mehr. Aber die Leistung von Lemmon und auch von Spacek ist beachtlich, und rein formal ist das Drehbuch sehr geschickt strukturiert. Man bekommt durch den Ablauf der Ereignisse einen immer besseren Einblick in die Probleme von Chile (wobei das natürlich ein Spielfilm und keine echte Dokumentation ist). Mich packte der Film auch bei meinem moralischen Gewissen, und das gelingt ihm mit Abstrichen auch noch, wenn ich ihn mal wieder sehe.

Nante 28.10.2022 17:32

Ja, an den kann ich mich auch erinnern. Lief auch in der DDR im Kino und wurde auch sehr gelobt. Vielleicht neben einer gewissen "Chile-Müdigkeit" damals der Grund, weswegen ich ihn nicht in besonderer Erinnerung habe. So richtig hängen geblieben sind eigentlich nur die Szenen im Nationalstadion und der Streit zwischen Lemmon und Spacek.

Komischerweise ist es bei einem ähnlich ambitionierten Film aus dieser Zeit ganz anders: "Under Fire" mit Nick Nolte. Liegt vielleicht auch nur daran, daß dort etwas mehr "Egdschn" drin war. :weissnix:

Peter L. Opmann 28.10.2022 17:54

"Under Fire" habe ich leider nicht gesehen. Ich habe mir eben den wikipedia-Eintrag durchgelesen. Im Unterschied dazu (und auch zu "Salvador" und "Ein Jahr in der Hölle") ist Charles Horman (John Shea) glaube ich kein richtiger Journalist. Er ist jedenfalls nicht mit dem Ziel unterwegs, einen Skandal aufzudecken. Er lebt als Salon-Sozialist in den Tag hinein. Deshalb weiß er auch nicht, in welche Gefahr er sich begibt.

Ich war damals auch nicht deshalb im Kino, weil ich mir einen Polit-Thriller ansehen wollte. Ich hatte keine Ahnung, was für eine Art Film das ist. Jack Lemmon war mir schon ein Begriff. Der Film wirkt wohl besonders stark auf Zuschauer wie mich, die anfangs denken: Es kann doch nichts Schlimmes passiert sein, oder?

Peter L. Opmann 29.10.2022 07:53

Diesen Film habe ich etwa 1984/85 im Fernsehen gesehen: „New York City Girl“ (1982), ein Frühwerk von Susan Seidelman. Ich habe ihn gut im Gedächtnis behalten, weil er für mich, ähnlich wie „Vermißt“, schwer einzuordnen war. Ich habe den Verdacht, daß ich ihn aus dem falschen Blickwinkel gesehen habe, nämlich dem des Jungen. Für Seidelman war es aber ein Film über die Selbstbestimmung von Frauen. Die Herangehensweise ist auch irgendwie dokumentarisch und ziemlich unparteiisch.

Ich glaube, am Anfang sehen wir, wie eine junge Frau aus New Jersey (Susan Berman) durch NY streift und überallhin Blätter mit ihrem Konterfei und dem Text „Who’s that Girl?“ klebt. Sie will nämlich in der Musikszene der Stadt bekannt werden. Die Geschichte beginnt aber erst richtig, als sie auf einen Wohnwagen stößt, in dem ein Junge aus dem amerikanischen Westen lebt. Für ihn ist NY nur eine Durchgangsstation; er will nach New Hampshire (ein kleiner Bundesstaat an der Ostküste nahe der kanadischen Grenze). Als er sie kennenlernt, beschließt er, etwas länger zu bleiben. Es wird schnell klar, daß sie schlecht zusammenpassen. Er ist ein ruhiger Typ, der aber weiß, was er will. Er malt ein bißchen. Sie ist hektisch und schrill (ein Punkmädchen), impulsiv und völlig unorganisiert. Trotzdem interessieren sich beide ein wenig füreinander und wollen es einmal miteinander versuchen.

Es kommt, wie es kommen muß: Sie trifft bald darauf einen Rockmusiker (dargestellt von Richard Hell), dessen Karriere etwas ins Stocken geraten ist, für den sie jedoch den Jungen schnell stehenläßt. Das tut ihm weh, er ist aber nicht in der Lage, aus der Haut zu fahren, und nimmt seine Abservierung hin. Der Musiker ist allerdings verheiratet, was für sie bedeutet, daß sie mit seiner Frau in die Haare gerät. Dann muß sie seine Wohnung verlassen, aber nicht wegen der Ehekonflikte, sondern weil er seine Miete nicht bezahlt hat. Sie muß nun wieder irgendwie allein in New York überleben. Da sie dabei aber nicht viel Glück hat, kehrt sie schließlich zu dem Wohnwagen-Boy zurück, der sie auch großzügig wieder bei sich übernachten läßt.

Nach wie vor interessiert sie sich aber mehr für den Rockmusiker. Beide beschließen, nach Los Angeles zu gehen, sobald sie das nötige Geld beisammen haben. Das beschaffen sie sich, indem sie einen Mann ausrauben. Dann kann’s losgehen. Sie muß nur nochmal kurz zurück zum Wohnwagen und ihre Sachen holen. Anschließend stellt sich heraus, daß Richard Hell bereits ohne sie, aber mit dem ganzen Geld nach LA aufgebrochen ist. Unsere Heldin möchte nun ernsthaft zu dem Country-Boy zurückkehren, aber da stellt sich heraus, daß er inzwischen seine Reise nach New Hampshire fortgesetzt hat (nachdem er ziemlich lange vergeblich auf sie gewartet hatte). Er ist weg, nur sein Wohnwagen ist noch da, den er zu Geld gemacht hat. In dem Van findet sie ein Gemälde von ihm mit ihrem Porträt – ein Zeichen, daß er sie wirklich geliebt hat. Aber zu spät - sie wird nun ihr Leben so unstet fortsetzen, wie wir das von ihr kennen.

Das entsprach so ziemlich den Erfahrungen, die ich damals mit Frauen gemacht habe. Verblüfft hat mich an dem Film aber, daß er praktisch ohne Dramaturgie auskommt. Es war möglicherweise der erste Independent-Guerilla-Film, den ich gesehen habe. Alles an der Handlung ist zufallsgeboren. Ich kann mir gut vorstellen, daß direkt auf New Yorker Straßen gedreht wurde. Insgesamt fand ich den Film sehr spannend. Vor allem Susan Bermans Spiel bleibt für mich unvergeßlich. Vielleicht hat sie einfach sich selbst gespielt, aber das sehr überzeugend. Wer Richard Hell ist, wußte ich damals sehr wahrscheinlich noch nicht. Ebenso war der Blick auf New York und seine Musikszene am Ende der Punkära eine völlig neue Erfahrung für mich. Seidelmans bekanntere Filme „Susan… verzweifelt gesucht“ und „Making Mr. Right“ habe ich auch gesehen; sie sind mir aber nicht so im Gedächtnis geblieben. Später habe ich ihr filmisches Werk aus den Augen verloren.

Peter L. Opmann 30.10.2022 06:20

Es wird Zeit, daß ich mich dem Werk von Alfred Hitchcock nähere – dem „Archipel Hitchcock“, wie Hans C. Blumenberg mal formulierte. Lange Zeit war mein Lieblings-Hitchcock „Berüchtigt“, und ich hätte ihn beinahe ausgewählt wegen der eigentümlichen Schurkenrolle von Claude Rains, der mir danach noch öfter als sanfter Bösewicht aufgefallen ist. Aber ich habe doch Zweifel, ob die Liebesgeschichte zwischen Cary Grant und Ingrid Bergman, das Drama mangelnden Vertrauens, nicht inzwischen etwas unzeitgemäß ist. Deshalb habe ich mich für „Die 39 Stufen“ (1935) entschieden, ein früher Suspense-Film von Hitch; manche sagen sogar, er habe mit diesem Film das Genre erfunden.

Vorab möchte ich bemerken, daß es meines Wissens keinen anderen Hollywood-Regisseur gibt, der so wie er zwar geschätzt, aber doch für einen reinen Filmhandwerker ohne höhere Ansprüche gehalten wurde, bis ihn ein paar französische Kinoenthusiasten - allen voran Francois Truffaut – zum Filmkünstler par excellence erhoben. Peter Bogdanovic versuchte ähnliches mit John Ford, John Carpenter mit Howard Hawks, Wim Wenders mit Nicholas Ray und Rainer Werner Faßbinder mit Douglas Sirk, aber daß sich das Image eines Regisseurs in der filminteressierten Öffentlichkeit so sehr änderte, hat es wohl nicht noch einmal gegeben.

Natürlich gibt es viele Hitchcock-Filme, die eine Betrachtung wert wären, aber ich mußte mich für einen entscheiden, und ich finde, sein Schaffen vor seiner Zeit in Hollywood wird etwas unterschätzt und zu wenig beachtet. „Die 39 Stufen“ ist eine ganz seltsame Mischung aus Thriller, Kriminalfilm, Romanze und Komödie, die ihm dann noch einige Male geglückt ist. Kennzeichnend ist auch das Drehbuch, das einige ziemlich unwahrscheinliche Ereignisse aneinanderreiht; es ist aber nicht schlampig geschrieben, sondern die Handlung ist so angelegt, daß immer maximale Spannung entsteht, und man muß als Zuschauer genau aufpassen, was daran unglaubwürdig ist. Hitchcocks bekanntester Film, der dem Rezept von „Die 39 Stufen“ folgt, ist wohl „Der unsichtbare Dritte“, den ich mir auch immer wieder mal mit großem Vergnügen ansehe.

Zur Handlung: Robert Donat lernt eine englische Spionin kennen, die schon bald ermordet wird, ihm aber noch verrät, daß sie gegen eine ausländische Geheimorganisation kämpft, deren Anführer ein Fingerglied fehlt. Donat wird zu Unrecht als Mörder verdächtigt und beschließt, selbst den Spionagering auffliegen zu lassen, auch um seine Unschuld zu beweisen. Er reist per Zug von London nach Schottland, wo er laut der Spionin einen Helfer finden kann. Als die Polizei die Waggons durchsucht, hilft ihm eine geheimnisvolle Schönheit (Madeleine Carroll), die ihn dann auch auf der weiteren Reise begleitet. Er trifft den vermeintlichen Verbündeten, einen honorigen Professor, entdeckt aber eben noch rechtzeitig, daß ihm ein Stück seines kleinen Fingers fehlt, er also der Kopf der Geheimorganisation ist, und kann fliehen.

Er gerät in eine Veranstaltung, wo er irrtümlich für den erwarteten Vortragsredner gehalten wird. Schlagfertig geht er tatsächlich auf die Bühne und gewinnt das Publikum für sich. Da taucht aber Madeleine Carroll mit Polizisten auf, die ihn verhaften. Sie hält ihn inzwischen auch für schuldig. Allerdings sind es keine echten Polizisten, sondern Mitglieder des Spionagerings. Donat und Carroll werden mit Handschellen aneinander gefesselt. Donat kann zwar erneut fliehen, aber er bleibt an Carroll gekettet. Er versucht, ihr klarzumachen, daß er mit der Verschwörung nichts zu tun hat, sondern nur zufällig hineingezogen worden ist. Nach einigen Verwicklungen kann er sie endlich davon überzeugen.

Nun sind Donat und Carroll zurück in London. Sie wissen, daß während einer Veranstaltung Geheimdokumente an den „Professor“ übergeben werden sollen, aber Donat rätselt, wie das vor sich gehen soll. Attraktion des Abends ist ein Gedächtniskünstler, und Donat wird endlich klar, daß der die brisanten Informationen auswendiggelernt hat. Es kommt zum Showdown, bei dem der Gedächtniskünstler erschossen, aber der „Professor“ festgenommen wird. Donat und Carroll sinken einander in die Arme.

Jemandem, der „Die 39 Stufen“ nicht kennt, kann ich nachfühlen, wenn er sagt: Wie soll ein so alter Film heute noch Spannung erzeugen? Doch ich würde sagen, durch die atemlose Abfolge von Bedrohungen, Enttarnungen und Verfolgungen wird dem Zuschauer kaum bewußt, daß er so alt ist. Teilweise ist er im Stil des Film noir gedreht. Natürlich fahren die Leute mit Oldtimern herum und sind nicht ganz zeitgemäß gekleidet (obwohl: Es ist England). Aber ich finde, Hitchcock abstrahiert so sehr von der Kulisse, daß das nicht stört. Die Mischung aus Spannung und Komik, die hervorragend gelungen ist, tut ein Übriges, daß der Film immer wieder seine Wirkung entfaltet.

Nante 30.10.2022 07:08

Ich kenne in diesem Fall nur das Remake von Don Sharp. (Mit dem Harold-Lloyd-Moment am Zifferblatt von Big Ben) Ja, eigentlich sollte man sich auch das Original mal anschauen.

Zitat:

Natürlich gibt es viele Hitchcock-Filme, die eine Betrachtung wert wären, aber ich mußte mich für einen entscheiden
Warum? Hier geht es doch um KLASSIKER. Und da ist der gute Alfred doch wirklich für mehr als einen gut, oder? :zwinker:

Peter L. Opmann 30.10.2022 07:40

Später, später... :D

Nante 30.10.2022 11:28

Gut, dann bis dahin auch von mir ein Film aus den 30ern.
Mein Klassiker von S. Eisenstein ist weder „Panzerkreuzer Potjomkin“ noch „Iwan Grosny“ sondern sein „Alexander Newski“ von 1938 über den gleichnamigen russischen Nationalheiligen.

Obwohl von Anfang bis Ende ein reiner Propagandafilm, bei dem die Geschichtklitterung buchstäblich im ersten Satz beginnt ist es gleichzeitig großartig gemachte Unterhaltung, bei der sich aus künsterischer Sicht Elemente von Stumm-und Tonfilm verbinden und auch die Musik eine wichtige Rolle spielt.

Der Film beginnt in einem Zusammentreffen des durch Intrigen „der Reichen“ aus Nowgorod vertriebenen und das "einfache Landleben" genießenden Alexander mit einem hohen Beamten der goldenen Horde, der Russen in die Sklaverei verschleppt. Die Darstellung der Mongolen unterscheidet sich hier kaum von der der Hunnen in F. Langs "Nibelungen".
Alexander und der Gesandte unterhalten sich von gleich zu gleich und der Held lehnt ein Angebot ab, in tatarische Dienste zu treten. Ebenso unterbindet er Versuche seiner Leute, die Sklaven zu befreien, denn die Tataren müsse man sich für später aufheben. Jetzt seien die Deutschen die gefährlicheren Feinde, denn sie strebten nicht (nur) nach Sklaven sondern vor allem nach der „heiligen russischen Erde“.

In Nowgorod hat sich inzwischen „das Volk“ gegen die wankelmütigen „Oberen“ durchgesetzt und nach der Nachricht von der Eroberung Pskows durch die Deutschritter ruft man Alexander zurück, um mit ihm gegen die Eroberer zu Felde zu ziehen. Der Patriotismus erfaßt Männer, Frauen und Kinder und nur einige wenige, die sich bald als Verräter entpuppen, bleiben abseits.

Eingebettet in diese Story ist das Werben zweier typisch russischer Recken um eine junge Frau, die schließlich verspricht, den tapfersten zu heiraten. (Nehmen wir es vorweg: Beide vollbringen übermenschliches im Kampf, überleben auch beide, wenn auch arg blessiert. Und der „Verlierer“ hat inzwischen sein Herz an ein verkleidetes Mädchen unter den Kämpfern verloren. Also happy End!)

Vorher aber werden wir Zeuge, wie grauenvoll und brutal die Deutschritter im eroberten Pskow hausen. Eisenstein kommt hier fast ohne Text aus, allein die Bilder im Zusammenspiel mit der Musik reichen.

Den Höhepunkt bildet natürlich die legendäre Schlacht auf dem Eis. Auch hier sind wieder die an Ballett erinnernden Bilder und die Musik von S. Prokowjew entscheidend.

Natürlich gewinnen die Nowgoroder am Ende und die Feinde und Verräter werden bestraft. Allerdings nicht, ohne daß einer von letzteren die zu große Arglosigkeit eines tapferen Kämpfers ausnutzt und ihn ermordet. Dem verräterischen Klassenfeind ist eben in keiner Sekunde zu trauen! Der Film entstand nicht umsonst auf dem Höhepunkt der großen Säuberungen 1937/1938.

Am Ende hält Newski eine Rede, deren finale Warnung vom großen Führer der Werktätigen selber stammen könnte: Wer in Frieden zu uns kommt, darf mit uns feiern. Wer mit dem Schwert kommt, wird dadurch umkommen. – Ich weiß nicht, ob Hitler den Film je gesehen hat…

Neben den eindeutigen Bezügen auf die Nazis und die deutsche Wehrmacht (Gestaltung der Helme!) fiel mir vor allem noch das Spiel von Nikolai K. Tscherkassow in der Rolle des Titelhelden auf. Seine herrischen Gesten und das entschiedene Auftreten wirken schon wie eine Einstimmung auf seine Paraderolle in Eisensteins Spätwerk „Iwan Grosny“.

Peter L. Opmann 30.10.2022 14:40

Du hättest ruhig auch etwas über einen Hitchcock-Film schreiben können.

Aber ich habe das Gefühl, die Generation vor Hitchcock (Griffith, Eisenstein) liegt Dir noch mehr am Herzen.

Ich habe natürlich "Panzerkreuzer Potemkin", aber sonst nichts von Eisenstein gesehen. Ich könnte höchstens noch mit Pudowkins "Sturm über Asien" dienen.

Aber ich find's gut, daß ich hier auf Filme aufmerksam werde, die ich noch nicht kenne. So kann's weitergehen!

Nante 30.10.2022 14:55

Ja, "Sturm über Asien" habe ich (in der DEFA-Fassung) noch zu DDR-Zeiten mal gesehen. Damals aber eher achselzuckend hingenommen, weil es irgendwie alles so unreal wirkte. - Später habe ich mich dann aber gefragt, inwieweit das ganze auch eine Reaktion auf das Treiben des Baron von Ungern-Sternberg damals in Sibirien war. Und nachdem ich letztes Jahr auch den entsprechenden Coro-Maltese-Band gelesen habe...:kratz:

Peter L. Opmann 30.10.2022 15:15

Ich hatte das Gefühl, "Sturm über Asien" sei ziemlich dokumentarisch. Haben da nicht echte mongolische Nomaden mitgewirkt?

Dummerweise habe ich die DVD nicht mehr. Ich habe sie einem Freund geliehen, der wenig später umzog und sie nach dem Umzug nicht wiederfand.

Nante 30.10.2022 15:29

Tja, 3x umgezogen = 1x abgebrannt. :D

Mit "unreal" meine ich die Grundprämissen des Films.
Einmal waren im Gegensatz zu den Amis und vor allem den Japanern die Engländer damals dort kaum präsent.
Und dann dieses Amulett oder was es war, daß ihn als Nachkommen Dschingis-Khans ausweist (wenn ich mich recht erinnere, hatte er das Ding ja auch nur jemand anders in einem Handgemenge abgenommen). Das war zwar noch vor den Erkenntnissen der Genforschung, aber das der alte Mongole unzählige Nachkommen hatte, was nicht automatisch zum Herrschen qualifizierte, wußte auch so ein kleiner Ossi-Teenager wie ich schon. (Der Mongolen-Trilogie von W. Jan sei Dank! :D)
Aber großartig gedreht war er schon, das stimmt. Vor allem die Schlußszene, die den "Sturm" verkörpert, war recht beeindruckend.

Peter L. Opmann 30.10.2022 15:48

Stimmt, ich glaube, mein Freund hat mich auch darauf aufmerksam gemacht, daß die Engländer hier als der große Feind aufgebaut werden, historisch aber eine viel kleinere Rolle gespielt haben. Oder es stand auf der DVD-Hülle. Aber mein Freund kommt auch aus der DDR und könnte das gewußt haben.

Ändert aber nichts an der Großartigkeit des Stummfilms.

Peter L. Opmann 31.10.2022 06:58

Jetzt mal ein Film, den nach meiner Erfahrung kaum jemand kennt: „Der Schuß von der Kanzel“ (1942). Nicht, daß ich mir viel darauf einbilde; ich schätze, dieser Film lief mal im heimatliebenden Bayerischen Rundfunk, auch wenn es eine Schweizer Produktion ist. Manch einem wird zumindest der Titel bekannt vorkommen. Es ist die Verfilmung einer Novelle des Schweizer Dichters Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898). Der Film unterscheidet sich in ein paar Punkten von der Vorlage. Die religions- und kirchenfeindliche Haltung Meyers wird etwas entschärft. Andererseits wird der Abschnitt, der die Kriegsvorbereitungen des Generals Werdmüller zeigt, ausgebaut.

Soweit ich gelesen habe, wurde damals in der Schweiz kritisiert, daß sich Regisseur Leopold Lindtberg angesichts des Weltkriegs einen so unverfänglichen literarischen Stoff ausgesucht hatte. Aber es war auch schwierig, den Film zu drehen. Die Schweizer Filmwirtschaft war von Deutschland ziemlich abhängig, insbesondere bezog man von dort Filmmaterial. Das Budget war gering, und es mußte viel improvisiert werden. Aber es ist doch ein konventioneller Kostümfilm, dem man die Umstände seiner Entstehung nicht ansieht. Im Schauspielerensemble ragen die Darsteller der Brüder Werdmüller heraus: Adolf Manz und Leopold Biberti.

Ich glaube, die Handlung muß ich erzählen: Der Pfarrer (Manz) von Mythikon (ein fiktives Städtchen am Zürichsee) steht beim Dekan unter Beobachtung, weil er seine Gemeinde vernachlässigt und lieber in den Wäldern auf die Jagd geht. Sein Traum: einen Zwölfender zu erlegen, dem er schon lange auf der Spur ist. Seine schlimmsten Versäumnisse bügelt seinVikar aus, derweil der Dekan warnt: „Noch ein Schuß, und Sie sind ihre Pfarrei los!“

Die Tochter des Pfarrers soll einen Hauptmann heiraten – so haben es die beiden jedenfalls beschlossen. Das Mädchen liebt allerdings den pflichtbewußten, wenn auch viel zu sanftmütigen Vikar. Beim Pfarrer fällt er jedoch in Ungnade. Als der Dekan anrückt, glaubt er, der Vikar habe ihn bei der Dienstaufsicht verpfiffen. Zwar ist er völlig unschuldig, sieht aber keine andere Möglichkeit, als die Pfarrei zu verlassen. Er möchte nun als Feldgeistlicher in den Dienst des Generals (Biberti) treten, der sich gerade auf einen Kriegszug vorbereitet.

Der General haust auf einem Schloß auf einer Insel im See. Er gilt als gottlos und zynisch. Sofort durchschaut er, daß der zarte Vikar für ihn völlig ungeeignet ist und daß eine unglückliche Liebe ihn zu ihm getrieben hat. Er ist allerdings der Ansicht, daß er um die Pfarrerstochter hätte kämpfen müssen. Auch das Mädchen kommt zu Besuch; sie will, daß er ihr hilft, ihren Vater von der Jagd- und Waffenleidenschaft abzubringen, und daß er für sie dem Hauptmann, der bei ihm im Sold steht, absagt. Schließlich meldet sich noch der Kirchenvorstand an, der auch gehört hat, daß der General in den Krieg zieht. Er soll ihnen vorher ein Waldstück vermachen, das in ihr Gemeindegebiet hineinragt.

General Werdmüller will das alles bis nach seiner Rückkehr verschieben. Denn eine Zigeunerin hat ihm prophezeit: Solange er eine bestimmte Tonpfeife besitzt, wird er wohlbehalten jede Schlacht überstehen. Nun zerbricht die Pfeife, und der abergläubische General sieht sich gezwungen, einen „teuflischen“ Plan zu ersinnen, um die Dinge zu ordnen. Seinem Bruder und dem Vikar will er jeweils einen Streich spielen. Durch ein Maschinenwesen, das in seinem Schlafzimmer erscheint, nimmt er dem Vikar durch Schock seine Angst vor Frauen. Er soll nun sein Mädchen entführen, was er, so gut es ihm eben möglich ist, erledigt. Seinem Bruder schenkt der General zum Abschied eine kostbare Pistole – sie hat nur einen Makel: Der Abzug ist schwergängig. Heimlich ersetzt er sie jedoch durch eine Zwillingswaffe, die sich leicht auslösen läßt und darüber hinaus geladen ist. Der Pfarrer muß sofort in seinen Gottesdienst, steckt aber die Pistole in seinen Talar und spielt während der Predigt mit ihr herum. Zu seiner Überraschung löst sich ein Schuß, der Schuß von der Kanzel.

Der Pfarrer ist damit desavouiert. Der General bietet ihm aber an, Jagdaufseher seiner Wäldereien zu werden, was er überglücklich annimmt. Dafür muß er jedoch der Hochzeit seiner Tochter mit dem Vikar zustimmen. Der Hauptmann ist zufrieden, denn er bleibt lieber dem Kriegshandwerk treu, als sich hinter einem Ofen zu verkriechen. Die Gemeinde erhält das Waldstück – unter der Bedingung, daß niemals jemand etwas von dem Schuß von der Kanzel erfährt. Dann zieht der General in den Krieg: „Nur nicht im Bett sterben!“

Das ist eine sehr schön gemachte Komödie mit ein paar düsteren Untertönen. Die Menschen sind entweder von ihren Leidenschaften hingerissen oder sind zu schwach, ihr Glück zu ergreifen. Der General ist in gewissem Sinn die einzige positive Figur in diesem Spiel, aber er paßt in keinen bürgerlichen Rahmen, und er packt seine Zeitgenossen rücksichtslos bei ihren Schwächen. Aber das alles erscheint im Film in einem milden Licht. Die Welt, die hier entworfen wird, ist natürlich schon lange untergegangen. Man bedauert ein wenig, daß es so ist, denn es ist eine weitgehend heile Welt, in der man gern zu Gast ist. Eine Ablenkung von der unerfreulichen Gegenwart von 1942 – wie etwa bei dem Film „Die Feuerzangenbowle“ – sehe ich in dem Werk aber nicht.

pecush 31.10.2022 09:33

Noch ein Wort zum "Panzerkreuzer"; den habe ich um die Jahrtausendwende kennengelernt. Ein Germanistik-Prof. spielte ein paar Szenen im Hörsaal vor - und auch wenn ich den Film bis dahin nicht kannte, war mir die Treppenszene natürlich ein Begriff. Vielfach zitiert und dadurch bekannt.

Das erinnert mich an meine erste "Psycho"-Sichtung. Fand ich den lahm - weil ich die Duschszene aus zahlreichen Parodien kannte. Heute finde ich den sehr stark.

Peter L. Opmann 31.10.2022 10:31

Kleine Anekdote zu "Psycho":

Etwa zu dieser Zeit fand in Augsburg ein Weltrekordversuch statt. Es ging um möglichst langes Kinofilme-Gucken am Stück. Die Leute, die teilnahmen, durften im Kinosessel essen und schlafen oder sonstwas machen, aber sie durften ihn nur verlassen, um aufs Klo zu gehen. Das ging mehrere Tage.

Am Ende habe ich ein paar Teilnehmer interviewt, wie sie den Kinomarathon überstanden hätten und welche Filme ihnen gefallen hätten und welche nicht. Übereinstimmend sagten mehrere, langweilig sei nur ein Film gewesen, nämlich "Psycho". Das war nämlich der einzige Film, der schwarzweiß war. Und nach deren Logik konnte ein Film, der schwarzweiß ist, nur langweilig sein.

Servalan 31.10.2022 14:36

Bei "Psycho" kommt es meiner Meinung darauf an, mit welcher Erwartung jemand sich den ansieht. Wer sich auf Bates' Motel und die Duschszene fixiert, wird natürlich enttäuscht sein, daß vorher soviel anderes passiert.
Aber wer einfach nur hinsieht und sich erst einmal auf Marion Crane einläßt, erlebt eine Femme Fatale in einem Film Noir, bis der Film in der zweiten Hälfte dann das Genre und die Hauptfigur wechselt. Für mich ist das ein B-Movie-Double-Feature in einem einzigen Film - so wie "From Dusk Till Dawn".

Peter L. Opmann 31.10.2022 15:12

Interessante Sichtweise.

Ich habe es immer so gesehen, daß Hitchcock die Erwartungen des Publikums düpieren wollte. Also er lenkt die Aufmerksamkeit erstmal auf Janet Leigh und gibt der Geschichte dann eine völlig andere Richtung. So macht er es dann mit Anthony Perkins auch. Das alles kann man aber nur mitbekommen, wenn man sich wenigstens ein bißchen auf den Film einläßt - sehe ich auch so.

Wenn es tatsächlich zwei Filme sind, dann sind sie allerdings durch den Mord an Marion verbunden.

pecush 31.10.2022 16:09

Das hat Wes Craven bei "Scream" ja dann auch schön modernisiert. Drew Barrymore, eigentlich der Star des Films und ursprünglich auch als Hauptdarstellerin gecastet, stirbt nach wenigen Szenen und eine Reihe von No-Names übernimmt.

Den Aspekt mit dem Zwei-Filme-in-einem finde ich gut.

Bei "From Dusk till Dawn", den ich vier oder fünfmal im Kino gesehen habe, war der Twist ja leider auch von Beginn an bekannt. Andererseits hätte ich den vielleicht nie im Kino gesehen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass es um Vampire geht.

Servalan 31.10.2022 16:40

Klar, Hitchcock wollte das Publikum aufs Glatteis führen, indem er die vermeintliche Hauptdarstellerin einfach in der Mitte des Films über die Klinge springen läßt.
Das wurde damals in den 1990ern in meinem Studium thematisiert. Zu der Zeit etablierte sich Film- respektive Medienwissenschaften allmählich in den Fakultäten, vorher hing das immer vom Wohlwollen des prüfenden Professors ab, ob der sich auf so etwas einläßt oder nicht.
Hinzu kommt meiner Meinung nach auch die Art, wie Hitchcock den Film gedreht hat. Hinter der Kamera hat er viele Techniken eingesetzt, die sich vorher bei der Produktion von Fernsehserien bewährt haben. Er selbst hatte die ja in "Alfred Hitchcock presents" erproben und kennenlernen dürfen.
Und viele Drama- oder Krimiserien haben ja Episoden mit einer Länge von 45 bis 60 Minuten, also entspräche "Psycho" zwei Serienepisoden.

Ach ja, ein Merkmal für Klassiker ist für mich der Umstand, daß sie zu einer Referenz werden: Fans, Publikum und Leute aus der Branche sprechen immer wieder mal von diesen Filmen. Indirekt führt das dazu, daß sie immer wieder zugänglich gemacht werden, schließlich gab es seit 1895 etliche Formatwechsel: vom hochbrennbaren Nitrofilm bis zu digitalen Daten in der Cloud.
Dabei spielt es keine Rolle, wo über die Klassiker gesprochen wird: Ob hier in Foren; ob Filme darüber gedreht werden, Romane geschrieben oder Hörspiele gemacht werden ... das kann auch subtil geschehen: Wenn Kinoplakate in Dokumentationen oder ähnlichem auftauchen.
Verglichen mit dem Theater und der Schönen Literatur (Lyrik und Prosa) ist der Film noch ein ziemlich junges Medium.

Peter L. Opmann 31.10.2022 16:48

Endlich mal eine Klassiker-Definition!

Allerdings bräuchte ich dann eine Statistik, wie viele Leute welche Filme kennen.

Das bedeutet, mein Thread-Titel ist falsch. Da sind bei mir etliche Filme dabei, die der Definition nicht entsprechen. Aber ich wollte das Ding nicht unbedingt "Peter L. Opmann: A Personal Journey through my Movie-Experiences" nennen...

falkbingo 31.10.2022 16:52

Zu den ganz großen Klassikern der Filmgeschichte zählen für mich, „Söhne der Wüste“ und „Im wilden Westen“ mit Stan Laurel und Oliver Hardy. Von beiden eine Schauspielerische Glanzleistung. Wobei beide vom schauspielerischem her, sowieso in der Champions League spielen.

Peter L. Opmann 31.10.2022 17:04

Die habe ich auch schon in Erwägung gezogen. Ich finde beide Filme auch sehr gut. Es gibt ein paar Laurel-und-Hardy-Langfilme, die ich mir gut ansehen kann, auch etwa "Fra Diavolo" oder "Blockheads". Dennoch finde ich, ihre große Stärke liegt bei den 20-Minuten-Filmen.

Du kannst aber über "Wüstensöhne" oder "Way out West" gern selbst was schreiben.

Servalan 31.10.2022 17:12

In der ONE oder ARD Mediathek stand vor kurzem eine neue Dokuserie über die Filmbranche, die natürlich aus den USA stammte und den Fokus auf Hollywood sowie das amerikanische Independentkino legte. Die unterschied sich deutlich von der, die ich in den 1970ern im ARD-Vorabendprogramm gesehen habe.
Zum einen wurden die Anfänge mit der Stummfilmära pflichtschuldig in der ersten Folge so rasch wie möglich abgehandelt. Zum anderen wurde alles betont, was den neuen Maßstäben von Diversity, Antirassismus und Feminismus genügte. Und da hatte ich schon das Gefühl, daß da ziemlich obskure Streifen ausgegraben wurden, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. In der letzten Episode wurde dann ein Potpurri von Titeln genannt, die mit Oscars prämiert wurden oder in Sundance oder auf ähnlichen Festivals gefeiert wurden. Bei ziemlich vielen von denen zweifle ich daran, daß die Filme in 20 oder 50 Jahren noch jemand kennt, geschweige denn gesehen haben wird.

Bei Filmtiteln spielt, glaube ich, das Alter des Publikums eine Rolle. Wenn du heute jemandem etwas von "Sein oder Nichtsein" vorschwärmst, kann es leicht passieren, daß derjenige zwar begeistert einstimmt - aber eben das Remake von Mel Brooks meint. Vielleicht fällt der Name Ernst Lubitsch gar nicht mehr, oder dein Gegenüber hört ihn zum ersten Mal.
Mit "Scarface" dürfte es sich ähnlich verhalten: Al Pacino dürfte wesentlich bekannter sein als Paul Muni ...

Peter L. Opmann 31.10.2022 17:36

Das stützt meine These, daß Klassiker (auch) etwas Subjektives sind.

Ich finde es aber eine Unsitte, daß man heute ältere Kunstprodukte nicht mehr gelten lassen will. Meine Freunde, die ich oben schon mal erwähnt habe, haben sich vor einiger Zeit zum Beispiel standhaft geweigert, sich mit mir "Blade Runner" anzugucken. Denn es gab ja inzwischen einen neuen "Blade Runner", und der alte kam schon etwa zu der Zeit ins Kino, als sie geboren wurden.

Scorsese sagt in "Personal Journey": "Studiert die alten Meister!"

Peter L. Opmann 01.11.2022 07:23

Dies ist wohl nicht der Film, mit dem man Regisseur Sam Peckinpah sofort verbindet, aber ich habe gelesen, es sei ein großer kommerzieller Erfolg gewesen, und über ihn werde bis heute viel diskutiert. Ich rede von „Getaway“ (1972). Auf jeden Fall war es eine Auftragsarbeit, kein Film, den Peckinpah machen wollte. Er hatte aber wohl beim Drehen etwas mehr Gestaltungsfreiheit als sonst. Mich spricht das Motiv eines Helden (Steve McQueen) mit hoher Intelligenz an, der aber zu unklugem Verhalten gezwungen wird – am Ende gewinnt er doch seine Freiheit. Das Ende des Films ist überhaupt ziemlich bemerkenswert. Ein Peckinpah-typischer Gewaltexzeß mündet in ein beinahe sentimentales Happy End, bei dem traditionelle, schon überholte Werte gefeiert werden.

McQueen ist ein Profi-Bankräuber, der dummerweise gerade in Texas im Knast sitzt, und zwar wohl noch einige Jahre. Die Behörden zeigen keinerlei Neigung, ihn zu begnadigen. McQueen beauftragt darauf seine Frau (Ali McGraw), einem einflußreichen Politiker (Western-Veteran Ben Johnson) anzubieten, für ihn ein Ding zu drehen, wenn er früher rauskommt. Kurz darauf wird er prompt freigelassen. Nun muß er also für diesen korrupten Politiker eine Bank überfallen, aber er darf nicht so arbeiten wie gewohnt, sondern bekommt zwei Gangster zugeteilt, von denen er wenig hält. Sie sind ihm zu undiszipliniert und zu dumm. Der Banküberfall geht auch beinahe schief, und es wird ein Wachmann erschossen, obwohl McQueen auf Gewaltlosigkeit Wert gelegt hatte. Der eine Gangster (Al Lettieri) bringt auch noch seinen Komplizen um, um nicht teilen zu müssen, und fährt dann zum Treffen mit McQueen, um abzurechnen. Der hat ihm allerdings von Anfang an mißtraut und legt ihn um, bevor der es tun kann.

Gleich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis hat sich McQueen wieder mit seiner Frau zusammengetan. Er kapiert allerdings nur langsam, daß sie mit dem Politiker geschlafen hat, um ihn freizubekommen. Und es will ihm überhaupt nicht in seinen Macho-Kopf, daß das keine eheliche Untreue war, sondern sie für ihn ein Opfer gebracht hat. Es kommt zu einer schweren Krise, und sie wollen sich beinahe trennen, es aber dann doch noch einmal miteinander versuchen. Unerkannt ist ihnen aber Lettieri auf den Fersen. Er ist nicht tot, weil er, unbemerkt von McQueen, eine schußsichere Weste trug. Allerdings wurde er verwundet. Lettieri kidnappt einen Tierarzt, der ihn notdürftig medizinisch versorgt, und dessen Frau und läßt sich von ihnen durchs Land fahren. Die Episode endet mit dem Selbstmord des Tierarztes, weil sich Lettieri mit vorgehaltener Pistole mit seiner Frau vergnügt.

McQueen will wie vereinbart den Großteil der Beute bei Johnson abliefern, gerät aber mit ihm über den Ablauf des Banküberfalls in Streit. Da wird Johnson aus dem Hintergrund von McGraw erschossen. Damit wären eigentlich alle Probleme gelöst, aber das Verbrechen macht inzwischen Schlagzeilen, und McQueen und McGraw müssen untertauchen. Außerdem merken sie, daß auch Kumpane von Johnson hinter ihnen her sind. Zu allem Überfluß wird McGraw an einem Bahnhof von einem Trickbetrüger um die Tasche gebracht, in der sich die Dollars befinden. McQueen hat einige Mühe, sie wiederzubekommen.

McQueen und McGraw suchen ein Hotel auf, das schon früher als Treffpunkt nach Coups gedient hat. Der Hotelbesitzer ist ein Freund. Allerdings ist er von den Johnson-Leuten unter Druck gesetzt worden, McQueen zu verraten. Und auch Lettieri taucht in dem Hotel auf und will sich das Geld zurückholen. Damit kommt es zu einem großen Showdown mit einer Menge Toten. McQueen hat entdeckt, daß Lettieri noch lebt und will ihn zunächst nur kampfunfähig machen, muß ihn aber doch erschießen. McQueen und McGraw verlassen nach dem Blutbad das Hotel Hals über Kopf und zwingen einen Farmer, sie mit seinem klapprigen Pickup über die Grenze nach Mexiko zu bringen. Die Flucht gelingt. McQueen fordert den Farmer auf anzuhalten. Er will ein paar 10 000 Dollar für das Auto und sein Schweigen zahlen. Das ist für den Mann wie ein Lottogewinn; dafür geht er gern zu Fuß nach Texas zurück. Vorher hat er gefragt: „Seid ihr beide überhaupt verheiratet?“ Als McQueen und McGraw bejahen, ist er zufrieden und hat vor ihnen keine Angst mehr.

Weil ich von dem Film so angetan war, habe ich mir auch die Romanvorlage von Jim Thompson besorgt. Deren Ende ist viel zynischer, aber ansonsten ist der Thriller ziemlich originalgetreu umgesetzt worden. Allerdings sind die Figuren bei Thompson viel eindimensionaler. Steve McQueen macht seine Figur ambivalent. Sie wird zur Identifikationsfigur, aber er zeigt auch ihre unsympathischen Seiten und sogar ihre Fehler. Erstaunt war ich auch, daß die Ehekrise in dem sonst lupenreinen Kriminalfilm einen so großen Raum und damit Ali McGraw eine so wichtige Rolle erhält. Und ich denke, Peckinpahs wichtigstes Thema war das Ringen um Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Virtuos inszeniert und geschnitten ist bereits der Vorspann des Films, der zeigt, wie McQueen im Gefängnis allmählich verrückt wird.

Peter L. Opmann 02.11.2022 07:51

An „Viridiana“ (1961) von Luis Bunuel habe ich nur bruchstückhafte Erinnerungen. Ich muß mich also bei der Besprechung auch auf mir vorliegende Inhaltsangaben stützen. Ich möchte den Film aber als Klassiker anführen, weil er mich, als ich ihn gesehen habe, sehr berührt hat. Lebhafte Erinnerungen habe ich vor allem an den Teil, der ein Festessen von Bettlern (um es neutral auszudrücken) im Haus der Titelheldin zeigt. Ich habe mich lange Zeit selbst mit Obdachlosen beschäftigt – freilich mit etwas Abstand – und habe erfahren, daß Bunuel da etwas Wichtiges und Zutreffendes erfaßt und wiedergegeben hat.

Ich habe den Film leider nicht selbst, würde ihn aber gern mal wieder sehen. Auf youtube gibt es Ausschnitte und den Trailer, allerdings, soweit ich gesehen habe, nichts von der deutschen Synchronisation, sondern meist auf Spanisch. Als ich „Viridiana“ im Fernsehen gesehen habe, hat das Werk mich aber so beschäftigt, daß ich mir Notizen gemacht und die Ankündigung der TV-Zeitschrift ausgeschnitten habe. Es war am 4. Februar 1985.

In dem Programmheft stand: „Einsam und zurückgezogen lebt der Gutsherr Don Jaime auf seinem Landsitz. Seine Frau ist vor 30 Jahren in der Hochzeitsnacht an einem Herzschlag gestorben. Nur zwei Verwandte sind Don Jaime geblieben: sein vorehelicher Sohn Jorge und die Nichte Viridiana. Sie wächst in einem Kloster auf und will in Kürze das Gelübde ablegen. Zuvor jedoch lädt der Onkel sie zu sich ein. Wegen ihrer Ähnlichkeit mit seiner Frau ist er von Viridiana fasziniert. Don Jaime versucht die Novizin zu überreden, bei ihm zu bleiben. Aber alle seine Bemühungen sind erfolglos. Als er schließlich auf eine infame Lüge verfällt, verläßt Viridiana entsetzt das Haus. Der von Gewissensbissen geplagte Don Jaime zieht eine schreckliche Konsequenz.“

Dies beschreibt nur die Exposition des Films. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt die Brisanz der Handlung noch nicht richtig erfassen. Sicher hat Bunuel vieles auch nur angedeutet oder symbolisch verschlüsselt. Nachdem Don Jaime versucht hat, Viridiana in die Rolle seiner verstorbenen Frau zu pressen, und ihr vorgemacht hat, er habe sie betäubt und vergewaltigt, erhängt er sich. Denn er konnte sie auch damit nicht davon abhalten, ins Kloster zurückzukehren. Viridiana tritt zusammen mit Jorge das Erbe an. Sie ist eine aufrichtig fromme (um nicht zu sagen: frömmlerische) Frau und will nun seinen Besitz den Armen zur Verfügung stellen. Sie gibt ihnen Unterkunft und Nahrung. Aber die Bettler danken es ihr schlecht. Sie dringen in Viridianas Wohnbereich ein und feiern eine wilde Orgie mit allen erdenklichen Ausschweifungen. (Einmal sind sie nach dem Muster des letzten Abendmahls um den Tisch gruppiert.) Als Viridiana dazukommt, tun die Bettler ihr auch Gewalt an.

Im Grundsatz habe ich solches Verhalten selbst mitbekommen. Ihre prekäre Lage bringt Obdachlose dazu, nicht immer zu warten, bis ihnen geholfen wird, sondern sich selbst zu holen, was sie brauchen. Wenn sie schon länger auf der Straße gelebt haben, sind sie zu einer bürgerlichen Lebensweise nicht mehr fähig. Wenn eine Hilfsorganisation ihnen eine Wohnung besorgt, kann es vorkommen, daß sie von ihnen verwüstet wird. Sie entfachen zum Beispiel im Wohnzimmer ein Lagerfeuer, damit es ein bißchen wärmer wird. Natürlich bekommen solche Leute dann so schnell keine Wohnung mehr, auch wenn sie nichts anderes getan haben, als was sie von der Straße her kannten.

Der Schluß des Films hat ebenfalls Bekanntheit erlangt. Jorge ist ebenso scharf auf Viridiana wie sein Vater. Deshalb ist ihm seine Freundin davongelaufen. Weil Viridiana ihn aber keinesfalls erhören will, beginnt er ein Verhältnis mit dem Hausmädchen Ramona. Viridiana kommt dazu, und Jorge macht ihr vor, er spiele nur mit ihr Karten. Darauf nimmt sie an dem Spiel teil – ein Bild für ein Dreiecksverhältnis.

Bunuel, den „Atheist von Gottes Gnaden“, interessiert vor allem, wie weit christliche Barmherzigkeit geht und ob die Welt besser wäre, wenn sie mehr geübt würde. Das kann man sich auch ansehen, wenn man seine Weltsicht nicht teilt. Die Probleme, die Bunuel mit der Zensur hatte, rühren aber von den Bildern her, die er verwendet. So deutlich durfte zu dieser Zeit ein „unmoralisches“ Begehren nicht dargestellt werden, und natürlich durfte eine christliche Ikonografie nicht in solche Zusammenhänge gestellt werden. Bunuel macht allerdings christliche Überzeugungen nicht einfach schlecht. Laut wikipedia hatte der spanische Diktator Francisco Franco Bunuel eingeladen, diesen Film in seinem Land zu drehen. Seit 1946 hatte Bunuel in Mexiko gelebt. Hinterher ließ Franco jedoch „Viridiana“ sofort verbieten. Er wurde in Spanien erst 1977 gezeigt. Bei den Filmfestspielen in Cannes wurde „Viridiana“ aber schon 1961 mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet.

Servalan 02.11.2022 13:15

Bei Hitchcock fällt mir die Wahl auf einen Klassiker schwer, schließlich gibt es reichlich Auswahl. Hitch war ja immer fleißig und selbst wenn er mal Schwächen gezeigt hat, waren die Ergebnisse besser als der Durchschnitt. In der engeren Auswahl standen bei mir deshalb "Der falsche Mann" (1956), weil der eine quasi archetypische Thrillersituation behandelt; dann "Der unsichtbare Dritte" (1959), weil der grandios fotografiert und ausgestattet ist - die Szene im Kornfeld ist zurecht ein Kabinettstückchen; und "Frenzy" (1972) aus seinem Spätwerk, hier gefällt mir, wie er das London in den 1970ern in Szene setzt, außerdem liefern sich Barry Foster und Jon Finch schauspielerisch ein grandioses Duell.

Mein Liebling bleibt aber unangefochten "Die Vögel" (1963). Da stimmt jedes Detail, und das zu sehen ist jedes Mal wieder ein Genuß. Hitchcock bleibt fokussiert, indem er sich auf seine Figuren konzentriert und auf die obligatorische Erklärung für das seltsame Verhalten der Vögel verzichtet. In den B-Film rückt im Finale ja meist das Militär an und ballert den Schrecken in Grund und Boden, diese plumpe Wendung unterläßt der Meister.
Die Soundeffekte von Oskar Sala auf dem Trautonium müssen natürlich gewürdigt werden. Der Einsatz neuester elektronischer Musik ist für mich mit Science Fiction Filmen und Serien verbunden - ich denke auch an den Vorspann der klassischen "Dr Who"-Serie von der BBC.

Für mich entscheidend ist eher, wie nahe der Film am natürlichen Verhalten der Tiere ist. Aggressive Möwen habe ich mehr als einmal erlebt.
Am meisten beeindruckt haben mich aber die Raben. Tagsüber sind die entweder allein oder in Paaren unterwegs, außerdem sind sie so frech, Menschen anzubetteln, und wenn sie nicht bekommen, was sie wollen, zeigen sie ihr Mißfallen auf üble Weise. Abends, kurz vor der Dämmerung, sammeln sich die Raben eines bestimmten Reviers und scheinen gegenseitig Informationen auszutauschen. Dieses Powwow in den Bäumen konnte ich öfters beobachten, ziemlich eindrucksvoll.
"Die Vögel" hat einen Maßstab geliefert, der weit über dem gewöhnlichen Tierhorror liegt.

Peter L. Opmann 02.11.2022 14:11

Danke für die Anmerkungen.

Tja, es ist wohl nicht so einfach, einen richtig schlechten Hitchcock-Film zu finden. Ich kenne natürlich nicht sein Gesamtwerk, aber ich würde am ehesten bei seinen untypischen Werken suchen - "Rebecca" oder "Sklavin des Herzens". Ich finde auch, das Original von "Der Mann, der zu viel wußte" ist noch nicht so gut wie das Remake.

Gegen Deine Klassiker-Kandidaten kann man schlecht etwas sagen, aber ich würde nur bei "Der unsichtbare Dritte" völlig zustimmen. Ich glaube, mir ist die Geschichte, die erzählt wird, wichtiger als die formalen Mittel, die er anwendet. "Der falsche Mann" ist mir etwas zu elaboriert, um mich richtig zu packen, und bei "Die Vögel" ist die Geschichte zu schwach im Vergleich zu dem wirklich atemberaubenden Vogelangriff. Bei "Frenzy" ist mir ehrlich gesagt nur die tolle Kamerafahrt in das Haus hinein in Erinnerung geblieben, in der gerade eine Frau umgebracht wird, und die Fahrt zurück auf die Straße, wo neimand davon etwas ahnt oder auch davon Notiz nimmt. Und Hitchcock taucht irgendwie als in der Themse treibende Leiche auf...

Peter L. Opmann 03.11.2022 06:43

„Gorky Park“ (1983) ist ein Politthriller. Das heißt, der Film hat mit der Wirklichkeit nicht allzu viel zu tun, und ich habe ihn nicht deshalb ausgesucht, weil Rußland gerade in der Weltpolitik ein glänzendes Comeback als Schurkenstaat feiert. Im Gegenteil gehört für mich zur Attraktivität dieses Werks, daß die Rollen vertauscht sind: der Gute ist ein russischer Polizeioffizier und der Böse ein amerikanischer Geschäftsmann. Auch dieser Film weicht von seiner Romanvorlage, dem gleichnamigen Bestseller von Martin Cruz Smith, nicht wesentlich ab.

Trotzdem eine Inhaltsangabe: Im Moskauer Gorky Park werden drei Leichen gefunden. Ihre Gesichter und Fingerkuppen sind zerstört, so daß sie zunächst nicht identifiziert werden können. Sie wurden aus nächster Nähe erschossen, aber ein Motiv ist nicht ersichtlich. Dem Polizisten (William Hurt), der sich um den Fall kümmert, kommt es merkwürdig vor, daß sich auch der KGB für den Fall interessiert, wenn auch eher oberflächlich. Seine einzige brauchbare Spur sind Schlittschuhe, die eines der Opfer bei sich hatte und die eine russische Studentin (Joanna Pacula) kurz zuvor als gestohlen gemeldet hatte. Sie will ihm aber offenbar nicht helfen.

Hurt läßt die Gesichter der Drei rekonstruieren, weil er den Verdacht nicht los wird, daß Pacula sie gekannt hat. Als er ihr einen der Köpfe zeigt, stellt sich heraus, daß sie glaubt, die Drei seien in die USA entkommen. (Der Eiserne Vorhang existiert zu dieser Zeit noch.) Außerdem bekommt Hurt mit, daß sie Kontakte zu einem amerikanischen Pelzhändler (Lee Marvin) unterhält, der sich häufig in Moskau aufhält. Wie Marvin in das Puzzle paßt, ist aber ein neues Rätsel für ihn. Kurz darauf kommt er einem amerikanischen Ermittler in die Quere, der in Moskau auf eigene Faust nach seinem verschwundenen Bruder fahndet. Sie tun sich zusammen. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß eines der Mordopfer ein Amerikaner war.

Nach zahlreichen Verwicklungen findet Hurt schließlich heraus, was passiert ist. Marvin ist dabei, mithilfe korrupter Behörden trotz eines strengen Verbots Zobel aus der UdSSR auszuführen. Weil er aber mehr Zobel will, als ihm zugestanden wird, hat er sich beim Schmuggel der Tiere von den Dreien, davon einer der vermißte Bruder und zwei Russen, die mit Pacula befreundet waren, helfen lassen, denen er dafür die Ausreise in die Freiheit versprochen hat. Sobald er sie nicht mehr brauchte, hat er aber alle Drei, für ihn lästige Zeugen, beseitigt. Pacula, in die sich Hurt verliebt hat, hält aber nach wie vor zu Marvin, weil sie ihm noch immer glaubt, daß er auch sie ausreisen lassen kann. Auch der amerikanische Detektiv fällt Marvin zum Opfer, aber schließlich kann ihn Hurt im finalen Showdown in dem Versteck, in dem er seine Zobel hält, töten. Am Ende darf Pacula tatsächlich die UdSSR verlassen; Hurt bleibt in Moskau.

Schwächen des Films wie etwa recht klischeehafte Figuren werden durch den verzwickten Kriminalfall übertüncht. Interessant ist außerdem die Umkehrung des Gut-Böse-Schemas. Zwar wird Rußland als ein hoffnungsloser Ort geschildert, aber immerhin gibt es einen aufrechten und pflichtbewußten russischen Polizisten, der sich von seinen Ermittlungen nicht abbringen läßt, und auf der anderen Seite einen skrupellosen Amerikaner, dem es nur um maximalen Profit geht und der jeden für käuflich hält – und wenn er das nicht ist, räumt er ihn persönlich aus dem Weg. William Hurt und Lee Marvin sind da für mich eine gute Besetzung dieser Rollen. Joanna Pacula, die undurchschaubar ist und ein doppeltes Spiel treibt, hat ebenfalls einen interessanten Part. Letztlich ist der Film ein Actionreißer (Regisseur Michael Apted hat auch einmal einen James-Bond-Film inszeniert), aber der Akzent wird mehr auf die beklemmende und bedrohliche Atmosphäre als auf Schießereien, Horror und Gewalt gelegt. Gedreht werden durfte damals noch nicht an Originalschauplätzen; das verschneite Helsinki muß als Ersatz-Moskau herhalten.

Peter L. Opmann 04.11.2022 06:30

Kommen wir zu einem meiner All-time-favourites: „Robin Hood – König der Vagabunden“ (1938). Robin-Hood-Filme sind wohl ein ähnliches Phänomen wie Dracula-Filme. Es gab sie schon ganz früh in der Filmgeschichte, und der Stoff wurde immer wieder neu verfilmt. Ich hätte zwar nicht übel Lust, den Stummfilm von 1921 mit Douglas Fairbanks sr. zu besprechen, der auch ziemlich bemerkenswert ist, aber vielleicht mache ich das später mal. Die Verfilmung, mit der ich mich beschäftige, mit Errol Flynn in der Hauptrolle wird häufig als bester Abenteuerfilm aller Zeiten angesehen, und er steht stellvertretend für ein ganzes Genre, das der Swashbuckler-Filme. „Swashbuckler“ ist nicht ganz einfach zu übersetzen. Man kann dafür „Draufgänger“ oder „Haudegen“ sagen, aber in gewissem Sinn ist auch Baron Münchhausen ein Swashbuckler – also auch eine nur behauptete Heldentat ist damit angesprochen. Vielleicht hat Errol Flynn wesentlichen Anteil an dieser Bedeutungserweiterung, denn er vollbringt seine riskanten Aktionen mit einem unverwechselbaren Augenzwinkern, so daß es beinahe egal ist, ob es wirklich so war oder nicht. Burt Lancaster, der vielleicht einer der letzten Swashbuckler war, sagt in „Der rote Korsar“: „Glaubt nur, was ihr seht – ach was, glaubt nicht einmal die Hälfte davon!“

Die Robin-Hood-Legende dürfte zwar bekannt sein, aber da sie sich aus vielen, teils auch einander widersprechenden Episoden zusammensetzt, will ich doch darauf eingehen, welche Robin-Hood-Geschichte in diesem Film erzählt wird. Es gibt keine Einleitung, die das Verhältnis von Robin Hood zu König Richard Löwenherz erklärt. Vielmehr wird nur verkündet, Richard sei auf einem Kreuzzug in Gefangenschaft geraten. Die Herrschaft übernimmt sein Bruder John (Claude Rains), der sofort für die Angelsachsen die Steuern erhöht und sie rücksichtslos und brutal eintreiben läßt. Das Verhältnis von Angelsachsen und Normannen bleibt auch weitgehend unbeleuchtet. Aber die Zuordnung von Gut und Böse ist nach wenigen Szenen klar.

Wilderei ist von Prinz John bei Todesstrafe streng verboten. Trotzdem schießt ein armer, hungriger Angelsachse (Midge, der Sohn des Müllers – Herbert Mundin) ein Reh und wird dabei von Guy of Gisbourne (Basil Rathbone) und seinen Truppen gestellt. Da taucht aus dem Nichts Robin of Locksley auf und mischt sich ein. Mit Pfeil und Bogen verteidigt er den Delinquenten, und Sir Guy tritt wutentbrannt den Rückzug an. Kurz darauf verschafft sich Robin Hood Zutritt zu einem Bankett Prinz Johns, wo er für seinen Mut zunächst Respekt erntet. Maid Marian (Olivia de Havilland), die Sir Guy versprochen ist, findet ihn dagegen abstoßend, obwohl sie ihm Bewunderung nicht völlig versagen kann. Robin geht jedoch noch weiter und sagt Johns Terrorherrschaft den Kampf an, bevor er sich mit Gewalt seinen Weg aus dem Festsaal bahnt. Darauf versammelt er eine Schar Angelsachsen um sich und ruft sie dazu auf, sich gegen die Normannen aufzulehnen. Johns Leuten fällt es von da an nicht mehr so leicht, Steuern einzutreiben und Angelsachsen zu foltern oder hinzurichten. Im Sherwood Forest kann niemand Robin aufspüren.

Es folgen die bekannten Begegnungen Robins mit Little John und Bruder Tuck. Wir sehen auch den Transport von Steuergeldern durch den Wald, bei dem Guy of Gisbourne von Robin Hoods Leuten gefangengenommen und festlich bewirtet wird, dafür allerdings mit der Goldkiste bezahlen muß. Der Sheriff von Nottingham, der bei dieser Episode dabei ist, ist hier nicht Robins Hauptgegner, sondern eher eine Witzfigur. Aber er kommt auf die Idee, den Rebellen durch ein Bogenschützenturnier nach Nottingham zu locken und so festzunehmen. Das gelingt, auch wenn Robin erst nach seinem letzten, siegreichen Schuß enttarnt wird. Aber seine Leute befreien ihn, als er schon unter dem Galgen steht.

Inzwischen ist König Richard aus dem Verlies von Leopold von Österreich frei gekommen und auf dem Weg zurück nach England. (Daß das voraussetzt, daß das Lösegeld für ihn bezahlt wurde, woran John nicht im Traum denkt, bleibt unberücksichtigt.) John trifft Vorkehrungen, seinen Bruder umzubringen, damit er den Thron nicht räumen muß. Das erfährt Maid Marian, die sich inzwischen in Robin Hood verliebt hat. Sie will ihn einschalten, um Richard zu retten, aber ihr Brief wird abgefangen und sie wegen Hochverrat zum Tod verurteilt. Ritter Dickon, der mit dem Mord an dem König beauftragt ist, wird von Midge aufgehalten und getötet. Gleichzeitig will sich John zum König krönen lassen.

Richard, der gute König, reist zusammen mit seinen Kreuzfahrern verkleidet durch England und erfährt, welche Zustände in seinem Reich inzwischen herrschen. Er trifft Robin Hood, und die beiden Gruppen tun sich zusammen, um bei der Krönungsfeier einzugreifen. Robin befreit Marian aus der Todeszelle, dann muß er ein Duell auf Leben und Tod mit Guy of Gisbourne bestehen. Als Guy tot ist, gibt sich Richard zu erkennen und zieht die Herrschaft über England wieder an sich. John und seine Komplizen haben ausgespielt. Zum Schluß gibt der König seinen Segen zur Vermählung von Robin und Marian.

Nicht nur die Vorgeschichte, auch der Schluß wird anders erzählt als in anderen Robin-Hood-Sagen. Manchmal endet Robin durch einen Anschlag der Äbtissin von Kirklees (die ihn verbluten läßt), und die Heirat mit Maid Marian fällt aus. Manche Figuren haben mitunter andere Funktionen. Insbesondere Guy of Gisbourne wird teils auch als ein Kopfgeldjäger dargestellt, der nur einmal Robin begegnet. Aber die Abenteuergeschichte in Michael Curtiz‘ Film funktioniert sehr gut, und zum heiteren Grundton paßt das sicher etwas schmalzige Happy End.

Ich denke, Errol Flynn hat mit seiner Darstellung Maßstäbe gesetzt. Nach ihm konnte Robin Hood nur noch in dieser Art porträtiert werden oder eben völlig anders. Richard Lester zeigt ihn zum Beispiel in „Robin und Marian“ (1976) alt und müde geworden, auch wenn er hier von Sean Connery gespielt wird. Flynn spielt Robin Hood in einer unwiderstehlichen Mischung aus akrobatischem Heldentum und Ironie. Man kann sich in Anekdoten über die Dreharbeiten verlieren, aber ich will zumindest erwähnen, daß Havilland mit Flynn angeblich nicht so gut zurechtkam, zumal er Mundgeruch hatte.

Der Film ist viele Jahre lang immer wieder im Kino eingesetzt worden und hat so sicher einen beträchtlichen Gewinn erzielt. Aber wirtschaftlich muß man ihn auch wieder unter dem speziellen Hollywood-Gesichtspunkt betrachten. Warner Brothers hatten zu dieser Zeit gerade einige Flops gelandet und brauchten dringend wieder einen Kassenerfolg. Sie versuchten es noch einmal mit einer Produktion, an der niemand vorbeikam. Bei „Robin Hood“ wurde an nichts gespart. Er ist ein früher Technicolor-Film, für den elf Kameras (damals ein ungeheurer Aufwand) eingesetzt wurden. Der ursprüngliche Regisseur William Keighley wurde durch Curtiz abgelöst, weil man ihm diese Mammutproduktion nicht zutraute. Curtiz spielte seine ganze Routine aus (jemand wie er drehte zu dieser Zeit mehrere Filme pro Jahr) und war doch zugleich sehr kreativ. Trotzdem war der Kassenerfolg am Ende zunächst überschaubar, weil der Film so teuer war.

Ich habe noch einen Blick auf das Abschneiden des Werks bei der Oscar-Verleihung 1939 geworfen. Als bester Film zog es den Kürzeren gegen eine Frank-Capra-Komödie, die mir allerdings unbekannt ist („Liebeskünstler“). In wichtigen Kategorien war „Robin Hood“ nicht nominiert, und er gewann nur drei eher technische Auszeichnungen: Bester Schnitt, bestes Szenenbild und beste Musik (da war der Kunstmusik-Komponist Erich Wolfgang Korngold am Werk, der die Musik auch beinahe sinfonisch gestaltete). Schwer erklärbar – vielleicht lag es daran, daß „Robin Hood“ ein britischer und kein amerikanischer Stoff ist.

pecush 04.11.2022 06:59

Läuft kommende Woche bei Arte, wenn ich mich nicht irre.

Peter L. Opmann 04.11.2022 07:11

Den Film habe ich sowohl auf DVD als auch auf Video...

Nante 04.11.2022 07:54

Dein heutiger Film ist wirklich ein echter "Klassiker"! :top:

Das zeigt sich auch schon daran, daß die Parodie von Mel Brooks aus den 90ern zwar vordergründig auf den Costner-Film zielte aber trotzdem nicht ohne entscheidende Elemente des Flynn-Klassikers auskam.

Ja, und "Der Rote Korsar" ist natürlich auch so ein Klassiker, der vor allem von dem genialen männlichen Duo Lancaster/Cravat lebt, weswegen mir hier wohl (zumindest spontan) auch kein Film einfällt, der sich noch einmal an so eine Mischung aus Akrobatik und Slapstick heran gewagt hat.

pecush 04.11.2022 08:34

Zitat:

Zitat von Peter L. Opmann (Beitrag 805414)
Den Film habe ich sowohl auf DVD als auch auf Video...

Kurioserweise einer, der mir fehlt. Ganz tolle Robin-Versiin.
Auch den von dir erwähnten Robin & Marian mag ich.

Peter L. Opmann 04.11.2022 08:51

Die Parodie "Helden in Strumpfhosen" fand ich sehr schwach. In "Space Balls" hat Mel Brooks meiner Ansicht nach die Science-Fiction-Atmosphäre gut eingefangen, aber bei Robin Hood ist er irgendwie hilflos.

Den Costner-Robin Hood habe ich leider nicht gesehen. Ridley Scott hat versucht, die Geschichte völlig anders zu erzählen, sozusagen einen realistischen Robin Hood zu schaffen. Finde ich problematisch, denn an Robin Hood ist nun mal wenig realistisch. Da bevorzuge ich wirklich "Robin und Marian".

pecush 04.11.2022 09:00

Costner und Crowe finde ich beide gut.
Meine Favoriten sind allerdings die Disney-Version und die britische Serie mit Michael Praed, der in der dritten Staffel von Jason Connery abgelöst wurde. Die Serie nimmt vieles vorweg, was Costner dann gezeigt hat (Mystik, ein Sarazene als Verbündeter).

Peter L. Opmann 04.11.2022 09:08

Meinst Du mit "Disney-Version" den Zeichentrickfilm von Reitherman oder den Realfilm aus den 50er Jahren? Über letzteren bin ich erst vor kurzem im Internet gestolpert. Es gibt ein paar Ausschnitte bei youtube. Aber ich habe den Eindruck, diesen Film hat der Disney-Konzern lieber in Vergessenheit sinken lassen.

Nante 04.11.2022 09:20

Jetzt nicht unbedingt ein Klassiker, aber für mich die erste gesehene Verfilmung des Stoffes und darum nicht aus dem Gedächtnis zu bringen:

"Der Feurige Pfeil der Rache" von 1971 mit Giuliano Gemma und Mario Adorf von 1971.

Peter L. Opmann 04.11.2022 09:27

Das ist auch ein Film, den ich überhaupt nicht kenne. Mario Adorf ist als Bruder Tuck sicher nicht schlecht.

Hat sich eigentlich "Mosaik" mal des Robin-Hood-Mythos angenommen?

pecush 04.11.2022 09:28

Ich meine den Trickfilm. Mit Reinhard Mey und Peter Ustinov als Sprecher.
Der Real-Disney sagt mir nichts. Schaue ich mal. :top:

Peter L. Opmann 04.11.2022 09:30

"Robin Hood und seine tollkühnen Gesellen" von 1952; Regie: Ken Annakin.

Nante 04.11.2022 09:56

Zitat:

Zitat von Peter L. Opmann (Beitrag 805427)
Hat sich eigentlich "Mosaik" mal des Robin-Hood-Mythos angenommen?

In der offiziellen Reihe nicht.

Es gab allerdings zwei "Ableger"-Alben.
Welcher Film da für die Titelfigur Pate gestanden hat, sollte leicht zu erkennen sein. :zwinker:

https://www.mosapedia.de/wiki/index...._einmal,_Robin!
https://www.mosapedia.de/wiki/index....e_Segel,_Robin!


Und was die Filme angeht, sollten wir den John Cleese-Auftritt in "Time Bandits" nicht vergessen. :D

Peter L. Opmann 04.11.2022 10:01

Also ich mag zwar den Curtiz-Film sehr, aber ich bin nicht der große Robin-Hood-Experte. Man könnte da sicher noch einiges zusammentragen. Und eine Menge Robin-Hood-Comics gibt es auch. Ich kenne bei weitem nicht alles.

Deine Links schaue ich mir gleich mal an - vielen Dank.

Peter L. Opmann 04.11.2022 10:05

"Ableger".

Also das einzig Wahre sind die Digedags, und die Abrafaxe zählen nicht richtig...

Nante 04.11.2022 10:11

Nein, Ableger in dem Sinn von "nicht in die laufenden Handlung integriert".

Da gibt es etliche sehr gute Alben, z.B. die hier

https://www.mosapedia.de/wiki/index....axe_in_Amerika

https://www.mosapedia.de/wiki/index....Pursuit_Vol._2

die neben einer gut erzählten und gezeichneten Story auch durch eine Unmenge von Zitaten und Anspielungen an Hollywood-Streifen und Schauspieler der Ära punkten.

Peter L. Opmann 04.11.2022 10:37

Ach so. Das wußte ich nicht.

Ich dachte, es seien immer die Zyklen eben zu Büchern zusammengefaßt worden.

OK. 04.11.2022 12:09

Curtiz‘ "Robin Hood" von 1938 ist für mich einer der besten und zeitlosesten Abenteuerfilme überhaupt. Die beste Parodie darauf ist für mich aber nicht Mel Brooks eher plumper "Robin Hood - Helden in Strumpfhosen", sondern der in jeder Hinsicht großartige "Der Hofnarr" von 1955 mit Danny Kaye.

OK. 04.11.2022 12:13

Zitat:

Zitat von Peter L. Opmann (Beitrag 804991)
Und Hitchcock taucht irgendwie als in der Themse treibende Leiche auf...

Nein. Hitchcock befindet sich unter den Schaulustigen, als die Leiche geborgen wird. https://www.willizblog.de/pics/hitch...renzycameo.jpg

Peter L. Opmann 04.11.2022 12:42

Hab' mich geirrt, aber doch nicht ganz. Hitchcock gibt im Trailer die Leiche.

www.youtube.com/watch?v=As0nPLCMU7g

Übrigens sind viele Hitchcock-Trailer kleine Kunstwerke für sich.

Peter L. Opmann 04.11.2022 12:50

Was ich eigentlich wollte: Dieser Thread ist inzwischen nicht ganz einfach zu überblicken. Deshalb liste ich hier mal die Filme auf, die ich bisher besprochen habe:

"Nosferatu" von Friedrich Wilhelm Murnau
"Im Zeichen des Bösen" von Orson Welles
"Der General" von Buster Keaton
"Gelächter in der Nacht" (Laurel & Hardy)
"Der Besessene" von Marlon Brando
"Die unvergeßliche Nacht" von Mitchell Leisen
"African Queen" von John Huston
"Mars Attacks!" von Tim Burton
"Das lange Elend" von Mel Smith
"Gefährliche Freundin" von Jonathan Demme
"Futureworld" von Richard T. Heffron
"Sein oder Nichtsein" von Ernst Lubitsch
"Willkommen, Mr. Chance" von Hal Ashby
"Der Prinz und die Tänzerin" von Laurence Olivier
"Fünf Gräber bis Kairo" von Billy Wilder
"Vermißt" von Constantin Costa-Gavras
"New York City Girl" von Susan Seidelman
"Die 39 Stufen" von Alfred Hitchcock
"Der Schuß von der Kanzel" von Leopold Lindtberg
"Getaway" von Sam Peckinpah
"Viridiana" von Luis Bunuel
"Gorky Park" von Michael Apted
"Robin Hood – König der Vagabunden" von Michael Curtiz

Außerdem gab es Kritiken zu "Birth of a Nation" und "Intolerance" von David W. Griffith, "Alexander Newski" von Sergej Eisenstein sowie "Eins zwei drei" von Billy Wilder. Ein paar weitere Filme wurden erwähnt. Ich hoffe, ich habe nichts Wichtiges vergessen.

pecush 04.11.2022 13:27

Setz die Liste doch vielleicht in Post 1.

Wahnsinn, dass es Mars Attacks in diese Liste geschafft hat. Ich liebe die Filme von Tim Burton.

Peter L. Opmann 04.11.2022 14:02

Es ist schon eine recht bunte Liste. Und es werden sicher auch künftig Filme auftauchen, die nicht jeder als "Klassiker" einstufen würde.

Nur Regisseurinnen sind eindeutig unterrepräsentiert. Da muß ich mal gegensteuern.

pecush 04.11.2022 14:21

Im Bereich "Klassiker" fallen mir da spontan auch nicht so viele ein.
Margarethe von Trotta ist so ein Name aus Deutschland, den ich da nennen würde. Die ist heute aber auch bei TV-Filmen angekommen...

Peter L. Opmann 04.11.2022 15:09

Mir würden schon noch ein paar Frauen einfallen: Lotte Reiniger mit ihren Trickfilmen, Ida Lupino, May Spils, Caroline Link, Kathryn Bigelow... Aber die haben alle keine Filme gedreht, die ich zu meinen großen Favoriten zählen würde. Möglicherweise schreibe ich mal über "Entscheidung in der Sierra", wo Lupino die Hauptrolle spielte.

Bei Margarethe von Trotta fällt es mir auch schwer, einen Lieblingsfilm zu benennen - "Die Moral der Ruth Halbfaß", "Die bleierne Zeit"... das wäre doch eine etwas gezwungene Auswahl, damit auch mal eine Regisseurin dabei ist.

Aber vielleicht können ja andere weiterhelfen.

Phantom 04.11.2022 17:30

Leni Riefenstahl kommt mir da in den Sinn. "Das blaue Licht" hat mich damals (vor 30 Jahren?) schon fasziniert. Darf man die Olympia-Filme als Klassiker bezeichnen? Da wäre wieder die Frage nach dem Trennen zwischen Künstler und Werk, die die heutige Generation anscheinend völlig anders beantwortet als ich zum Beispiel.

Leider kann ich auch zu diesen Filmen nichts besonderes schreiben. Ich bin fasziniert, wie Ihr hier ausführlich über Filme berichten könnt, die Ihr irgendwann mal gesehen habt. Ich kann das nicht, bei mir bleibt meist nur "fand ich damals beeindruckend, heute weiß ich nicht mal mehr den grundlegenden Plot" hängen.

Genannt wurde hier z.B. Hitchcocks 39 Stufen. Da habe ich den Film gesehen, das Buch gelesen, ein Theaterstück dazu gesehen. Und das einzige, was ich noch weiß: es ging um eine abenteuerliche Verfolgungsjagd, die mich im Buch eher gelangweilt hat, die ich im Film gar nicht so schlecht fand und die im Theater total witzig inszeniert wurde (die Schauspieler haben die Kulissen während des Spiels ständig neu mit Edding auf weißes Papier im Hintergrund skizziert).

Wenn ich etwas mehrmals gesehen habe, sieht das anders aus. Psycho finde ich immer noch faszinierend, auch wenn man die Duschszene und das Ende kennt. Den unsichtbaren Dritten würde ich fast als meinen Lieblingsfilm von Hitchcock bezeichnen; dieses Tempo (so dass man die Plotholes gar nicht mitbekommt), die Ausstattung, die Schauplätze (UN-Gebäude, Grand Central, Mount Rushmore,...), die Flugzeugszene. Aber knappes Rennen mit Psycho. Und Vertigo nicht zu vergessen. Die Vögel finde ich auch sehr gut, aber mich hat das Ende immer etwas enttäuscht, also kein Twist, keine überraschende Aufklärung. Und wenn man mal gelesen hat, wie Hitchcock Tippi Hedren da ganz schön drangsaliert hat, sieht man manche Szenen nicht mehr so unvoreingenommen.

Was hier angeklungen ist und mir schon zu denken gibt: viele junge Leute schließen kategorisch aus, Filme ohne Ton oder ohne Farbe auch nur in Erwägung zu ziehen. Oder Filme, in denen die eingesetzte Computertechnik älter als 5 Jahre ist. Werden diese Sachen dann wirklich mal vergessen? Vielleicht sogar zurecht? (Ketzerische Bemerkung. Ich sehe das natürlich anders, aber ich hatte als Kind ja auch noch einen Schwarzweiß-Fernseher.)

Peter L. Opmann 04.11.2022 18:02

Ich nehme das hier eigentlich ziemlich locker. Eigentlich müßte ich jeden Film nochmal sehen, bevor ich über ihn schreibe - vielleicht sogar mehrmals.

An manche Filme kann ich mich ziemlich genau erinnern, aber andere habe ich nur bruchstückhaft im Gedächtnis. Dann schaue ich nochmal in wikipedia oder Kritiken nach, die ich gerade zur Hand habe. Oder ich bringe "Frenzy" und den Trailer durcheinander (siehe oben). Aber da ich hauptsächlich Filme auswähle, die mir persönlich wichtig sind oder waren, kann ich mich an die auch meist ganz gut erinnern.

Auf jeden Fall habe ich etwa 1980 begonnen, Filme analytisch zu sehen. Vorher fand ich mehr oder weniger alles, was im Kino oder Fernsehen lief, gut. Dann begann ich zu überlegen: Was ist das Gute daran? Wie haben die das gemacht? Ist dieser Film nun besser als der, den ich neulich gesehen habe? Oder warum war der schlecht? Das hilft vermutlich, die Filme im Kopf zu behalten.

Aber Irrtum nicht ausgeschlossen...

Peter L. Opmann 05.11.2022 07:12

„Stadt in Angst“ (1955) hat etwas von einem Western – so habe ich den Film jedenfalls ursprünglich wahrgenommen. Er spielt allerdings etwa zu der Zeit, als er gedreht wurde. Verschlafene Nester im mittleren Westen der USA sahen da wohl immer noch wie Westernstädte aus, abgesehen davon, daß der Hufschmied durch eine Tankstelle ersetzt war. Außerdem gibt es ein klassisches Westernmotiv: Ein Fremder kommt in die Stadt und sieht sich um. Und der Film hat auch die Lakonie vieler Western. Sein Thema paßt aber nicht ins Genremuster. Es geht um den Umgang von Amerikanern mit im Land lebenden Japanern im Zweiten Weltkrieg, nach dem Angriff auf Pearl Harbor.

In dem Städtchen Black Rock am Rand der Wüste hält der Zug, was so gut wie nie vorkommt. Es steigt ein älterer Mann aus, dem ein Arm fehlt (Spencer Tracy). Die Bewohner fragen sich sofort: Was will dieser Fremde hier? Tracy nimmt sich ein Zimmer im Hotel; er weiß noch nicht, wie lange er bleiben wird. Dann rückt er damit heraus: Er sucht den Japaner Komako. Ein Rancher (Robert Ryan), der offenbar die Stadt beherrscht, erklärt ihm, Komako sei im Zweiten Weltkrieg in ein Lager gekommen, mehr wisse man nicht. Der Japaner sei seitdem nicht mehr gesehen worden. Tracy will trotzdem Nachforschungen anstellen. Nachdem ihm niemand dabei helfen will, manche sogar – vergeblich – versuchen, ihn einzuschüchtern, erklärt sich eine junge Frau schließlich bereit, ihm ihren Jeep zu vermieten. Damit fährt Tracy zu der Farm, die Komako bewirtschaftete.

Sobald der Besucher weg ist, beraten die Städter aufgeregt, was zu tun ist. Die meisten wollen ihn umbringen, damit er keinen Ärger machen kann. Aber viele sind zu feige, zur Tat zu schreiten. Tracy findet inzwischen heraus, daß Komakos Farm zerstört ist. Auf der Rückfahrt in die Stadt versucht ein Autofahrer, den Jeep von der Straße abzudrängen. Tracy überlebt jedoch. Im Saloon der Stadt macht ein Mann (Ernest Borgnine) einen weiteren Versuch, Tracy zu beseitigen. Er provoziert ihn und hofft, ihn dann quasi in Notwehr töten zu können. Tracy bleibt aber ruhig und überwältigt Borgnine schließlich mit seinem einen Arm. Nun möchte er doch lieber die Stadt verlassen, aber Ryan und seine Leute haben dafür gesorgt, daß er nicht wegkommt. Niemand wird ihn irgendwohin fahren oder ihm ein Auto geben. Alle Nachrichten, die er senden wollte, haben ihre Empfänger nicht erreicht. Der Sheriff will zwar Übergriffe auf ihn unterbinden, aber er wird kurzerhand abgesetzt, und ein Mann von Ryans Gnaden wird neuer Sheriff.

Schließlich wollen Leute, die Tracy wohlgesonnen sind, ihn in Sicherheit bringen. Es kommt zum Showdown zwischen Ryan und Tracy. Durch eine Brandbombe, die Tracy gebastelt hat, fängt Ryan Feuer und wird kampfunfähig. Der abgesetzte Sheriff stellt die Ordnung wieder her und nimmt Ryan und seine Leute fest. Es stellt sich heraus, daß Tracy im Krieg zusammen mit Komakos Sohn gekämpft hat. Er ist gefallen; Tracy wollte dem Vater einen Orden bringen, den er erhalten hatte. Doch Komako wurde nach dem Überfall auf Pearl Harbor von einigen Städtern gelyncht.

Regisseur John Sturges ist tatsächlich vor allem für seine Western bekannt („Zwei rechnen ab“). Man könnte sich den Film mit einigen Änderungen auch als Adult Western vorstellen. Aber jedenfalls ich kann mir Spencer Tracy nicht als Westerndarsteller vorstellen. Als Einarmiger sollte er vermutlich auch Westernklischees entgegenwirken. Der Film ist zudem etwas vielschichtiger als Western. Da sind Stadtbewohner meist eine einheitliche Gruppe. In der Regel haben sie Angst vor Bedrohung, vielleicht gibt es einen Mutigen. Hier werden sie sehr unterschiedlich charakterisiert. Viele tanzen nach Robert Ryans Pfeife, aber manche sind Tracy gegenüber so feindselig eingestellt wie Ryan, manche machen mit, weil sie nicht wagen aufzumucken. Ein paar lassen verstohlen Sympathien für Tracy erkennen, andere sind auf seiner Seite und helfen ihm, wenn auch erst nach einigem Zögern.

Spencer Tracy selbst hat eine spezielle Art, einen grimmigen Gerechtigkeitssinn auszudrücken und dabei als Durchschnittsamerikaner zu erscheinen, dem man seine Beharrlichkeit gar nicht zutraut. Gerade durch die Verzögerung des Konflikts, die Bedrohung, die lange nicht manifest wird, erzeugt der Film große Spannung. „Stadt in Angst“ ist allerdings auch nur etwa 80 Minuten lang – über längere Zeit wäre diese Stimmung wohl nur schwer aufrechtzuerhalten gewesen. Interessant: Nur in Cannes wurde „Stadt in Angst“ als bester Film ausgezeichnet. In USA war er bei mehreren Wettbewerben und in verschiedenen Kategorien nominiert, gewann aber keine Preise.

Nante 05.11.2022 07:49

Ist vielleicht nicht der Hauptgrund, aber wahrscheinlich wollten sich die meisten US-Amerikaner in den 50ern noch nicht an die Behandlung der Japanisch-stämmigen Mitbürger (Vor allem die Internierungen) nach Pearl Harbor erinnern lassen.

Die Aufarbeitungen dazu begannen ja erst in den 60/70ern und in einem Film richtig thematisiert wurde es glaube ich erstmals erst mit "Come See the Paradise" von 1990. (Ich habe den Film damals nicht gesehen, aber er erregte auch in Dt. einiges Aufsehen.)

Marvel Boy 05.11.2022 08:20

Als ich den Film gesehen habe waren mir die Hintergründe nicht wirklich bewußt um den Film als das zu sehen was er ist, politisch. Stimmungsmäßig hat er mir aber als jugendlicher zugesagt.

Peter L. Opmann 05.11.2022 09:12

@ Marvel Boy: Ging mir auch so. Ich hätte mir das aus "Pearl Harbor" und "Japaner" zusammenreimen können, aber eigentlich war das ein so fesselnder Spannungsfilm, daß es mir irgendwie egal war.

Mich erinnert das Thema des Films an den Doors-Song: "People are strange when you're a stranger. Faces look ugly when you're alone. Women seem wicked when you're unwanted. Streets are uneven when you're down."

Nante 05.11.2022 11:59

So, damit niemand denkt, ich würde mir nur S/W- und Stummfilme anschauen, mal ein quietschbunter Musikfilm; - und ein Anime! :D

Interstella 5555 – The 5tory of the 5ecret 5tar 5ystem von Kazuhisa Takenouchi/Akira Matsumoto und Daft Punk.

Ich denke, fast jeder kennt den Song und das Video von “One more time” von Daft Punk aus dem Jahr 2000. Viele kennen sicher auch noch die drei folgenden Titel/Videos vom Album Discovery. In ihnen wird geschildert , wie auf einem fernen Planeten eine gefeierte Musikgruppe auf einem Konzert von Eindringlingen aus einem schwarzen Raumschiff gekidnappt werden.

Trotz des Eingreifens eines tapferen Weltraumpiloten, der offensichtlich in die Bassistin verliebt ist (und mich stark an Capitan Future erinnert), werden die vier auf die Erde verschleppt und dort einer optischen Anpassung an die Menschen sowie einer Gehirnwäsche unterzogen, um dann als DIE neue Super Group die Charts zu stürmen.

Soweit ging damals die Handlung, wobei als einziges Hoffnungszeichen blieb, daß es auch der Raumpilot noch geschafft hatte, auf die Erde zu gelangen. Kein sehr befriedigender Schluss.

Wohl auch darum haben die Band und die Produzenten zwei Jahre später nachgelegt und auf der Basis der restlichen Titel vom Album einen kompletten Trickfilm produziert, der (incl. der ersten vier Kapitel) die Handlung fortführt.
Ich will jetzt nicht so viel spoilern, aber es es schwankt zwischen tieftraurig und fröhlich und am Ende gibt es ein Happy End. Nebenbei wird z.B auch noch eine Hypothese aufgestellt, woher z.B. Mozarts bereits in früher Kindheit auftetendes musikalisches Genie stammen könne. :zwinker:

Ich bin sonst eigentlich kein großer Fan von Animes aber hier hat mich das Zusammenwirken von Bild und Musik (Es wird kein einziges Wort gesprochen!) total überzeugt. Das ist etwas völlig anderes als viele oft peinliche „Musikfilme“. Da die beiden Mitglieder von DP ja streng auf ihre öffentliche Nichtexistenz achten, bestand auch keine Notwendigkeit, sie in den Film mit einzubauen und die Zeichner hatten freie Hand.
Ich denke sogar, daß man theoretisch vielleicht auch eine Vertonung produzieren könnte, bei der man die Musik (größtenteils)wegläßt und dafür die Figuren sprechen läßt. Nicht, daß ich das unbedingt brauche aber allein schon, daß es möglich wäre, unterstreicht die Qualität der Produktion.
So etwas habe ich seitdem leider noch nicht wieder erlebt. Darum ist es für mich zumindest ein Klassiker

Peter L. Opmann 05.11.2022 12:22

Muß gestehen, von "Interstella 5555" habe ich noch nie gehört. Aber danke für den Beitrag!

Ich habe auch schon überlegt, mal einen Musikfilm auszusuchen (da dachte ich an "Spinal Tap" oder "The Last Waltz") oder auch einen Zeichentrickfilm (da hatte ich "Der König und der Vogel" im Blick). Etwas davon kommt vielleicht demnächst.

Es gibt auch einen Zeichentrick-Musikfilm, der für mich eine gewisse Bedeutung hat: "Heavy Metal", aber da bin ich zögerlich, weil ich den seit 1980 nie wieder gesehen habe. Kann sein, daß der eher nicht in eine Klassiker-Reihe gehört.

Marvel Boy 05.11.2022 13:44

Ein Klassiker ist Heavy Metal schon. Allein der Tricktechnik wegen schon.
Wirklich überzeugen konnte der mich aber nicht. Da es sich um einzelne Episoden handelt gibt es naturgemäss bessere und schlechtere.

Peter L. Opmann 06.11.2022 07:17

„Der verrückte Professor“ (1963) von (und mit) Jerry Lewis ist für mich ein schwieriger Fall. Ganz klar: Das ist ein Film, der mich schon als Jugendlichen ansprach, und der seine Wirkung auch heute noch ausübt. Damit gehört Lewis für mich zu den großen Filmkomikern. Allerdings habe ich eine Menge Jerry-Lewis-Filme gesehen, die mich nicht überzeugt oder richtig enttäuscht haben. Immerhin hat Lewis eine ganz eigene Form der Komik entwickelt. Aber in seiner langjährigen Zusammenarbeit mit Dean Martin hatte er wohl den undankbareren Part. Auch viele Filme, die er nach dieser Zeit drehte, finde ich nicht besonders witzig. So geht es mir mit den Pionieren aus der Slapstick-Ära nicht. Die haben alle eine ganze Reihe von Filmen vorzuweisen, die mir gut gefallen. Aber selbst wenn ich „Der verrückte Professor“ innerhalb des Schaffens von Lewis für sich betrachte, fällt es mir nicht leicht zu sagen, was nun genau die Qualität dieses Films ausmacht.

Erstmal zum Inhalt. Lewis spielt einen vertrottelten Chemieprofessor an einer US-Uni, der höchstens Mitleid zu erregen vermag. Außerdem ist er äußerst ungeschickt, weshalb seine chemischen Experimente öfters schiefgehen. Von seinen Studenten wird er daher nicht ernst genommen, und auch mit der Universitätsleitung bekommt er zunehmend Ärger. Immerhin bemerkt Lewis das selbst und beschließt, dem mit einer selbst zusammengebrauten chemischen Substanz abzuhelfen, die ihn für begrenzte Zeit in einen höchst attraktiven, smarten und selbstsicheren Playboy verwandeln soll. Das Experiment gelingt, und der Professor läuft fürderhin als Frauenschwarm Buddy Love durch die Gegend und macht die Nachtclubs unsicher. Eine Studentin (Stella Stevens), die schon für den Professor eine gewisse Sympathie hegte, läßt sich von Buddy Love beeindrucken und verliebt sich in ihn.

Ungünstig ist nur: Die Wirkung der Chemikalie läßt stets nach wenigen Stunden nach, und Buddy Love muß dann schleunigst verschwinden, bevor er sich in den Professor zurückverwandelt. Es gibt aber auch noch weitere Probleme. Buddy Love ist nicht nur selbstbewußt, sondern arrogant und egozentrisch, so daß Stella Stevens ins Grübeln gerät, ob er wirklich der geeignete Liebhaber ist. Der Professor wiederum leidet unter der Spaltung seiner Persönlichkeit. Als wieder einmal die Rückverwandlung ansteht, bleibt er auf dem Fest, das er gerade besucht, und gesteht vor allen Besuchern, daß er eine Doppelexistenz führt. Sein Wundermittel wird jedoch zu einem Verkaufsrenner, was Lewis und Stevens eine glückliche gemeinsame Zukunft eröffnet.

Man sieht, die Handlung macht den Film nicht unbedingt zu einem Klassiker. Es ist eher die schauspielerische Leistung von Lewis (und des gesamten Ensembles). Sowohl der Professor als auch der Playboy sind zwar stark verzeichnete Karikaturen, aber beide werden ebenso prägnant wie komisch gestaltet und bleiben dem Zuschauer anhaltend im Gedächtnis. Es ist bekannt, daß Jerry Lewis ein Workaholic war und seine Komödien stets hart erarbeitete. Er empfand sich selbst wohl als Komiker keineswegs als Naturtalent. Lange Zeit arbeitete er an dem Film „The Day the Clown cried“, der möglicherweise eine sehr persönliche Botschaft vermitteln sollte, aber Lewis vollendete ihn nicht und zeigte nie etwas von dem Material öffentlich. In den 70er Jahren legte er aus Erschöpfung und auch, weil sein Erfolg nachließ, eine mehrjährige Pause ein.

„Der verrückte Professor“ spielt auf den Horrorklassiker „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson an, der in Hollywood mehrmals verfilmt wurde. Dabei dreht Lewis das Motiv um: Die Gruselgestalt ist bei ihm der Wissenschaftler, und die durch Verwandlung erscheinende Kreatur wirkt, zumindest oberflächlich betrachtet, positiv. Stevenson thematisierte eine Doppelexistenz; später wurde dieses Motiv zunehmend psychologisch interpretiert. Bei Lewis gibt es das beides. Doch er stellt einfach zwei gegensätzliche Komödienfiguren einander gegenüber – Anlaß für eine tieferschürfende Interpretation ist das nicht.

Es wäre wohl nicht uninteressant zu überlegen, wie dieser Film nach 1968 hätte aussehen können. Buddy Love hat noch wenig mit der Jugendkultur zu tun, die damals noch nicht sehr ausgeprägt war. Letztlich ist diese Figur kein Rebell, sondern ein Idealbild der etablierten Unterhaltungskultur, die dann an Bedeutung verlor. In dieser Hinsicht merkt man dem Film sein Alter an. Das mindert aber die komische Wirkung kaum. Was mir von Lewis noch gefällt: Da möchte ich „Besuch auf einem kleinen Planeten“ (1960) und „Zu heiß gebadet“ (1961) nennen, wenngleich diese Filme an den „verrückten Professor“ nicht herankommen.

Marvel Boy 06.11.2022 08:41

Jerry Lewis, lange keinen seiner Filme mehr gesehen, sehr lange. Der besprochene würde sogar in meine Saammlung wandern wenn ich zu passenden Preis düber stolpere. Hat mir damals meine ich gefallen, je älter ich wurde je weniger konnte ich aber mit seinen Filmen anfangen, liegt vielleicht tatsächlich daran das die Filme schlechter wurden je neuer sie sind. Die arbeiten mit Dean Martin sind mir glaube ich die liebsten, was aber dann eher an Dean Martin liegt.

Peter L. Opmann 06.11.2022 12:15

Vor einem Jahr habe ich mir mal eine Jerry-Lewis-DVD-Box gekauft - acht Filme für 9,99 Euro. Ich dachte, da es Jerry Lewis ist, kann darauf wohl nicht nur Schrott sein. Es war aber tatsächlich eher so, nur auf "Besuch auf einem kleinen Planeten" bin ich dadurch gestoßen; der ist ganz nett, wenn auch nicht überragend.

Das Paar Dean Martin und Jerry Lewis müßte ich vielleicht mal genauer betrachten. Außerdem fiel mir noch ein, daß der Regisseur der Jerry-Lewis-Filme häufig Frank Tashlin war. Aber auch das ist nicht unbedingt eine Qualitätsgarantie.

Horatio 06.11.2022 12:46

Zitat:

Zitat von Peter L. Opmann (Beitrag 805768)
Aber in seiner langjährigen Zusammenarbeit mit Dean Martin hatte er wohl den undankbareren Part.

Mir scheint, das ist Ansichtssache. Andere meinen eher, Dean Martin habe als „straight man“ den eigentlich langweiligeren und damit undankbareren Part gehabt.

Zitat:

Zitat von Peter L. Opmann (Beitrag 805768)
Lange Zeit arbeitete er an dem Film „The Day the Clown cried“, der möglicherweise eine sehr persönliche Botschaft vermitteln sollte, aber Lewis vollendete ihn nicht und zeigte nie etwas von dem Material öffentlich.

Das stimmt nicht. Vor einiger Zeit sah ich im Fernsehen eine Dokumentation über diesen Film, in der viel Material daraus gezeigt wurde. Auch Jerry Lewis selbst spricht darin über den Film und dessen Entstehung.

Peter L. Opmann 06.11.2022 13:01

Zitat:

Zitat von Horatio (Beitrag 805829)
Mir scheint, das ist Ansichtssache. Andere meinen eher, Dean Martin habe als „straight man“ den eigentlich langweiligeren und damit undankbareren Part gehabt.

Manche sagen, mit Buddy Love habe Jerry Lewis seinen Ex-Partner Dean Martin karikieren wollen. Wenn das stimmt, würde ich das als eine subtile Rache an ihm verstehen. Aber klar: Es ist Ansichtssache, wer den besseren Part hatte und wer von der Zusammenarbeit mehr profitiert hat.

Zitat:

Zitat von Horatio (Beitrag 805829)
Das stimmt nicht. Vor einiger Zeit sah ich im Fernsehen eine Dokumentation über diesen Film, in der viel Material daraus gezeigt wurde. Auch Jerry Lewis selbst spricht darin über den Film und dessen Entstehung.

Oh, danke für die Korrektur. Ich habe auch eine Jerry-Lewis-Doku gesehen, und wenn ich mich recht erinnere, hieß es da, "The Day the Clown cried" sei endgültig in der Schublade verschwunden.

Horatio 06.11.2022 14:00

Zitat:

Zitat von Peter L. Opmann (Beitrag 805837)
Manche sagen, mit Buddy Love habe Jerry Lewis seinen Ex-Partner Dean Martin karikieren wollen. Wenn das stimmt, würde ich das als eine subtile Rache an ihm verstehen. Aber klar: Es ist Ansichtssache, wer den besseren Part hatte und wer von der Zusammenarbeit mehr profitiert hat.

Sowas habe ich auch mal gehört. Ich persönlich glaube das aber nicht. Ich denke, Lewis hat dabei nur ein paar Äußerlichkeiten von Martin übernommen. Denn Buddy Love sollte ja äußerlich ein gut aussehender „Ladies‘ Man“ sein. Charakterlich aber dürfte Buddy Love keineswegs Dean Martin entsprechen.
Das Ende ihrer Partnerschaft lag wohl begründet in ihren sehr unterschiedlichen Wesen. Martin ging wohl alles sehr entspannt an, während Lewis, wie du ja schreibst, ein Workaholic war, und mehr und mehr Kontrolle auszuüben begann.

Ich kenne das Buch, das Lewis über Martin geschrieben hat, nur in Ansätzen.
In seinem Buch „Wie ich Filme mache“ schreibt er über Buddy Love:
„Ich spielte da einen ekligen, schmierigen Dreckskerl. […] Ich mochte diesen Buddy Love schon beim Schreiben nicht; diese jämmerliche, unhöfliche, rücksichtslose Ratte, und dann musste ich ihn auch noch spielen. Ich fragte mich: Woher weißt du so genau über einen solchen Schuft Bescheid? Berührst du da eine Seite bei dir selbst, die es wirklich gibt? Sicher war es so. Viel an Buddy Love war echt und steckte auch in mir.“

Zitat:

Zitat von Peter L. Opmann (Beitrag 805837)
Oh, danke für die Korrektur. Ich habe auch eine Jerry-Lewis-Doku gesehen, und wenn ich mich recht erinnere, hieß es da, "The Day the Clown cried" sei endgültig in der Schublade verschwunden.

Ich muss einschränkend sagen, dass es eine Weile her ist, dass ich den Film „Der Clown“ sah, und nicht mehr genau weiß, wie viel Material direkt aus dem Film oder bloß Aufnahmen von den Dreharbeiten ist.

P.S.:
Im Wikipedia-Eintrag zu The Day The Clown Cried steht unter „Epilog“, wie es um das Projekt heute steht.

Peter L. Opmann 06.11.2022 14:35

Zitat:

Zitat von Horatio (Beitrag 805852)
Im Wikipedia-Eintrag zu The Day The Clown Cried steht unter „Epilog“, wie es um das Projekt heute steht.

Na gut, unterhalten wir uns 2024 nochmal drüber. ;)

Horatio 06.11.2022 17:42

Zitat:

Zitat von Peter L. Opmann (Beitrag 805768)
„Der verrückte Professor“ spielt auf den Horrorklassiker „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson an, der in Hollywood mehrmals verfilmt wurde. Dabei dreht Lewis das Motiv um: Die Gruselgestalt ist bei ihm der Wissenschaftler, und die durch Verwandlung erscheinende Kreatur wirkt, zumindest oberflächlich betrachtet, positiv. Stevenson thematisierte eine Doppelexistenz; später wurde dieses Motiv zunehmend psychologisch interpretiert. Bei Lewis gibt es das beides. Doch er stellt einfach zwei gegensätzliche Komödienfiguren einander gegenüber – Anlaß für eine tieferschürfende Interpretation ist das nicht.

Dies sehe ich anders: Die Gruselgestalt ist Buddy Love, der gutaussehende (aber selbstverliebte und rücksichtslose) Partylöwe, und der Positive ist Julius Kelp, das unansehnliche und ungeschickte Mauerblümchen.

Allgemeingültiges Thema des Films dürfte also sein, dass es nicht auf das Äußere, sondern auf die inneren Werte ankommt.

pecush 06.11.2022 18:21

Der verrückte Professor lief jahrelang Silvester im Nachtprogramm. Wir sahen immer den Anfang,da war die Knallrei draußen zu Ende. Ich wollte das immer sehen, da ich den Anfang so geil fand. Mein Papa verbot es mir und machte aus oder schaltete weg.
Dauerte also, bis ich den sah.
Ich nahm den dann auch irgendwann auf. Vor ein paar Jahren wollte ich den mit meiner Familie gucken, aber die Aufzeichnung war kaputt. Da habe ich mir den auf DVD gekauft.
Einfach ein toller Klassiker!

Peter L. Opmann 06.11.2022 18:53

Zitat:

Zitat von Horatio (Beitrag 805905)
Dies sehe ich anders: Die Gruselgestalt ist Buddy Love, der gutaussehende (aber selbstverliebte und rücksichtslose) Partylöwe, und der Positive ist Julius Kelp, das unansehnliche und ungeschickte Mauerblümchen.

Allgemeingültiges Thema des Films dürfte also sein, dass es nicht auf das Äußere, sondern auf die inneren Werte ankommt.

Da ist was dran. Ich habe mich natürlich auf das Äußerliche bezogen: Prof. Kelp/Jekyll sieht abstoßend aus, Love/Hyde ist gutaussehend. Innerlich ist es umgekehrt. Ich finde aber, das kann man so stehenlassen, weil die Beziehung zwischen Jekyll und Hyde bei Jerry Lewis, anders als in der Buchvorlage und in den übrigen Verfilmungen, überhaupt keine Rolle spielt. Wirkt die Chemikalie nicht mehr, dann verschwindet Buddy Love einfach. Er kehrt nur im Schlußgag zurück, wo Stella Stevens darauf dringt, etwas von dem Mittel zu behalten - falls ihr Kelp einmal als Liebhaber doch zu langweilig ist.

@ Pecush: Kann ich nachvollziehen. Ich habe mich auch von ein paar Filmen angezogen gefühlt, die ich als Jugendlicher nie sehen konnte.

Horatio 06.11.2022 22:17

Zitat:

Zitat von Marvel Boy (Beitrag 805769)
Jerry Lewis, lange keinen seiner Filme mehr gesehen, sehr lange. Der besprochene würde sogar in meine Saammlung wandern wenn ich zu passenden Preis düber stolpere.

Bei diesem Film dann aber nicht die Widescreen Collection - Special Edition von 2005 kaufen. Da fehlt bei ein paar Szenen die deutsche Synchronisation, vor allem bei der Schlussszene. Habe ich mich schwer drüber geärgert.

Übrigens, als Schlenker zu Spencer Tracy möchte ich hier an Jerrys Kurzauftritt in Eine total, total verrückte Welt erinnern, wo er als Autofahrer genüßlich extra einen Schlenker macht, um Spencer Tracys auf die Straße gefallenen Hut platt zu fahren. :-D

Peter L. Opmann 07.11.2022 06:41

"It's a Mad, Mad, Mad, Mad World" wäre auch eine Betrachtung wert. Ich sehe den Film als monströse Hommage an die Slapstick-Ära; der moralische Unterton stört mich nicht so sehr. Aber ich habe erstmal was anderes.

Will vielleicht jemand von Euch was über die "total verrückte Welt" schreiben?

Peter L. Opmann 07.11.2022 07:03

Ein Genre, das hier noch weitgehend fehlt, ist das Melodram. Eines der besten Beispiele, die ich kenne, ist Martin Scorseses „Zeit der Unschuld“ (1993). Eine in Konventionen erstarrte Gesellschaft verhindert eine Liebesbeziehung, die eben nicht diesen Konventionen entspricht. Das klingt wie „Effi Briest“, und ich finde, es gibt zwischen den beiden Stoffen Parallelen. Scorsese, der hier einen Roman von Edith Wharton verfilmt hat, macht das aber auf einem weitaus niedrigeren Level von Dramatik als Theodor Fontane. Hier gibt es kein Pistolenduell, und niemand wird aus seiner Familie verstoßen. Die Liebe verwirklicht sich einfach nie, weil die Gesellschaft sie niemals akzeptieren würde.

Der Film spielt in New York in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als das noch eine Kleinstadt war und bewohnt von einer kleinen, sehr an Europa orientierten, bereits ziemlich reichen Oberschicht. Daniel Day-Lewis ist ein erfolgreicher junger Anwalt, der den Auftrag erhält, die Interessen einer Gräfin (Michelle Pfeiffer) zu vertreten. Sie hat ihren gewalttätigen Ehemann in Polen verlassen und ist nach NY zurückgekehrt. Dieser Schritt wird von den feinen Leuten eher mißbilligt, denn zu dieser Zeit wird von einer Frau erwartet, so etwas zu ertragen. Ein Skandal liegt in der Luft. Day-Lewis ist fasziniert von Pfeiffer, die sich nicht viel darum schert, was man von ihr denkt. Er rät ihr jedoch, auf eine Scheidung zu verzichten.

Der Anwalt steht selbst kurz vor der Eheschließung mit einer Frau aus der upper class (Winona Ryder), eine Verbindung, die für ihn finanziell und beruflich sehr vorteilhaft ist und von der Gesellschaft begrüßt wird. Diese Frau ist allerdings, anders als die Gräfin, völlig den Konventionen verhaftet. Wenn er sie heiratet, wird er auch genau so leben müssen, wie es die Gesellschaft von ihm erwartet. Lieber wäre er mit Michelle Pfeiffer zusammen, und sie erwidert seine Gefühle. Aber die Hindernisse sind fast unüberwindlich: Die Verlobung mit Winona Ryder lösen? Sich der Gräfin zuwenden, die ohnehin einen zweifelhaften Ruf hat? Und als er Pfeiffer seine Absichten offenbart, weist sie ihn kühl darauf hin, daß sie sich – auf seinen Rat hin – von ihrem Ehemann nicht hat scheiden lassen. Soll das also etwa eine außereheliche Beziehung werden?

Day-Lewis tut also nichts von alledem, sondern heiratet Ryder und gründet mit ihr eine den Konventionen entsprechende Familie. Damit ist er ein glücklicher Ehemann und ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, doch alles ist nur Fassade. Heimlich trifft er sich gelegentlich mit Pfeiffer, aber beide wissen, daß eine richtige Liebe nicht drin ist. Da gibt es eine sehr eindringliche Szene: Er will sich endgültig mit ihr aussprechen und findet sie am Meeresufer. Sie ist ein Stück entfernt und hat ihm den Rücken zugewandt. Er beschließt: Wenn sie sich umdreht, bevor ein bestimmtes Schiff an ihr vorbeigefahren ist, wird er sie ansprechen. Aber das Schiff fährt vorbei, und sie dreht sich nicht um. Später erfährt er: Sie wußte, daß er hinter ihr steht. Schließlich geht sie wieder nach Europa, und nun ist keine Aussprache mehr möglich; er kann ihr auch nicht einfach so folgen. Übrigens: Auch Winona Ryder weiß, daß er eigentlich Pfeiffer liebt, wie sich herausstellt, aber sie ist sich sehr sicher, daß er sie nicht verlassen wird.

Viele Jahre danach hält sich Day-Lewis beruflich in Paris auf, wo Pfeiffer jetzt lebt. Sein schon erwachsener Sohn begleitet ihn und schlägt ihm vor, sie zu besuchen, nachdem er von der verhinderten Liebesgeschichte erfahren hat. Ryder ist schon tot – es würde also nicht unbedingt etwas gegen die Begegnung sprechen. Aber Day-Lewis schreckt davor zurück. Er setzt sich unter Pfeiffers Wohnung auf eine Bank – er hat den Eindruck, daß sie zuhause ist - und bleibt da einfach sitzen. Ihm sind nur die Erinnerungen an sie geblieben. Und nun sind ihm die Erinnerungen wertvoller als ein richtiger Mensch.

Wie das bei einem Melodram sein sollte, geht einem der Film mächtig ans Herz. Obwohl die Zeiten ganz andere sind, hat wohl jeder die Erfahrung von verpaßten Gelegenheiten, die sich nie mehr nachholen lassen, schon selbst gemacht. Mich beeindruckt vor allem die Rolle von Michelle Pfeiffer. Obwohl sie wirklich unkonventionell ist, kann sie nichts tun, um sich mit Day-Lewis zu verbinden, weil das nur auf den Status einer Geliebten hinauslaufen würde. Das erkennt sie rasch und bleibt lieber allein. Er dagegen ist in Illusionen gefangen.

Alle Gefühle bleiben in diesem Film unterschwellig – oder sie sind nicht echt. Niemand sagt, was er denkt, aber Klatsch und Gerüchte schwirren umher, und die steifen Umgangsformen entsprechen denen europäischer Fürstenhäuser, wo sie abgeschaut sein dürften. Die Gesellschaft sorgt dafür, daß sich jeder so verhält, wie er soll – oder er wird ausgestoßen und verliert Ansehen, Wohlstand und alles, was sein Leben angenehm macht. Scorsese treibt enormen Aufwand zu zeigen, was da auf dem Spiel steht. New York ist zwar ein Kaff mit schlammigen Straßen, auf denen Kutschen unterwegs sind, aber die feine Gesellschaft umgibt sich mit erlesenem Luxus. Wertlos freilich im Vergleich zu einer echten Liebe. All das zieht den Betrachter in den Film hinein. Obwohl nie äußere Spannung entsteht, langweilt man sich keine Sekunde.

Marvel Boy 07.11.2022 18:11

Zitat:

Zitat von Horatio (Beitrag 805972)
Bei diesem Film dann aber nicht die Widescreen Collection - Special Edition von 2005 kaufen.

:top:
Danke!

Peter L. Opmann 08.11.2022 06:29

Okay, da Marvel Boy Interesse signalisiert hat, versuche ich mich mal an dem „Heavy Metal“-Film. Er kam im Februar 1981 in Deutschland ins Kino – in meiner kleinen Stadt ist er vielleicht auch erst im Frühjahr gelaufen. Ich wurde im Frühjahr 1981 16 Jahre alt, und ich war in der Zielgruppe, da ich Raymond Martins „Schwermetall“ fast von Anfang an gelesen habe und daher wußte, was das für ein Film war. Ich habe ihn seitdem, also seit gut 40 Jahren nicht nochmal gesehen. Aber ich habe mir später den Soundtrack besorgt (recht empfehlenswert, obwohl da nur zum Teil Heavy Metal drauf ist und dieses Genre damals ohnehin noch in den Kinderschuhen steckte). Außerdem habe ich eine Tonaufnahme eines Beitrags in einer Kultursendung (vermutlich im Bayerischen Fernsehen). Da wird der damalige Pressesprecher von Warner Columbia, Horst Kindermann, interviewt.

Man kann heute Clips aus „Heavy Metal“ in youtube sehen, aber meine Erinnerung an den Film ist so löchrig, daß ich nicht sicher bin, ob die eine oder andere Szene damals wirklich im Film oder eventuell zensiert war. Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich zwar die Zeichentrick-Versionen von „Den“ und „The long Tomorrow“ identifizieren konnte, aber nicht „Arzach“. Wenn ich mir das auf youtube ansehe, ist jedoch Arzach gut zu erkennen. Deshalb wären mir Ergänzungen von Leuten, die den Film besser kennen, sehr willkommen.

Ich beginne mal mit dem Fernsehbeitrag (etwa fünf Minuten lang). Damals hatte ich noch keinen Videorekorder und habe daher nur den Ton aufgezeichnet. Die Moderatorin erklärt nach Vorführung des Trailers, daß „Heavy Metal“ kein Film über die Musikrichtung sei, sondern der Titel einer internationalen Comiczeitschrift. Der Film enthalte „viel Sex und Gewalt und leider sehr wenig Witz“, aber es sei ein „faszinierender Trip durch die Welt der Zeichner“. Insgesamt schlug sie ihn doch dem Genre der Musikfilme zu. Von dem Promoter wollte sie dann wissen, warum Musikfilme so oft beim Publikum durchfielen. Sie nannte als Beispiele „Breaking Glass“ mit Hazel O‘Conner, „The Great Rock’n’Roll Swindle“ und den „Clash-Film“ (müßte „Rude Boy“ gewesen sein). Kindermann sagt, die Werbung habe da die Zielgruppe der Musikfans und des studentischen Publikums nicht erreicht (wobei er so redet, als ob er die Zielgruppe gewiß nicht erreichen kann). Für „Heavy Metal“ gebe es aber ein Werbebudget von einer halben Million Mark. Zum Schluß weist die Moderatorin darauf hin, daß diejenigen, die mehr über Comics wissen wollen, zum „Comics Handbuch“ bei rororo greifen sollten.

Mich hat der Film auch nicht so richtig erreicht (immerhin bin ich reingegangen). Wahrscheinlich wäre es hilfreich gewesen, die US-Ausgabe von „Heavy Metal“ zu kennen. Die Zeichner Thomas Warkentin, Angus McKie und auch Bernie Wrightson tauchten im deutschen „Schwermetall“ nicht auf. Und die Kunst von Moebius und Richard Corben ließ sich nur unzureichend in einen animierten Film übertragen. Zudem waren die Episoden des Films sehr uneinheitlich. „Captain Sternn“ und „So beautiful & so dangerous“ weisen einen in „Schwermetall“ kaum gepflegten karikaturistischen Stil auf, wenn sie auch nicht unbedingt lustig sind. Allgemein liegt der Akzent anders als in den Comics eher auf Fantasy als auf Science Fiction. Die geheimnisvolle grüne Kugel „Loc-Nar“, die den Rahmen bildet, ergibt keinen Sinn und soll das wohl auch nicht. Vielleicht wäre ich mit dem Film etwas besser klargekommen, wenn ich mit der Popkultur der 70er Jahre besser vertraut gewesen wäre, denn da gibt es eine Reihe von Anspielungen und Bezügen.

Sehr wohl habe ich aber mitbekommen, daß dieser Film anders war als alle Zeichentrickfilme, die ich bis dahin gesehen hatte (Ralph Bakshi kannte ich noch nicht). Sex und Gewalt und „erwachsene“ Inhalte im Zeichentrickfilm gefielen mir dann doch ganz gut. Aber ich hätte eine richtige Geschichte statt aneinandergereihter, teils rätselhafter Episoden bevorzugt. Es wurde nicht deutlich (falls das beabsichtigt war), daß dies eine bewegte Version eines Comicmagazins war. Mit Panels oder umgeblätterten Seiten wurde nicht gearbeitet; die Episoden gehen ineinander über. Die Optik des Films verfehlte freilich ihre Wirkung nicht, und die Musik tat ein Übriges (meine Favoriten waren Sammy Hagar mit dem Titeltrack, Cheap Trick, zweimal vertreten, und die französische Band Trust, die ich allerdings schnell wieder aus den Augen verloren habe; Black Sabbaths „Mob rules“ ist natürlich ein Klassiker).

Ergänzungen? Andere Sichtweisen?

Marvel Boy 08.11.2022 07:04

Interesse hab ich immer, nur mit der Zeit ist das so ein Problem. Irgendwas hätte ich sicherlich zu fast jedem der hier bisher vorgestellten Filme schreiben können.
Okay, aber ja mein Schwerpunkt liegt wie schon erwähnt auf dem Phantastischen Film und da sind wir mit Havy Metall ja mittendrin in dem Thema, der zusätzliche Comicbezug macht ein übriges.
Also, Havy Metal, ich hab ihn nicht im Kino sehen können. Schade weil er auf der großen Leinwand sicherlich mehr Wirkung entfaltet. In die Hände hab ich den dann erst als VHS bekommen.
Was da gekürzt ist? Keine Ahnung, ich könnte das ja mal mit der DVD Fassung vergleichen, ich meine die ist ungekürzt.
Inhaltlich war ich bei der Erstsichtung enttäuscht, ich hatte mehr erwartet, mehr Handlung.
Zum damaligem Zeitpunkt kannte ich nur das deutsche Havy Metall, US Ausgaben bekam ich erst später in die Hand.
Was erwachsene Zeichentrickfilme anbelangt, zur Zeit der VHS Sichtung hatte ich da nur Bakshis Herr der Ringe in der Samlung, bin bei dem aber eingeschlafen und hab den dann das erste mals auf DVD komplett gesehen. Fritz The Cat kannte ich damals meine ich noch nicht.
Aber zurück zum Havy Metall Film, also damals die Enttäuschung für mich, aus heutiger Sicht sehe ich den anders, allerdings eher unter dem "historischem" Gesichtspunkt interessant und mit wissen was damals ging und was nicht kann er mich unterhalten.
Ist halt auf seine Weise ein Meilenstein der Filmgeschichte wenn auch nicht unbedingt ein gelungener.

Peter L. Opmann 08.11.2022 07:10

Richtig enttäuscht war ich nicht, aber irritiert. Es war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte (Maß der Dinge war für mich der Disney-Film mit einer schön übersichtlichen Handlung).

Vielleicht wäre es gut gewesen, "Heavy Metal" mehrmals zu sehen. Ein paar Jahre später habe ich mich mit dem Comic Labor öfters mal zu Videoabenden getroffen, aber da wurde nie "Heavy Metal" geguckt - wobei ich nicht weiß, ob es den Film überhaupt auf Video gab. Also ich denke, ich muß nochmal auf John Carpenter zurückkommen. Den kenne ich ursprünglich von diesen Videosessions.

Peter L. Opmann 09.11.2022 07:29

Bekannter Regisseur, unbekannter Film. „Im Schatten der Nacht“ (1947) war das Debüt von Nicholas Ray. Verbunden ist sein Name heute mit dem Jugenddrama „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ mit James Dean. Obwohl die James-Dean-Figur als etwas völlig Neues erschien, ist sie teilweise in der Hauptfigur dieses Films bereits angelegt, die von Farley Granger gespielt wird. Ray läßt ein wenig auch das Bonnie-und-Clyde-Motiv anklingen. Mir gefällt an „Im Schatten der Nacht“ die Mischung aus relativ hartem Kriminalfilm und Melodram.

Drei Männer brechen aus dem Gefängnis aus. Zwei (Howard de Silva und Jay C. Flippen) sind Profiverbrecher, der dritte (Granger) ein junger Anfänger, der freilich wegen des schwersten Verbrechens, eines Mordes, eingebuchtet war. Die drei haben einen Farmer gezwungen, ihnen sein Auto zu überlassen. Sie fahren es zu Schrott und müssen den restlichen Weg zu einem Verwandten, wo sie sich verstecken wollen, zu Fuß gehen. Dabei wird deutlich, daß Granger am Fuß verletzt ist. Die Polizei ist ihnen aber offenbar noch nicht auf den Fersen. Granger wird von der Tochter des Mannes (Cathy O’Donnell) medizinisch versorgt. Weil beide mißverstandene Jugendliche sind, fühlen sie sich zueinander hingezogen.

Granger will seine Unschuld beweisen. Dafür braucht er juristische Hilfe und damit Geld. Noch einmal ein erfolgreicher Coup, dann wird er alles in Ordnung bringen, so denkt er. O‘Donnell warnt ihn, er gerate so nur immer mehr auf die schiefe Bahn, und bringt ihn dazu, gemeinsam mit ihr wegzulaufen. Unterwegs heiraten sie in einer Drive-in-Kirche – es ist ihnen aber sehr ernst. Granger läßt sich von ihr aber nicht bewegen, sich der Polizei zu stellen. Das Paar wird von de Silva und Flippen aufgespürt und Granger überredet, erneut bei einem Banküberfall mitzumachen. Das Unternehmen geht schief, Flippen wird bei dem Überfall erschossen, de Silva kurz darauf, während Granger mit heiler Haut davonkommt. Aber das ist für ihn nicht das Ende seiner Schwierigkeiten. Die Presse schreibt ihn zu einem Top-Gangster hoch, und damit steigt die Gefahr, daß er erkannt wird.

Nachdem das Paar mehrmals beinahe aufgeflogen ist, wendet sich Granger an eine weitere Verwandte von de Silva. Sie läßt die beiden in einem Ferienhäuschen wohnen. Dort wollen sie bleiben, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Aber da ihr Mann ebenfalls im Gefängnis sitzt, geht die Frau zur Polizei und verrät Granger, um ihren Gatten auf diese Weise freizubekommen. Noch scheint die Luft rein zu sein. O’Donnell hat Granger eben gestanden, daß sie schwanger ist, und er verspricht ihr, ein guter Ehemann und Vater zu sein. Inzwischen hat die Polizei aber das Häuschen umstellt, Als Granger das Haus verläßt, wird er niedergeschossen. O’Donnell findet bei der Leiche einen Brief, den er ihr kurz zuvor geschrieben hat, weil er sie nicht wecken wollte.

Robert Altman hat die Geschichte zur Zeit von New Hollywood noch einmal verfilmt, diesmal mit Keith Carradine und Shelley Duvall als jugendliches Paar. Er betont mehr die Armut, die Menschen zum Verbrechen treibt. Die Liebesbeziehung ist bei ihm nicht mehr so stark motiviert, Gefühle spielen keine große Rolle. Rays Film ist dagegen eine eigenartige Mischung aus Realismus und melodramatischen Elementen. Man kann sich besser mit den Hauptfiguren identifizieren, und mich hat die Ausweglosigkeit des Geschehens, das unweigerlich in eine sich deutlich abzeichnende Katastrophe steuert, sehr bewegt. Es ist kein typischer Debütfilm, sondern zeigt bereits Rays großes Können.

Peter L. Opmann 10.11.2022 06:12

Ich habe bereits das Comic Labor erwähnt, wo es Videosessions gab. Ich war da nicht Vollmitglied, wenn man so will, aber ich war dabei, als das Comicmagazin „Menschenblut“ herausgegeben wurde, und habe auch die eigenen Filmprojekte der Laboristen verfolgt – in „Aufbruch der Blutcrew“ hatte ich sogar eine kleine Nebenrolle. Einen Film, den wir uns damals – es war wohl 1982 oder 83 – angesehen haben, will ich jetzt besprechen: „Das Ende“ oder auch „Anschlag bei Nacht“ (1976) von John Carpenter, heute bekannter unter seinem Original-Verleihtitel „Assault on Precinct 13“.

In der „Zeit“ hieß es: „Eine beängstigendere, faszinierendere Vision urbaner Gewalt hat es im gewiß nicht gerade gewaltlosen amerikanischen Kino der siebziger Jahre nicht gegeben.“ Ich glaube, da hat man den Film als sozialkritisch mißverstanden. Carpenter geht es nur um Action, allerdings perfekt gemacht wie bei seinem Vorbild Howard Hawks. „Assault“ ist stark angelehnt an den Hawks-Western „Rio Bravo“. Darum geht es: Der Polizeileutnant Ethan Bishop (Austin Stoker) erhält den Auftrag, ein Polizeirevier in Los Angeles zu beaufsichtigen, das geschlossen wird und nur noch von ein paar Bediensteten besetzt ist. Er ahnt nicht, daß es in diesem Viertel einen blutigen Jugendbanden-Krieg gibt. Gerade sind einige Mitglieder von der Polizei exekutiert worden. Die Überlebenden schwören Rache. An diesem Abend ist auch ein Gefangenentransport in der Gegend unterwegs. In dem Wagen sitzt unter anderem Napoleon Wilson (Darwin Joston), der auf dem Weg zu seiner Hinrichtung ist. Ein Gefangener scheint krank zu sein, daher steuert der Transport das Polizeirevier an, um ärztliche Hilfe zu bekommen.

Die Jugendgang kreuzt derweil ziellos durch die Straßen. Ein Mitglied nimmt vom Rücksitz aus nichtsahnende Passanten ins Visier seines Gewehrs. Die Gang beschließt, sich an einem Eisverkäufer abzureagieren, tötet ihn und auch ein kleines Mädchen, das gerade ein Eis kaufen will. Der Vater findet es, dreht durch und erschießt ein Gangmitglied. Dann flüchtet er in Panik in das Polizeirevier. Die Besatzung merkt, daß die Telefone tot sind. Die Polizisten, die den Gefangenentransport begleiten, verlassen das Haus, um nach dem Rechten zu sehen. Dabei werden sie erschossen, und zwar mit schallgedämpften Waffen. Erst allmählich wird klar, daß das Revier von der Jugendgang belagert wird, die die Telefonleitungen gekappt hat. Die Schützen bleiben in Deckung – in der Umgebung bekommt niemand etwas von der Gefahr mit, der die Menschen im Revier ausgesetzt sind. Bishop muß allein auf sich gestellt die Verteidigung organisieren. Nach einigem Zögern läßt er den Todeskandidaten Wilson aus seiner Zelle frei und gibt ihm ein Gewehr. Zunächst haben Polizisten, Gefangene, Zivilbedienstete und Besucher der Polizeistation dasselbe Ziel, nämlich zu überleben.

Es ist Nacht geworden. Bisher hat niemand im Viertel etwas von dem Angriff auf Precinct 13 bemerkt, und die Insassen haben keine Möglichkeit, Hilfe herbeizurufen. Angriffe der Gang können aber mit vereinten Kräften abgewehrt werden. Auch eine Sekretärin (Laurie Zimmer) erweist sich als sichere Schützin. Ein Gefangener wird ausgeknobelt, der heimlich das Haus verlassen und Hilfe holen soll, aber er wird von der Gang abgefangen und getötet. Die Angriffe gehen weiter. Die Verteidiger müssen sich in den Keller zurückziehen. Als die Gangmitglieder auch da eindringen, bringt Bishop einen Gasbehälter zur Explosion – der endgültige Befreiungsschlag. Wilson werden wieder Handschellen angelegt, aber in den Augen des Polizisten hat er sich rehabilitiert.

Ich glaube, dieser Film hat mich damals ziemlich verstört. Wie bei den New-Hollywood-Vertretern kippt jemand, den eine Kugel trifft, auch bei Carpenter nicht einfach um, sondern die Konsequenzen des Sterbens werden zumindest ansatzweise gezeigt. Carpenter interessiert sich auch dafür, wer im Polizeirevier sich in dieser Extremsituation bewährt und wer nicht. Abgesehen davon zielt er jedoch darauf ab, die Spannung, auch durch unappetitliche Darstellungen, so hoch wie möglich zu treiben. Das Budget von "Assault" betrug lediglich 100 000 Dollar. Bekannte Schauspieler hatte Carpenter nicht zur Verfügung. In USA wäre der Film daher trotz der geringen Produktionskosten beinahe fehlgeschlagen, aber er wurde dann in Frankreich und England entdeckt und in Europa ein relativ großer Erfolg, worauf er dann auch in USA beachtet wurde. „Assault“ und mehr noch Carpenters „Klapperschlange“ prägten dann auch den Stil des Comic Labors.

Wie ich sehe, ist Austin Stoker gerade vor etwa einem Monat gestorben.

Marvel Boy 10.11.2022 06:32

Carpenter, einer der Namen die in meiner Filmsammlung deutlich vertreten sind da fast alle seiner Filme das gewisse etwas haben. Auch bei der Filmmusik ist er gut vertreten, schrieb er die doch fast immer selbst.
Was das Ende betrifft, ich bin mir nicht sicher aber ich meine das war bei mir der Anfang, der erste Carpenterfilm den ich zu sehen bekam, damals noch im TV, wenn ich mich recht erinnere. Seit dem verirrt er sich immer mal wieder in meinen Player und nach dem hier gelesenen hätte ich mal wieder Laune drauf.

Peter L. Opmann 10.11.2022 06:51

Ja, auch der Music Score von "Assault" ist sehr gut, finde ich.

OK. 10.11.2022 08:26

Einer meiner liebsten Filme der 70er. Großartig, dass ein Afro-Amerikaner die Hauptrolle spielt. Schockierend die Ermordung des Mädchens. Unvergesslich der minimalistische Score und die leider danach nie wieder gesehene Laurie Zimmer.

Peter L. Opmann 10.11.2022 09:02

Stimmt - Laurie Zimmer habe ich nicht ohne Grund erwähnt.

Aber sie ist eine Carpenter-typische Frauenfigur. Später kam sie als Adrienne Barbeau wieder.

Peter L. Opmann 11.11.2022 06:35

Werfen wir einen Blick auf den Film, der Carpenters Inspiration war. „Rio Bravo“ (1959) von Howard Hawks. Ich werde gleich die Handlung zusammenfassen, aber ich finde, die Handlung ist nicht das Wichtige hier (obwohl es nicht wenig ausgezeichnet inszenierte Action gibt), sondern der Charakter der Figuren. Es ist für mich bezeichnend, daß meine Lieblingspassage in dem Film für den Hauptstrang der Story ohne großen Belang ist. Darin dringt John Wayne, der Sheriff von Rio Bravo, in das Hotelzimmer der angeblichen Falschspielerin Angie Dickinson ein, um sie zu überführen, muß aber unverrichteter Dinge wieder gehen.

Der Film beginnt mit einer Szene, in der sich Hilfssheriff Dean Martin im Saloon zum Gespött macht. Der Alkoholiker braucht dringend einen Whiskey, und ein Mitglied der Familie Burdette, die in der Stadt ihre eigenen Gesetze macht, wirft ein Geldstück in einen Spucknapf am Tresen, mit dem er den Drink bezahlen kann. Martin zögert nicht, es herauszufischen, da betritt Wayne die Bühne und hindert ihn daran. Worauf er von seinem Deputy niedergeschlagen wird. Wayne behält aber alles unter Kontrolle und wirft den Mann, der Martin entwürdigt hat, ins Gefängnis. Kurz zuvor hat der nämlich einen unbeteiligten Saloonbesucher kaltblütig abgeknallt. Aber damit macht sich Wayne die Familie Burdette und ihre Handlanger zu Feinden. Für eine Gerichtsverhandlung muß der Marshal anreisen, was ein paar Tage dauert.

Ein weiterer Zwischenfall verschärft den Konflikt: Ein Rinderzüchter, der in die Stadt kommt, schlägt sich offen auf Waynes Seite und wird daher von einem von den Burdettes beauftragten Heckenschützen ermordet. Dean Martin entdeckt den Täter im Saloon und erschießt ihn. Darauf ziehen sich Wayne und Martin ins Sheriff’s Office zurück. Der Kopf der Burdettes kündigt offen an, daß er seinen Bruder bald aus dem Knast befreien wird, aber Wayne droht, ihn zu töten, falls sich Burdette oder seine Männer dem Haus nähern sollten. In dem Office befinden sich Wayne, bei dem sich allmählich das Alter bemerkbar macht, Martin, der unter Alkoholentzug seinen Revolver nicht ruhig halten kann, und ein Oldtimer (Walter Brennan), den niemand richtig ernst nimmt. Hinzu kommt ein Halbstarker (Ricky Nelson), der aber gut schießen kann.

Obwohl die Hüter des Gesetzes den Burdettes hoffnungslos unterlegen zu sein scheinen, versucht Wayne, so gut es geht die Ordnung in der Stadt aufrechtzuerhalten und zumindest bei Dunkelheit auf Streife zu gehen. So kommt er dem Falschspiel im Saloon auf die Spur. Dickinson sieht einer Frau auf einem Steckbrief ähnlich, also fordert er sie unter vier Augen auf, die Stadt zu verlassen. Obwohl er sich korrekt verhält, ist sie empört, daß sie ohne Beweise verdächtigt wird. Sie will, daß er sie nach gezinkten Karten durchsucht, was seine Moralvorstellungen nicht zulassen. Er macht auf dem Absatz kehrt – sie folgt ihm jedoch und verlangt eine Entschuldigung (Super-Szene!). Im Anschluß wird der wirkliche Falschspieler enttarnt.

Das Sheriff’s Office ist permanent im Visier der Burdettes und ihrer bezahlten Helfer. Doch Wayne und seine Leute zeigen sich nach außen hin unbeeindruckt. Martin versucht allerdings verzweifelt, vom Alkohol loszukommen. Dabei gerät er in die Gewalt der Burdettes. Sie wollen ihn gegen den inhaftierten Bruder austauschen. Wayne läuft kurz darauf in eine Falle, kann sich aber mithilfe seiner Freunde wieder befreien. Nun soll der Gefangenenaustausch stattfinden. Die Burdettes verschanzen sich dazu in einem Lagerhaus. Es kommt zu einer wilden Schießerei. Am Ende besorgt Brennan Sprengstoff, mit dem das Lagerhaus in die Luft gejagt wird. Die Burdettes ergeben sich. Wayne und Dickinson sind sich inzwischen nähergekommen und haben sich ausgesprochen. Es wird angedeutet, daß sie zusammenbleiben werden.

Hawks hat diese Geschichte ein paar Jahre später noch einmal verfilmt („El Dorado“, 1966), aber ich vermute, nicht deshalb, weil er von der Story so überzeugt war, sondern weil er sie gut benutzen konnte, um diesmal etwas andere Charaktere zu zeigen. John Wayne spielte wieder die Hauptrolle, daneben waren Robert Mitchum und James Caan zu sehen. Beide Filme haben große Momente, aber insgesamt gefällt mir „Rio Bravo“ besser. Kennzeichen der Hawks-Western ist, daß die Figuren nie emotional agieren, sondern professionell. Das bedeutet auch, sie sind nicht ängstlich („Rio Bravo“ war auch ein Statement gegen die Stadt voller Angsthasen in „Zwölf Uhr mittags“). Gefühle sind natürlich unterschwellig dennoch im Spiel. Die Helden in beiden Western sind außerdem von ihren körperlichen Gebrechen gekennzeichnet, was sonst in Western kein Thema ist. Auch Mitchum in „El Dorado“ ist Alkoholiker. Während Nelson unerfahren ist, hat Caan keinerlei Erfahrung mit Feuerwaffen. Helden werden also hier nicht glorifiziert, sondern sie setzen sich nur mit knapper Not und großer Anstrengung durch. Und Hawks ist ein Meister in der Umsetzung einer schlüssigen Handlung in seinen Actionfilmen (er war auch ein guter Komödienregisseur).

Es wäre einen eigenen Text wert, was Carpenter von der Hawks-Vorlage übernommen hat und was nicht.

Nante 11.11.2022 07:28

Zitat:

(„Rio Bravo“ war auch ein Statement gegen die Stadt voller Angsthasen in „Zwölf Uhr mittags“)
Irgendwo habe ich mal gelesen (weiß aber nicht, inwieweit es wirklich stimmt) das Wayne damit auch ein Gegenbild zu Coopers "unmännlich um Hilfe bettelnden" Sheriff aus dem Film schaffen wollte.

Peter L. Opmann 11.11.2022 07:37

Ich glaube, Wayne und Hawks waren sich darin einig, daß "High Noon" ein unamerikanischer Film ist. (Kein Wunder, Fred Zinnemann war Österreicher.)

Nachdem ich zunehmend von Schulmassakern in USA höre, habe ich mich auch gefragt, ob es wirklich sein muß, daß die Amis alle mit Waffen herumlaufen. Aber "Rio Bravo" zeigt, wo diese Waffenkultur herkommt: Es hat eben keinen Sinn zu warten, bis der Marshal eintrifft. Bei Konflikten muß man sich selbst helfen, und da ist es von Vorteil, wenn man gut schießen kann...

Aber auf "High Noon" gehe ich hier sicher auch mal ein. Das ist ja eigentlich gar kein Western, sondern zeigt verklausuliert die McCarthy-Zeit, in der wirklich viele Angst vor Denunziation hatten.

Peter L. Opmann 12.11.2022 07:01

Es gibt noch einen Western, der einen deutlichen Bezug zu „High Noon“ aufweist. Dieser Film ist kein Gegenentwurf wie „Rio Bravo“, sondern er greift das Motiv des Einzelnen auf, der sich gegen eine Gangsterbande stellt, und betont weniger den Umstand, daß sich andere scheuen, ihm beizustehen. Er hat den etwas blöden deutschen Titel „Zähl bis drei und bete“ (1957); im Original heißt er „3:10 to Yuma“, was einen Zug benennt, der in der Story eine wichtige Rolle spielt.

Der Rancher Van Heflin und seine kleinen Söhne werden Zeuge, wie der berüchtigte Bandit Glenn Ford mit seinen Leuten eine Postkutsche überfällt und der Kutscher erschossen wird. Die Jungs wollen, daß Van Heflin eingreift, aber der bleibt untätig, um sie zu schützen und auch, weil er sieht, daß er – unbewaffnet – kaum etwas tun könnte. Ford zerstreut die Rinderherde Heflins. Während der die Tiere wieder zusammentreiben muß, hat er genug Zeit, sich abzusetzen. Dann teilt er die Beute mit seinen Kumpanen. Unvorsichtigerweise reitet die Bande in die nächste Stadt, wo Ford eine Bardame im Hotel besucht. Die anderen machen sich mit ihren Anteilen davon – später wollen sie sich wieder treffen. Ford wird in flagranti erwischt und festgenommen. Der Chef der Postkutschenlinie setzt eine Belohnung für denjenigen aus, der Ford zur Gerichtsverhandlung in die nächste größere Stadt bringt. Heflin, dessen Ranch von einer Dürre bedroht ist, kann das Geld gut brauchen und meldet sich. Zunächst muß er allein auf sich gestellt Ford in dem Hotelzimmer bewachen, bis der oben erwähnte Zug kommt. Ford lacht über Heflin, der mehr von Landwirtschaft als vom Waffengebrauch versteht. Er ist sicher, daß seine Leute ihn bald befreien werden, aber Heflin läßt sich nicht einschüchtern.

Die Zeit bis zum Eintreffen des Zuges dehnt sich. Ford und Heflin lernen sich besser kennen. Der Bandit rät dem Rancher dringend, ihn laufenzulassen, solange dafür noch Zeit ist. Heflin zeigt zwar gehörigen Respekt, bleibt aber bei der übernommenen Aufgabe. Er läßt auch keinen Zweifel daran, daß er sofort schießen würde, sollte Ford ihn angreifen oder zu fliehen versuchen. Das imponiert dem Banditen. Im Hotel sind noch der Chef der Postkutschenlinie und ein Trunkenbold, der nur auf eine solche Chance gewartet hat, sich zu bewähren. Die bekommt er aber nicht (dieses Motiv gibt es auch in „High Noon“). Andere Stadtbewohner scheuen die bevorstehende Schießerei und suchen das Weite.

Der Bruder des ermordeten Kutschers will sich an Ford rächen und dringt in das Hotelzimmer ein. Heflin verhindert einen Lynchmord. Durch einen verirrten Schuß erfährt die Bande, die inzwischen ihren Boß sucht, wo er sich befindet. Aus dem Hotelfenster erklärt Ford ihnen die Lage. Sie versichern, Heflin werde es mit ihm nicht bis zum Bahnhof schaffen. Kurz bevor der Zug eintrifft, verlassen Heflin und Ford das Hotel. Er drückt ihm seinen Gewehrlauf in den Rücken und benutzt Ford so geschickt als lebenden Schutzschild, daß die Bande nicht eingreifen kann. Am Bahndamm spitzt sich die Situation zu, und Heflin verliert die Kontrolle. Die Banditen wollen die letzte Chance nutzen, ihn zu erledigen, aber Ford springt auf den anfahrenden Zug, zieht Heflin mit sich und rettet ihm so das Leben. Damit Heflin seine Belohnung bekommt, ist er bereit, sich vor Gericht stellen zu lassen. Zudem beginnt es zu regnen – die Ranch ist gerettet.

Dramaturgisch kann es „3:10 to Yuma“ in meinen Augen mit „High Noon“ aufnehmen. Der Western gewinnt zudem durch seine ungewöhnlichen Hauptfiguren. Anders als bei Hawks steht hier kein Profi im Mittelpunkt, weshalb der Zuschauer mit Van Heflin mehr bangt. Glenn Ford seinerseits macht eine interessante Entwicklung durch. Vom kaltblütig-zynischen Gangster wandelt er sich zu einer beinahe positiven Figur. Der Film ist makellos inszeniert und fotografiert (schwarzweiß). Delmer Daves ist meines Wissens nie als Meisterregisseur anerkannt worden und war wohl auch eher ein Handwerker, der zuverlässig Filme unterschiedlicher Genres drehte. Aber auch wenn ich sein Gesamtwerk nicht kenne, denke ich, er stand Kollegen wie Hitchcock kaum nach.


Alle Zeitangaben in WEZ +2. Es ist jetzt 03:06 Uhr.

Powered by vBulletin® Version 3.8.7 (Deutsch)
Copyright ©2000 - 2024, Jelsoft Enterprises Ltd.
Copyright: www.sammlerforen.net