• Jetzt kommt der Rest von Buster Keaton, jedenfalls was ich von ihm auf Video habe. Es sind die ersten beiden Filme, die Keaton für die MGM gemacht hat, zugleich seine letzten beiden Stummfilme. Ich beginne mit „Der Kameramann“ (1928) von Edward Sedgwick und Buster Keaton. Leider hat das ZDF damals (das war offenbar 1991, denn der Bundestag beschloss da laut einem Nachrichtenclip, Berlin zur Bundeshauptstadt zu machen) keine gute Kopie ausgestrahlt – sie war sehr dunkel und teils auch grieselig. Bei youtube gibt es restaurierte Fassungen, allerdings nicht mit deutschen Zwischentiteln.

    Mit Regisseur Sedgwick, den er von früher kannte, kam Keaton gut klar; Clyde Bruckman, mit dem er ebenfalls schon zusammengearbeitet hatte, war am Drehbuch beteiligt. Laut der englischen wikipedia schrieben insgesamt 22 Autoren an diesem Drehbuch, aber es scheint, als hätte Keaton das Skript wenig beachtet und noch viel improvisiert. Deshalb wird er als zweiter Regisseur geführt. Die Story besteht aus drei nur wenig miteinander verbundenen Teilen. Buster ist zu Anfang Porträtfotograf, der bei einer Parade die wunderschöne Marceline Day kennenlernt, der er augenblicklich verfallen ist, die aber noch mehr Verehrer hat. Es gelingt ihm, sie in einem Büro aufzuspüren – die Firma ist ausgerechnet „MGM News Reel“, wo aktuelle Filme für die Kinowochenschau gedreht werden. Nur um ihr nahe sein zu können, vertauscht er seine Foto- mit einer Filmkamera. Seine ersten Probefilme für die Firma erweisen sich allerdings als Fiasko (alles ist mehrfach belichtet – was Salvador Dali vermutlich gefallen hätte).

    Buster will eine zweite Chance. Zumindest gelingt es ihm vorerst, sich mit Day am Sonntag zu verabreden. Sie gehen gemeinsam ins Schwimmbad, wo erneut eine Menge schief geht. Obwohl es stattlichere und gutaussehendere Männer gibt, die sich um sie bemühen, hält sie aber zu ihm. Im dritten Teil des Films erhält Buster seine Chance – er wird zu einem Straßenfest in Chinatown geschickt. Allen außer ihm ist klar, daß dort ein blutiger Bandenkrieg droht. Deshalb will den Job sonst niemand übernehmen. Buster, der die Gefahr nicht bemerkt, filmt als einziger eifrig den Krieg der Gangs. Als er zur MGM zurückkehrt, stellt sich jedoch heraus, daß er vergessen hat, eine Filmrolle einzulegen. Auch Day geht nun lieber mit einem anderen Typen zum Motorbootfahren. Buster ist allerdings mit einem Ruderboot in der Nähe. Als das Motorboot kentert, rettet er Day. Den Ruhm heimst sein Rivale ein, der sie in Wahrheit ihrem Schicksal überlassen hatte. Ein Äffchen, das Buster zugelaufen ist, hat jedoch die ganze Aktion gefilmt. Zudem stellt sich heraus, daß auf dieser Filmcassette auch seine Aufnahmen vom Bandenkrieg drauf sind. Für die spektakulären Bilder aus Chinatown erntet Buster bei MGM News Reel höchstes Lob, und Day erkennt, wer sie wirklich aus dem Wasser gezogen hat. Wieder gibt es eine große Straßenparade – Buster denkt, wegen ihm. Es wird aber Charles Lindbergh für seine Atlantiküberquerung gefeiert.

    „Der Kameramann“ ist insgesamt ziemlich witzig. Die Figur Buster hat sich leicht verändert. War er bisher jemand, der traumwandlerisch alle Gefahren meisterte, wird er nun eher zum Tolpatsch, der nur versehentlich sein Ziel erreicht. Er wird in zahlreichen Massenszenen herumgestoßen und über den Haufen gerannt. Waghalsige Stunts von ihm sieht man kaum noch (nur einmal klettert er an einem fahrenden Bus herum, um seinem Mädchen nahe sein zu können). MGM erlaubte nicht, daß er sich einem Verletzungsrisiko aussetzte, und die Stunts, die er ausführte, konnte ihm kein Double abnehmen. Aber seine Figur ist noch erkennbar, zumal es sich hier noch immer um stummen Slapstick handelt. Mir gefällt auch Marceline Day als leading lady recht gut, mit der er aber offenbar nur dieses eine Mal zusammengearbeitet hat.

    Es war in gewissem Sinn perfide, daß Keatons Abstieg, nachdem er durch den verlustreichen Film „The General“ seine eigene Produktionsgesellschaft und sein Studio verloren hatte, langsam und schleichend vor sich ging. Beim „Kameramann“ hatte er noch vieles selbst in der Hand, und der Film war zwar kein Kassenknüller, aber nach wie vor einträglich. Keaton war zu dieser Zeit einer der bestverdienenden Stars bei MGM. Aber er sank, besonders in der Tonfilmzeit, zunehmend zum bloßen Angestellten herab, dessen kreative Leistungen nicht mehr gefragt waren und der immer mehr in die Filmrolle eines Deppen gedrängt wurde (insbesondere als Partner von Jimmy Durante). Man kann sich also diesen Film mit einer gewissen Wehmut ansehen.

  • Der zweite Keaton-Film ist „Trotzheirat“ (1929) von Edward Sedgwick, diesmal mit guter Bildqualität. Er hat, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, ziemlich Eindruck auf mich gemacht. Ich finde ihn immer noch sehr gut gemacht, aber wenn ich ihn mit den Werken aus Keatons Glanzzeit vergleiche, habe ich doch gemischte Gefühle. Im Vergleich zum „Kameramann“ passiert in dieser Komödie sehr viel. Es gibt melodramatische Elemente, Slapstick und sogar am Ende einige Action. Aber man hätte den Film zu großen Teilen auch mit einem anderen Schauspieler machen können (ich weiß natürlich nicht, wer Ende der 1920er Jahre sonst so einen sympathischen Versager spielen konnte). Keaton hat seine originäre Kunst hier schon ein ganzes Stück hinter sich gelassen – vielleicht dachte er zu dieser Zeit, das müsse so sein, und er müsse sich eben dem geänderten Publikumsgeschmack anpassen.

    Zu Kosten und Einspielergebnis von „Trotzheirat“ habe ich nur indirekte Hinweise gefunden. Laut der englischen wikipedia hätte Keaton den Film gern bereits als talkie gedreht, aber MGM entschied sich dagegen, weil die Tonaufnahmen zu dieser Zeit noch sehr teuer waren und es an Ausrüstung fehlte. Nur ein paar Geräuscheffekte wurden eingebaut. Der Erfolg kann trotz dieses Mankos nicht schlecht gewesen sein, denn wikipedia berichtet, das Publikum hätte sich vor Lachen kaum eingekriegt und auch die Kritik habe die originelle Komik gelobt. Diese Komik kam aber weniger von Keatons Performance als von einem ausgefeilten Drehbuch. Die vielen verrückten Verwicklungen waren für Keaton untypisch, und das bedeutet, er hatte diesmal auch wenig Raum, um zu improvisieren.

    Die Story: Dorothy Sebastian ist eine gefeierte, aber höchst launische Theaterdiva. Sie ist tief gekränkt, als ihr Bühnenpartner, mit dem sie privat schon lange liiert ist, sie wegen einer anderen Schauspielerin verläßt. Seit einiger Zeit ist Sebastian bereits aufgefallen, daß ein Mann aus dem Publikum (Keaton) offenbar ihr größter Fan ist. Er hat sogar als Statist bei einer Aufführung mitgewirkt, aber durch seine Trotteligkeit das Bürgerkriegs-Drama in eine Farce verwandelt. Nur aus Trotz verkündet sie, sie werde ihn auf der Stelle heiraten. Was sie auch tut – bisher hat sie ihn immer völlig ignoriert. Der verblüffte Keaton, Inhaber einer kleinen Reinigung, ist natürlich einverstanden. Unmittelbar nach der Trauung muß er jedoch erkennen, daß ihr an ihm gar nichts liegt und sie sich mit ihm auch nicht darüber hinwegtrösten kann, von ihrem Freund sitzengelassen worden zu sein. Am Abend betrinkt sie sich sinnlos, und er muß die Hochzeitsnacht damit verbringen, sie (die sich im Delirium tremens befindet) irgendwie ins Bett zu bekommen.

    Am nächsten Morgen wird gleich ihr Management bei ihm vorstellig. Man will, daß er sie verläßt, damit sie sich ohne Schaden für ihr Image von ihm scheiden lassen kann. Keaton will da nicht mitspielen. Es kommt zum Streit, er wird handgreiflich und muß vor der Polizei fliehen. Dabei gerät er auf ein Schmugglerschiff. Mit den Banditen will er freilich nichts zu tun haben. Er wechselt nach einigen Tagen auf eine vorbeikommende Yacht. Darauf findet eine Party der High Society statt – dabei ist auch Theaterstar Sebastian. Als auf der Yacht Feuer ausbricht, verlassen alle in Panik das Schiff – Keaton und Sebastian bleiben allein zurück. Er hat über Nacht mühevoll das Feuer gelöscht, sie hat alles verschlafen. Dummerweise taucht das Schmugglerschiff wieder auf. Man lädt die Hehlerware auf die Yacht um und nimmt das Luxusschiff in Besitz. Aber Keaton gelingt es, die Schmuggler einen nach dem anderen außer Gefecht zu setzen. Ihr Boß will Sebastian Gewalt antun. Keaton muß mit ihm auf Leben und Tod kämpfen. Zwar ist er kleiner und schwächer, aber auch zäher und besiegt den Gangster schließlich. Zurück im Hafen verabschiedet er sich ganz schüchtern von Sebastian: „Hat mich gefreut, dich mal wiedergesehen zu haben.“ Aber sie fällt ihm um den Hals: „Von jetzt an wirst du mich viel öfter sehen!“ Na super!

    Man sieht, das ist kein typischer Keaton-Film. Es gibt zwar wieder ein paar halsbrecherische Aktionen (die im „Kameramann“ weitgehend fehlten), aber die konnten auch Stuntleute ausführen. Bezeichnend: Buster Keaton heißt nicht mehr Buster, sondern Elmer. Er ist jetzt wirklich zu einem über weite Strecken ungeschickten Trottel geworden. Ironischerweise mochte Keaton diesen Rollennamen, den er in etlichen Filmen behielt. Sein Hund hieß so, und er konnte sich den Namen auch für sich gut vorstellen. Er war bereit, sich anzupassen. Aber er konnte es auf Dauer nicht ertragen, sich in seine Filme nicht mehr einbringen zu können und nur noch streng nach Drehbuch agieren zu dürfen. Mitunter wird er auch bei diesem Film noch als zweiter Regisseur angegeben, aber ich denke, hier führt nur Sedgwick Regie.

    Mich hat immer die einseitige Liebe, die hier vorgeführt wird, berührt. Dorothy Sebastian spielt ihren Part so, daß sie – bis auf die letzten Minuten – recht unsympathisch wirkt. Wie sie ihren Mann verachtet, ihre schlechte Laune an ihm ausläßt und ihn herumstößt, finde ich ziemlich extrem. Ihren Part als Alkoholleiche spielt sie sehr gut (da war einiges akrobatisches Können nötig). Naja, da das alles nichts mit Sex zu tun hat, brauchte man nichts abzumildern. Doch hier kommt anscheinend auch eine bittere Ironie ins Spiel: Keaton und Sebastian waren nach diesem Film persönlich befreundet und trafen sich öfters, um sich gemeinsam zu betrinken. Warum das? Sebastian winkte nach „Trotzheirat“ eine Karriere als Komödiantin, aber sie ging von MGM weg. Ohne es zu wissen, kam sie dadurch auf eine schwarze Liste Hollywoods und bekam keine größeren Rollen mehr. Keaton, der bei MGM blieb, erging es freilich nicht unbedingt besser.

  • Noch ein Stummfilm, dann wende ich mich wieder etwas neueren Filmen zu. „Die Austernprinzessin“ (1919) von Ernst Lubitsch ist sozusagen von neulich übriggeblieben, als ich seine Version von „Die lustige Witwe“ besprochen habe. Anfang der 1990er Jahre gab es auch mal eine Lubitsch-Filmreihe im dritten Programm, daher fiel es nicht schwer, die Cassette mit einem weiteren Lubitsch-Film aufzufüllen. Man könnte meinen, „Die Austernprinzessin“ sei ein Frühwerk von Lubitsch, aber er war da schon sechs Jahre im Filmgeschäft, und es war sein 25. Film. Es ist eine stark stilisierte Groteske; interessant ist weniger der Komödienstoff als der Inszenierungsstil.

    Victor Jansen ist der Austernkönig, ein märchenhaft reicher amerikanischer Geschäftsmann. Seine Tochter, Ossi Oswalda, hat gerade einen Tobsuchtsanfall, denn eine Rivalin, die Tochter des Schuhcremekönigs, hat soeben einen Grafen geheiratet, aber sie ist noch solo. Daddy verspricht, ihr einen Prinzen zu besorgen. Ein Heiratsvermittler wird engagiert, dessen gesamtes Büro mit Fotos von Junggesellen tapeziert ist. Er findet einen Prinzen (Harry Liedtke). Der haust allerdings in einem Dachkämmerchen und ist völlig mittellos. Trotzdem tut er sehr vornehm und schickt erstmal seinen „Adjutanten“ (Julius Falkenstein), sich die Kandidatin anzusehen. Obwohl man im Hause des Austernkönigs den Abgesandten für den Prinzen hält, muß er vorerst eine ganze Weile warten. Er vertreibt sich die Zeit, indem er das Rosettenmuster auf dem Fußboden abgeht. Als Oswalda, frisch gebadet, schließlich erscheint, fackelt sie nicht lange und nimmt Falkenstein gleich mit zur Trauung.

    Nachdem ihr Vater informiert ist, daß sie nun einen Gatten hat, findet eine improvisierte, gleichwohl ausufernde Hochzeitsfeier statt. Währenddessen muß sich Liedtke, der echte Prinz, in seinem Verschlag mit einem sauren Hering begnügen. Aber Freunde holen ihn zu einer Sauftour ab. Falkenstein hat sich derweil beim Hochzeitsfest vollaufen lassen. Oswalda und er verbringen daher ihre erste Nacht in getrennten Zimmern. Inzwischen ist auch Liedtke sternhagelblau. Er gerät in ein Abstinenzlerinnen-Treffen im Haus des Austernkönigs. Oswalda, selbst Mitglied dieses Damenclubs, beschließt, ihm persönlich eine Entziehungskur angedeihen zu lassen. Noch weiß sie nicht, daß das ihr echter Prinz ist, aber Falkenstein klärt das schnell auf. Liedtke ist ihr auch viel sympathischer. Lubitsch läßt den Film enden, indem er die beiden im Bett zeigt. Das dient aber nur der Schlußpointe. Der Austernkönig, dessen Lieblingsspruch bisher lautete: „Das imponiert mir gar nicht“, blickt durchs Schlüsselloch und sagt zum Publikum gewandt: „Das imponiert mir!“

    Man sieht, die Handlung des Films (immerhin von dem bekannten Autor Hanns Kräly) ist nicht sehr gewitzt. Lubitsch verwendet alle Sorgfalt auf die einzelne Szene, entweder um seine grotesken Figuren vorzuführen oder um den Raum fantasievoll zu inszenieren. Der Austernkönig wird immerzu von einem Ballett von Bediensteten umschwänzelt. Und wie ein Ballett wirkt es auch, wenn sich jemand durch seinen gewaltigen Palast bewegt oder etwa Liedtke mit seinen Zechbrüdern besoffen einen Park durchquert. In „Klassiker des deutschen Stummfilms“ wird „Die Austernprinzessin“ wegen der großen Bedeutung des Bilds auf die gleiche Stufe wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ gehoben. Die Kritiker haben den Film oft als primitiv und geschmacklos abgetan, aber das Publikum hat ihn vermutlich mehr geliebt als den „Caligari“.

    Man merkt das auch daran, daß hier einige Schauspieler zu sehen sind, die sich später im deutschen Film einen Namen gemacht haben. Ossi Oswalda kennt man zwar heute nicht mehr, aber sie war bis in die Tonfilmzeit hinein sehr beliebt und galt als „der Backfisch“ des deutschen Films. Sie war verzogen, launisch, impulsiv, aber auf eine weit sympathischere Art als Dorothy Sebastian, von der letztes Mal die Rede war. Harry Liedtke war bis zu seinem Tod am Ende des Zweiten Weltkriegs eine feste Größe im deutschen Film, und auch Victor Jansen und Julius Falkenstein waren den Kino- und Theatergängern der 20er und 30er Jahre ein Begriff. Bekannt ist außerdem Curt (damals noch Kurt) Bois, der eine kleinere Rolle als Kapellmeister bei der Hochzeitsfeier spielt – da denkt man jedoch, die wilden Zwanziger hätten schon begonnen. Das zeigt, daß es schon etwas bedeutete, bei Lubitsch engagiert zu sein und in einem solchen Film mitzuwirken.

    Mir ging noch durch den Kopf: Dieser Film entstand kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als Deutschland ins Chaos stürzte: Wirtschaftskrise, Hyperinflation, Anfänge einer labilen Demokratie, politischer Extremismus. Bildet sich das in der „Austernprinzessin“ ab? Vielleicht. Zunächst denke ich: Diese Komödie sollte vom Grauen des Kriegs und der Katastrophe der Niederlage ablenken, die Leute mal wieder unbeschwert zum Lachen bringen. Aber man sieht hier auch eine aus den Fugen geratene Welt – Adel, der nichts mehr bedeutet, und Kapitalisten, deren Reichtum jedes Vorstellungsvermögen sprengt. Frauen, die außer Rand und Band sind… Irgendwie konnte ein solcher Film wohl wirklich nur in dieser Zeit gedreht werden.

  • Jetzt zweimal Film im Film. Wieder habe ich zwei Filme aufgenommen, die ein ähnliches Thema behandeln. Es sind Huldigungen an das Science Fiction- und Horror-B-Kino der 1950er und 60er Jahre. Der erste ist nicht so bekannt geworden und auch in meinen Augen nicht ganz geglückt: „Matinee“ (1993) von Joe Dante. Dante ist vor allem bekannt für seine „Gremlins“-Filme. Hier wirft er einen nostalgischen Blick auf das Kino seiner Jugend, in dem offenbar das Werk des Schock-Regisseurs William Castle eine besondere Rolle spielte. Als jemand, der erst etwa 15 Jahre später ins Kino ging (und das auch nur in Deutschland), kann ich nicht beurteilen, inwiefern Dante diese amerikanische Jugendkultur authentisch einfängt.

    Castle wird verkörpert von John Goodman, wird also ein wenig zu einer Komödienfigur. Er ist spezialisiert auf Monsterfilme, die er in Florida selbst Kinoketten anbietet und so vermarktet. Im Jahr 1962 feiert sein neuestes Werk, „Mant“, über einen Mann, der durch radioaktive Strahlung (X-Rays) in ein Ameisenwesen verwandelt wird und Amok läuft, Premiere. Es ist zugleich die Zeit der Kubakrise – die Sowjetunion droht, Atomwaffen auf Kuba zu stationieren, was speziell in Florida Ängste vor einem bevorstehenden Atomkrieg auslöst. Dante zeigt hier sehr schön, wie die Atomgefahr einerseits zu lächerlichen Sicherheitsvorkehrungen („duck and cover“) führt, andererseits in der Popkultur faszinierende Blüten treibt (eine davon waren auch die Marvel-Superheldencomics).

    Goodman will zumindest die erste Vorstellung in einem Kino auf Key West mit Gruseleffekten (kleinen Elektroschocks, Erschütterungen im Saal und einem verkleideten Ameisenwesen) aufpeppen, die er selbst überwacht. In jeder Vorstellung wird es das sicher nicht gegeben haben. Leute aus dem Teenagerpublikum erleben gerade die erste Liebe. Ein Junge (Omri Katz) muß seine neueste Flamme (Kellie Martin) aufgeben, weil ihr einige Jahre älterer früherer Freund (James Villemaire) ihm Prügel androht. Ein anderer Junge (Simon Fenton), dessen Vater gerade mit der US-Navy vor Kuba operiert, freundet sich zögernd mit einem pazifistischen Mädchen (Lisa Jakub) an. Villemaire, der im Kino den Ameisenmann gibt, flippt aus, als er Katz und Martin zusammen in der Vorstellung erwischt. Es kommt zu einer Panik (was Goodman nur recht ist). Fenton und Jakub geraten dabei in einen Schutzraum im Keller, in dem sie eingeschlossen werden. Sie werden jedoch befreit. Villemaire wird von der Polizei in Gewahrsam genommen. Dante vermischt hier recht geschickt den Horror auf der Leinwand mit dem realen Schrecken im Kino und der beständigen Angst, soeben könnte der Atomkrieg begonnen haben. Am Ende des Films ziehen sich die Sowjets allerdings aus der Kubaregion zurück – die Gefahr des Dritten Weltkriegs ist abgewendet. Goodman wird freilich sein Geschäft mit der Angst weiter betreiben.

    Dante, der sein Handwerk bei Roger Corman gelernt hat, hatte hier ein ziemlich großes Budget (16 Millionen Dollar) zur Verfügung, um damit die Welt seiner Jugend (Geburtsdatum 1946) wieder erstehen zu lassen. Und dabei verzettelt er sich nach meinem Geschmack etwas. Die Handlung nimmt erst in der zweiten Hälfte des Films Fahrt auf. Für mich gibt es daneben die Schwierigkeit, daß ich die Kultur des US-Popcornkinos der frühen 60er Jahre nicht kenne und nicht genau weiß, wo Dante zu übertreiben beginnt. Für mich ist es auch ungewöhnlich, daß ein Regisseur bei der Uraufführung seines Films im Kino anwesend ist und es hinterher als Erfolg feiern kann, daß 60 Kinos in Florida seinen Film zeigen wollen. „Matinee“ ist aber auf jeden Fall liebevoll gemacht. Für jemanden, der die Zeit selbst erlebt hat, wäre er sicher lohnender als für mich. Der Film spielte seine Kosten laut der englischen wikipedia nicht ein. Dante konnte sich aber mit fast ausnahmslos positiven Kritiken trösten.

  • Obwohl der Film in meiner Sammlung schlummert kann ich mich nicht mehr daran erinnern, schon mal nicht das beste Zeichen. Allerdings erinnere ich mich grundsätzlich daran das er nicht zu den schlechten zählt.
    Vielleicht sollte ich ihn mal wieder schauen wenn ich Zeit habe.

  • Ich habe einen Film von William Castle in meiner DVD-Sammlung: "Mörderisch". Ich habe ihn bisher nicht als interessanten Fall wahrgenommen. In meiner "seriösen" Filmliteratur kommt er nicht vor. Aber im "Lexikon des Horrorfilms" sind einige Filme von ihm verzeichnet: "Das alte finstere Haus", "Er kam nur nachts", "Es geschah um 8 Uhr 30" (!), "Das Haus auf dem Geisterhügel", "Macabre", "Schrei, wenn der Tingler kommt", "Das unheimliche Erbe", "Der unheimliche Mr. Sardonicus" und "Die Zwangsjacke".

    Castle begann als Drehbuchautor und Assistent bei Orson Welles. Er hat später seine Filme selbst vermarktet und in die Kinos gebracht. Deshalb hat er sich selbst ein Image als Gruselkönig verpaßt (gewissermaßen eine Billigversion von Alfred Hitchcock).

  • Nach Castle müsste ich bei mir mal stöbern, einige der genannten Tietel sind bekannt, hab ich schon mal gesehen, aber ich glaube ich habe von dem Mann nichts.

  • ...Castle begann als Drehbuchautor und Assistent bei Orson Welles. Er hat später seine Filme selbst vermarktet und in die Kinos gebracht. Deshalb hat er sich selbst ein Image als Gruselkönig verpaßt (gewissermaßen eine Billigversion von Alfred Hitchcock).

    Da muss ich dann doch mal was dazu schreiben und weil andere das viel treffender können, zitiere ich mal eine Passage aus einem Porträt über William Castle aus der Zeitschrift Virus " Early Screams Teil 2":

    Zitat

    ...Ende der 50er Jahre fasste Castle schließlich den Entschluss, selbst Filme zu produzieren. Er gründete sein eigenes Produktionsstudio und nahm eine Hypothek auf sein Haus auf, um seinen ersten eigenen Film "Macabre" (1958) produzieren zu können. In den vergangenen Jahren hatte Castle jedoch gelernt, dass es weitaus mehr als eines guten Films bedarf, um die Zuschauer ins Kino zu locken. Und so ließ sich Castle denn sein erstes Gimmick einfallen, das Zuschauer, die während des Films einen Herzanfall erleiden sollten, eine Summe von 1.000 Dollar garantierte. Die Idee sollte fruchten: Ob des Gimmicks strömten die Zuschauer in Scharen ins Kino, in der Erwartung den größten Schocker aller Zeiten zu erleben. Dem war zwar nicht so, aufgrund des Gimmicks blieb der Film dennoch in Erinnerung. und wurde zum Tagesgespräch.

    In den nächsten Jahren sollten weitere Gimmick-Filme folgen, darunter "Das Haus auf dem Geisterhügel" (1959), das mit dem Gimmick "Emargo" beworben wurde, bei den dem in ausgewählten Kinos ein Flaschenzug angebracht wurde, an dem an einer bestimmten Szene im Film, in der ein Skelett in Erscheinung trat, ein ebensolches über die Zuschauer hinwegschwebte und sich schließlich vor der Leinwand manifestierte. In "Schrei, wenn der Tingler kommt" (1959)präsentierte Castle "Percepto", ein Gimmick. für das vereinzelte vibrierende Sitze in Kinos installiert wurden, die so präpariert waren, dass sie, wann immer der Tingler auftauchte, zu vibrieren begannen. Das sollte dem Zuschauer das Gefühl vermitteln, dass der Tingler unter dem Sessel entlangkriecht. Für "Das unheimliche Erbe" entwickelte Castle "Illusion-O", eine Brille, die man an bestimmten Szenen des Films aufsetzen musste, um die Geister auf der Leinwand sichtbar zu machen.

    Die Filme waren so erfolgreich, dass sie sogar Alfred Hitchcock dazu inspirierten, einen ähnlichen Film zu schaffen. 1960 schuf Hitchcock "Psycho", auf den Castle wiederum mit "Mörderisch" (1961) reagierte. Generell lässt sich sagen, dass beide Filmemacher sich in der Art ihrer Selbstinszenierung sehr ähnlich waren. Sowohl Castle als auch Hitchcock traten nur zu gerne selbst vor die Kamera und rührten in Trailern zu ihren Filmen persönlich die Werbetrommel., indem sie den den Zuschauer direkt ansprachen. Castle ging sogar noch einen Schritt weiter und trat teilweise in kurzen Intros zu seinen Filmen in Erscheinung, in dem er die Zuschauer willkommen hieß.

    Nach "Mörderisch" war Castle längst einem breiterem Publikum bekannt, so dass er bald darauf seine Gimmick-Filme einstellte. Als letzter erschien im Jahre 1961 "Der unheimliche Mr.Sardonicus", für den er den Punishment Poll" kreierte. Dabei wurde der Film kurz vor dem Ende angehalten und die Zuschaer konnten mit Hilfe von Schildern abstimmen, ob der Schurke im Film bestraft werden oder entkommen sollte. Die Stimmen wurden zwar gezählt, tatsächlich aber hatte Castle nur ein Ende gedreht, da ihm klar war, dass sich alle Besucher für das "böse" Ende entscheiden würden. Ein netter Gag war es dennoch...

    Ich zitiere das so ausführlich, weil ich finde das die Klassifizierung Castles als "Billigversion von Alfred Hitchcock" nicht angebracht ist und sie ihn sehr abwertet. Castle hatte viele neue innovative Ideen, die so wohl noch keiner vorher ins Kino einbrachte und hat sein Ding durchgezogen. :top:

    Seine beiden Filme "Schrei, wenn der Tingler kommt" und "Er kam nur nachts", habe ich erst vor kurzem gesehen. Keine Meisterwerke, aber gut gemacht und unterhaltend allemal. Im eigentlich s/w Tingler gibt es sogar eine Farbsequenz (Blut aus dem Wasserhahn, dass ins Waschbecken läuft, eine mit Blut gefüllte Badewanne aus der sich eine blutüberströmte Gestalt erhebt). Gab es sowas vorher schon mal irgendwo? "Macabre habe ich schon vor langer Zeit mal gesehen. Im Booklet zur DVD ist eine Kopie der Versicherungspolice über die 1.000 Dollar bei Tod durch Herzversagens während des Schauens des Film im Kino zu sehen (die aber nicht in Kraft tritt, wenn festgestellt wird, dass der Verstorbene bereits vorher an Herzerkrankungen litt). "Es geschah um 8:30 Uhr" (Originaltitel: I saw what you did) liegt hier noch ungeguckt bei mir rum und ich freu mich drauf. ;)

    "Matinee" habe ich ebenfalls erst vor kurzem gesehen und mir hat er recht gut gefallen.

  • Danke für die ausführlichen Ergänzungen.

    Mir ging es nicht darum, Castle abzuwerten. Aber er hat sich doch eindeutig weniger in die Filmgeschichte eingeschrieben als Hitchcock. Vielleicht wäre es anders, wenn die französischen Cineasten wie Truffaut oder Chabrol Castle zum großen Künstler erklärt hätten und nicht Hitchcock. Aber es scheint doch so zu sein, daß Hitchcocks Filme mehr Substanz haben und nicht nur ein geschickt gemachter Nervenkitzel sind.

  • Vielleicht hat der eine oder andere von Euch schon geahnt, was jetzt kommt: „Ed Wood“ (1994) von Tim Burton. Im ersten Moment denkt man an ein Biopic, aber Burton beschränkt sich nicht nur auf die Zeit des „schlechtesten Regisseurs der Filmgeschichte“ zwischen seinen Filmen „Glen or Glenda“ und „Plan 9 from outer Space“, sondern ironisiert seinen Kampf um die Verwirklichung seiner Ideen oder wenigstens um die Produktion eines Kinowerks, das Gewinn abwirft, kräftig. „Ed Wood“ teilt mit Joe Dantes „Matinee“ das Schicksal, daß er (zumindest in USA) seine Kosten nicht einspielte. Aber es ist ein Film geworden, an den man sich erinnert und der nicht nur Kritikerlob erhielt, sondern auch eine Menge Preise. Ich finde: zu Recht. Dennoch hinterläßt er bei mir ein wenig ein schlechtes Gefühl, denn er legt nahe, daß die Filmkunst oder doch jedenfalls das Filmgeschäft womöglich nichts als ein großer Betrug am Zuschauer ist.

    Burton interessiert sich offenbar nicht dafür, was für ein Filmemacher Edward D. Wood jr. (1924 – 1978) gewesen ist. In „Ed Wood“ porträtiert er ihn als Filmbesessenen, der aber entweder kein Geld hatte oder von seinen Geldgebern zu absurden Änderungen an seinen Filmen gezwungen wurde. Auch wenn Wood ein handwerklich durchschnittlicher oder sogar guter Regisseur gewesen wäre, hätte er unter diesen Bedingungen schwerlich einen guten Film zustandebekommen können. Hinzu kommt, daß er in den 1950er Jahren arbeitete, als ziemlich hirnrissige Science Fiction- oder Monsterfilme angesagt waren, und natürlich unterwarf er sich dem Publikumsgeschmack – nur „Glen or Glenda“ scheint ein Film mit autobiografischen Bezügen und einer persönlichen Aussage zu sein. Ich habe ihn allerdings nie gesehen.

    Viel von der Story habe ich jetzt schon vorweggenommen. Wood, gespielt von Johnny Depp, war Transvestit; er liebte es, heimlich Frauenkleider zu tragen, vor allem Angorapullover. Seine Freundin (Sarah Jessica Parker) ahnt davon nichts, wundert sich nur, warum immerzu Wäschestücke von ihr verschwinden. Als ein windiger Produzent einen Film über eine Geschlechtsumwandlung plant, sieht er die Chance, diesen Film zu realisieren. Parker wird endlich in seine geheime Leidenschaft eingeweiht, die aber in Kürze auf der großen Leinwand „ausgeplaudert“ werden soll. Sie wird damit nicht fertig. Als er aus finanziellen Gründen ihr die weibliche Hauptrolle wegnimmt und einer anderen (Juliet Landau) gibt, verläßt sie ihn schließlich. Der Film läuft nur in der Provinz und wird ein geschäftliches Desaster, das den Produzenten in die Pleite treibt.

    Wood sieht längst eine neue Chance für den großen Durchbruch: Er hat nämlich Bela Lugosi (Martin Landau, im wirklichen Leben der Vater von Juliet) kennengelernt, der freilich alt und morphiumsüchtig und trotz seiner legendären Dracula-Rolle bei Universal beinahe vergessen ist. Jetzt soll er zum Superstar eines Wood-Horrorfilms werden, und der Regisseur schafft es, weitere Halbberühmtheiten an Land zu ziehen: den Catcher Tor Johnson (George Steele) und die TV-Moderatorin „Vampira“ (echter Name Maila Nurmi, im Film Lisa Marie). Sein nächster Film, „Bride of the Monster“, hat wieder große Finanzierungsprobleme und erlebt eine chaotische Premiere mit einem völlig ausgeflippten jugendlichen Publikum.

    Tim Burton geht schnell zu Woods bekanntestem Film, „Plan 9 from outer Space“, weiter, der einmal zum schlechtesten Film aller Zeiten gewählt wurde und insofern heute Kultstatus genießt. Produziert wurde er übrigens von einer Baptistengemeinde in Beverly Hills, der er vormachte, mit dem Gewinn von „Plan 9“ könne sie eine Reihe frommer Filme drehen. Ähnlich wie Edgar Ulmer, mit dem wir uns hier schon einmal beschäftigt haben, hatte Wood immer nur eine Handvoll Drehtage und mußte beim Drehen jede Menge Kompromisse eingehen. Als Lugosi während der Dreharbeiten stirbt, engagiert man ein Double, das ihm nur mäßig ähnlich sieht und immer seinen Umhang vors Gesicht halten muß. Wood drehte eine Szene niemals zweimal, weil er dafür weder Zeit noch Geld hatte. Burton zeigt ihn als einen Mann von unerschütterlichem Optimismus, der überzeugt ist, daß ihm trotz aller Widrigkeiten ein phänomenaler Film gelingen wird. Zumindest im Privatleben erlebt er ein kleines Glück: Er lernt eine Frau (Patricia Arquette) kennen, die nichts gegen seinen Verkleidungstick einzuwenden hat und so wie er unerschütterlich an seinen künstlerischen Durchbruch glaubt. Im wirklichen Leben blieb sie mit ihm bis zu seinem Tod zusammen.

    Sehr komisch ist übrigens Woods Begegnung mit seinem großen Vorbild, Orson Welles, in einer billigen Kneipe. Sie stellen fest, daß sie beide mit den gleichen Schwierigkeiten kämpfen: nämlich Geld für ihre Filme aufzutreiben. Burton läßt Ed Wood eine gewisse Würde, indem er den Film mit seinem „größten Erfolg“, der Premiere des schlechtesten Films aller Zeiten, enden läßt. Wood konnte später mühelos noch viel tiefer sinken, indem er an der Produktion minderwertiger Sexfilmchen mitwirkte. Ich gestehe, ich habe „Ed Wood“ wieder mal mit großem Vergnügen gesehen. Ich hatte einige Szenen noch gut im Gedächtnis. Dieses Schmieren-Hollywood reizt mich zum Lachen. Ich habe beim Ansehen freilich nicht viel darüber nachgedacht, ob wir hier nur den absoluten Bodensatz der Traumfabrik sehen oder ob es in Hollywood vielleicht eine größere Gruppe von Filmemachern, Filmsternchen, abgehalfterten Stars und halbseidenen Produzenten gibt, die auf die gleiche Weise arbeiten – arbeiten müssen. Und wie viele Filme habe ich schon gesehen, von deren Hollywood-Glanz ich mich habe in die Irre führen lassen?

    Noch ein Hinweis: Das „Buch zum Film“ von Rudolph Grey (Heyne, 1995) ist gar kein Buch zum Film, sondern eine Materialsammlung über Ed Wood mit chronologisch geordneten Interview-Aussagen von Leuten, die ihn persönlich gekannt haben, plus biografischen Daten und Werkverzeichnis. Sehr empfehlenswert.

  • Ich liebe diesen Film. So wunderbar skurril. Martin Landau wurde zurecht mit dem Oscar seiner Darstellung Lugosis geehrt. Bill Murray als Bunny ist auch stark aber auch vor allem Jeffrey Jones als Criswell wird m.M.n. allgemein viel zu selten lobend erwähnt.

  • Gestern abend konnte ich nicht digitalisieren, weil ich einen Film geguckt habe. Wie bitte? Ja, nach längerer Zeit mal wieder nicht am Schreibtisch, sondern in einem Saal mit großer Leinwand. Es lief „Tartüff“ (1925) von Friedrich Wilhelm Murnau mit Live-Orgelbegleitung. Einen praktisch 100 Jahre alten Stummfilm in guter Bildqualität zu sehen, begleitet von einer Profi-Organistin, lohnt immer. Es ist kein überragender, aber immerhin ein guter Film mit sehr guten und auch heute noch namhaften Schauspielern, und ich finde es durchaus interessant, wie Murnau den Theaterstoff von Moliere, der ihm nicht besonders lag, verarbeitet hat. Zu dieser Zeit wollte er schon den „Faust“ drehen, der dann ganz anders wurde, aber die UFA hatte bereits Emil Jannings unter Vertrag genommen, deshalb mußte der Film gemacht werden.

    Zwei Dinge fallen auf: Murnau überträgt das Thema der religiösen Heuchelei durch eine Rahmenhandlung in die Gegenwart. Und die Moliere-Komödie wird stark vereinfacht, damit die Schauspieler ihre Figuren allein durch ihr Mienenspiel, Körperhaltungen und Bewegungen deutlich machen können. Dadurch wirkt der Film allerdings auch sehr langsam, Er bildet geradezu einen Gegenpol zu dem extrem schnell geschnittenen Standard-Actionfilm von heute. Zur Rahmenhandlung: Ein junger Mann (Andre Mattoni) will seinen Vater besuchen, aber der verübelt ihm, daß er keinen seriösen Beruf ergriffen hat, sondern Schauspieler geworden ist, und wirft ihn gleich hinaus. (Das hat Murnau übrigens mit seinem eigenen Vater selbst erlebt.) Mattoni bemerkt allerdings, daß sein Vater unter dem Einfluß seiner Haushälterin (Rosa Valetti) steht, die auf sein Vermögen scharf ist und, sobald das Testament geändert ist, ihn langsam vergiftet. Als Betreiber eines Wanderkinos verkleidet kehrt der Sohn zurück und führt den beiden den Film „Tartüff“ vor (erneut ein Film im Film).

    In dem Film hat der scheinheilige, aber sehr charismatische Jannings die Kontrolle über den wohlhabenden Bürger Werner Krauß gewonnen. Von seiner Frau (Lil Dagover) will Krauß nichts mehr wissen, sondern sein Leben nun ganz frommen Übungen weihen. Sie und ihre Zofe (Lucie Höflich) mutmaßen, daß es Jannings mit Krauß nicht ehrlich meint. Dagover beschließt, den Tartüff zu verführen, damit er sein wahres Gesicht zeigt. Widerstrebend stimmt Krauß zu, hinter einem Vorhang verborgen die Probe zu verfolgen. Jannings bemerkt die Falle jedoch und vertieft sich im letzten Moment wieder in sein Brevier. Dagover unternimmt einen zweiten Versuch: Während Krauß dabei ist, sein Testament zu ändern, und alles Tartüff („für die Armen“) vermachen will, bittet sie ihn in ihr Schlafzimmer. Diesmal ist Jannings unvorsichtig, beginnt sofort, Dagover betrunken zu machen, und erklärt, heimliche Sünden seien gar keine Sünden. Krauß hat alles durchs Schlüsselloch verfolgt und jagt Jannings davon. Am Ende des Films gibt sich Mattoni zu erkennen und beschuldigt Valetti, ebenso abgefeimt zu sein. Der Beweis ist ihre Giftflasche. Auch Valetti muß das Feld räumen.

    Ich denke, in Frankreich hätte der „Tartuffe“ in einem Film nicht so stark vereinfacht werden dürfen. Murnaus Film hat eine ganz simple Moral, die aber kunstvoll herausgearbeitet wird. Auch der Inszenierungsstil, Lichtwirkungen und Kulissen tragen maßgeblich dazu bei. Wenn man aber bedenkt, daß die Haushälterin den alten Mann jahrelang treu gepflegt hat, während der Sohn offenbar nach langer Zeit mal wieder zurückkehrt, aber selbstverständlich Anspruch auf das gesamte Erbe erhebt, sieht die Sache etwas anders aus. Würde der Vater nicht vergiftet, wäre der Fall in meinen Augen keineswegs so klar. Trotzdem: Die filmischen Mittel sind höchst wirkungsvoll eingesetzt, Jannings, Krauß und andere demonstrieren ihre Darstellungskunst, und das Ganze wirkt überhaupt nicht altmodisch (abgesehen davon, daß seit mehr als 90 Jahren keine Stummfilme mehr gedreht werden). Das Live-Orgelspiel unterstützte den Film sehr gut, ohne daß die Musik zu sehr in den Vordergrund geriet. Es war alles in allem ein schöner Kinoabend.

  • Den nächsten Film hatte ich schon ausgesucht. Er paßt sowohl zu William Castle („Matinee“) als auch zu Ed Wood: „Die Lady von Shanghai“ (1947) von Orson Welles. Castle war an diesem Film noir sogar beteiligt (laut Vorspann als associate producer). Es ist ein Starvehikel für Rita Hayworth, und man muß dazu wissen, daß Welles zu dieser Zeit mit Hayworth verheiratet war und sie entgegen ihrem Image einer Leinwandgöttin einsetzte. Sie war als Star maßgeblich daran beteiligt, aus Columbia eines der großen Studios Hollywoods zu machen. Im Zweiten Weltkrieg war sie Amerikas beliebtestes Pin-up-Girl gewesen. Ihr Stern, der in den 1940er Jahren am hellsten strahlte, wurde später verdunkelt von Elisabeth Taylor oder Marilyn Monroe. Welles versuchte, ihr Image und auch ihre äußere Erscheinung zu ändern, um ihr eine weitere künstlerische Entwicklung zu ermöglichen. Das scheint aber nicht funktioniert zu haben – sie kehrte zu ihrer eher eindimensionalen Rolle als liebens- und begehrenswerte Superfrau zurück. „Die Lady von Shanghai“ wurde kein geschäftlicher Erfolg, wieder einmal vor allem deshalb, weil der Film zu teuer war. Welles wurde schließlich sein zweieinhalbstündiges Werk weggenommen und auf 85 Minuten zusammengekürzt.

    Die Handlung zu erzählen, was ich sonst mit Vorliebe tue, hat in diesem Fall wenig Sinn. Welles hatte Produzent Harry Cohn ursprünglich einfach einen Romantitel vorgeschlagen, der interessant klang. Dann schrieb er das Buch völlig um. Sein Film hat die Anmutung eines Alptraums (sehr verstörende Bilder!). Die meisten Figuren sind nicht das, was sie vorgeben, und Welles, der einen einfachen Seemann und Abenteurer spielt, ist ihr Spielball. Trotzdem verhält auch er sich widersprüchlich. Er lernt Hayworth kennen und verliebt sich augenblicklich in sie. Noch bevor er erfährt, daß sie die Ehefrau eines steinreichen Staranwalts (Everett Sloane) ist, will er sie aber wieder verlassen. Am Ende findet er sich doch angeheuert auf Sloanes Luxusjacht wieder und ist zwischen seiner Leidenschaft für Hayworth und vorsichtiger Distanzwahrung hin- und hergerissen. Und Hayworth scheint zunächst nicht bereit, für ihn ihre materielle Sicherheit aufzugeben.

    Da bietet Sloanes Kompagnon (Glenn Anders) ihm an, ihm 5000 Dollar zu zahlen, wenn er ihn zum Schein umbringt. Er möchte aus der Kanzlei aussteigen und untertauchen. Währenddessen kommt ein Privatdetektiv (Ted de Corsia) dem Verhältnis von Welles und Hayworth auf die Spur, aber er wird wirklich umgebracht. Kurz darauf ist auch Anders tot. Er hat Welles dazu gebracht, ein Geständnis zu unterschreiben (das ihm nichts hätte anhaben können, wenn die Leiche von Anders nicht gefunden worden wäre). Jetzt droht Welles die Verurteilung wegen zweifachen Mordes. Sloane übernimmt die Verteidigung; es kommt zu einem sehr bizarren Gerichtsverfahren. Sloane will diesmal nicht gewinnen, sondern Welles an den Galgen liefern. Welles gelingt die Flucht. In einem Spiegelkabinett in einem verlassenen Vergnügungspark treffen er, Hayworth und Sloane sich wieder, und Welles muß mit ansehen, wie sich die Eheleute gegenseitig erschießen. Die beiden Morde hat Hayworth auf dem Gewissen; sie hatte es eigentlich auf die Lebensversicherung ihres Mannes abgesehen, aber bei ihrem Plan ging einiges schief. Wahrscheinlich wird sich nun seine Unschuld herausstellen, aber er flieht vom Schauplatz des Geschehens. Moral: Niemand ist allein gut oder böse, aber man kann auch niemandem vertrauen.

    In meine Aufnahme ist übrigens eine Szene eingefügt, die speziell in Deutschland entfernt worden und bis dahin hier nie gezeigt worden war. Welles, Sloane und Hayworth unterhalten sich über den Stellenwert von Ehebruch und die Schlechtigkeit des Menschen im allgemeinen. Die Szene ist untertitelt. Vielleicht ist die DVD-Fassung inzwischen auch nachsynchronisiert.

    Welles hat sich wohl allein dafür interessiert, die Verwandlung der Hayworth vom good girl in eine kalt berechnende Mörderin so ungewöhnlich wie möglich zu inszenieren. Damit war das Publikum sicherlich überfordert, zumal Welles' Film so stark gekürzt war. Die weggeschnittenen Teile hat Columbia anscheinend vernichtet, so daß ein späterer director’s cut nicht möglich war. Auch mit der Filmmusik, die seinen gewünschten Effekten zuwiderlief, war Welles sehr unzufrieden. Angesichts dessen waren Einnahmen von 1,5 Millionen Dollar in USA gar nicht so schlecht, aber die Kosten lagen bei zwei Millionen. Man hat Welles unterstellt, der Film sei als Abrechnung mit Hayworth angesichts ihrer scheiternden Ehe zu verstehen gewesen. Aber ich denke, ihr hätte er sehr genutzt, wenn er so erfolgreich geworden wäre, wie Welles das anstrebte. Er wurde zuerst in Europa eingesetzt, wo seine formalen Qualitäten begrüßt wurden, und kam erst später in USA zum Einsatz. Allmählich gewann er die Anerkennung von Cineasten und gilt heute als einer der besten Filme der Schwarzen Serie. Ein echter Klassiker, wenn auch kein „Wohlfühlfilm“. Manche Szenen wie der Showdown im Spiegelkabinett oder ein Gespräch von Welles und Hayworth in einem Aquarium mit Haien und Kraken im Hintergrund wurden oft in anderen Filmen zitiert.

  • Diesmal etwas völlig anderes – oder nein: eine Filmbiografie, die formal gewisse Ähnlichkeiten mit „Ed Wood“ aufweist: „Georg Elser – Einer aus Deutschland“ (1989) von Klaus Maria Brandauer. Ich habe den Film leider nicht optimal aufgenommen. Der Ton ist nicht richtig gut, was auffällt, weil manchmal ziemlich leise geredet wird, und das Bild ist nicht brillant, was von Nachteil ist, weil sich ein Gutteil der Szenen in dunklen Räumen oder in der Nacht abspielt. Vielleicht sollte ich mir den Film mal auf DVD zulegen. Es war Brandauers erste Regiearbeit, sicher beeinflußt durch Istvan Szabos „Mephisto“, in dem er ebenfalls die Hauptrolle spielte. Und als Erstlingswerk ist „Georg Elser“ sehr gut geworden. Ob der Film inhaltlich gut ist, darüber kann man diskutieren. Georg Elser war ein Hitler-Attentäter, der aber nicht so bekannt geworden ist wie etwa die Stauffenberg-Verschwörer. Er versuchte, den „Führer“ 1939 bei einer Rede im Münchner Bürgerbräukeller durch eine Zeitbombe zu töten, aber Hitler verließ den Saal kurz, bevor sie detonierte. Brandauer geht mit der Biografie recht frei um, um einen spannenden Film zu bekommen; er stützt sich auch auf einen Roman („The Artisan“ von Stephen Sheppard), weniger auf historische Fakten. Ich könnte mir vorstellen, daß sich manches im Tathergang gar nicht klären läßt, weil Elser ein schweigsamer, unauffälliger Einzelgänger war.

    Die Handlung gibt eigentlich nicht viel her: Der einfache Handwerker Elser (Brandauer), der mit dem Attentat den gerade begonnenen Zweiten Weltkrieg beenden will, läßt sich nachts in das Bierlokal einschließen und baut seine Bombe in die Holzverkleidung einer Säule ein. Hitler sprach hier jedes Jahr zum Gedenken an den gescheiterten Putsch der Nationalsozialisten 1923. Im Film wird in vielen prägnanten Szenen gezeigt, wie Elser unter dem Radar des Sicherheitsapparats bleibt, aber ständig in der Gefahr der Entdeckung schwebt, und dem wird eine Liebesgeschichte angefügt: Elser verliebt sich in eine Bedienung (Rebecca Miller) im Bürgerbräukeller, die er nicht einweiht, die aber am Ende vor der Bombenexplosion bewahrt werden muß. Viele kleine Details werden zur Aufrechterhaltung der Spannung eingebaut, zum Beispiel, wie Elser mit größter Vorsicht den Sprengstoff stiehlt und die Bombe baut und nachts im Bürgerbräukeller die Säule präpariert, wie er von einem SA-Mann verprügelt wird, weil er den Hitlergruß verweigert, aber dennoch nicht entdeckt wird, wie er einmal sogar denunziert wird, die Polizei aber keinen Verdacht schöpft, was er nachts treibt.

    Die erfundene Liebesgeschichte wird sehr schön eingewoben. Sie ist dezent inszeniert und trotzdem intensiv. Am Ende beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Ein Sicherheitsoffizier (Brian Dennehy) kommt Elser langsam auf die Spur, erkennt aber eigentlich zu spät, daß ein Bombenanschlag auf Hitler droht. Elser und seine Freundin wollen sich per Zug in die Schweiz absetzen; er holt sie erst in letzter Minute aus dem Bürgerbräukeller heraus. An der Schweizer Grenze wird er aber entdeckt und verhaftet. Die Bombe ist explodiert, aber Hitler hat seinen Auftritt durch Zufall sieben Minuten früher beendet als üblich. Viele andere sterben. Auf die Frage, warum er das getan hat, antwortet Elser lapidar: „Einer mußte es tun.“ Er kommt in ein Konzentrationslager und wird – das ist historisch korrekt – noch wenige Tage vor Kriegsende hingerichtet.

    Der Film ist nicht reißerisch, aber doch mitreißend. In manchen Passagen erinnert er an ein big caper movie. Da stellt sich die Frage: Darf man das – eine wahre Lebensgeschichte so dramatisieren, um einem Mann, der den Tyrannenmord plant, die ihm gebührende Größe zu geben? Elsers Geschichte wurde 2015 von Oliver Hirschgiebel noch einmal verfilmt, aber die Neuverfilmung habe ich nicht gesehen. Als Spannungsfilm ist Brandauers „Elser“-Film wohl schwer zu toppen. Er umgibt sich mit einem Cast von meist hochkarätigen Theaterschauspielern: Hans-Michael Rehberg, Elisabeth Orth, Vadim Glowna, Margaret O’Neill. Rebecca Miller ist übrigens eine Tochter von Arthur Miller. Brandauer spielt seine eigene Rolle angenehm zurückhaltend. Er macht ihn nicht zum Helden, seine Motive bleiben eher im Vagen. Noch heute ist der Hitler-Attentäter Georg Elser in der Bevölkerung wenig bekannt. Die Aussage am Ende des Films, „Kein Denkmal erinnert an ihn“, stimmt immerhin inzwischen nicht mehr.

  • Deshalb habe ich erwähnt, daß er den Elser zurückhaltend spielt. Mich stört an vielen seiner Rollen, daß er sich mit allerlei Mätzchen in den Vordergrund spielt - hier nicht. Als Gustaf Gründgens in "Mephisto" fand ich ihn aber auch gut.

  • Als ich im „Film noir“-Buch von Paul Werner über Orson Welles‘ „Die Lady von Shanghai“ las, stieß ich auf die Aussage: „Lang und Welles sind wohl die entferntesten Pole im Spektrum der Film-noir-Regisseure und gleichzeitig die beiden, deren Individualstil sich als stärker erweist als der der Film-noir-Bewegung.“ Einige Lang-Filme, die dem Film noir zugerechnet werden, habe ich auf DVD. Ich habe aus diesem Grund aber zu einem Film von Fritz Lang gegriffen, den ich auf Video habe: „Blinde Wut“ (1936), der erste Film, den er in Hollywood realisieren konnte. Als Emigrant hatte er einen Vertrag bei MGM erhalten, aber mehrere Drehbücher verfaßt, die den Produzenten nicht gefielen. Auch von „Blinde Wut“ hielten sie nicht viel. Aber obwohl der Film den Amerikanern nicht schmeichelt, wurde er ein Erfolg (Oscarnominierung für das Drehbuch). Es geht um Lynchjustiz, worüber Lang in amerikanischen Zeitungen einiges gelesen hatte. Freilich erlaubte ihm das Studio nicht, als Lynchopfer einen Schwarzen zu zeigen, wie das in der Wirklichkeit die Regel war. Lang konnte auch nicht mehr in einem ganz eigenen Stil drehen, sondern mußte sich an die übliche Hollywood-Erzählweise anpassen. Trotzdem halten viele „Blinde Wut“ für seinen besten US-Film.

    Mich hat er nicht ganz überzeugt. Er ist fast 90 Jahre alt und aus heutiger Sicht sehr pädagogisch. Doch anderen Lehrstücken über Selbstjustiz hat er voraus, daß Lang sich beide Seiten sehr genau ansieht: die des Mobs, der für die Feststellung der Schuld keine Beweise braucht, aber auch die des Opfers, das hier überlebt und die, die ihm ans Leben wollten, selbst mitleidslos bestrafen möchte. Spencer Tracy lebt in Chicago und hat endlich genug gespart, um seine Verlobte, Sylvia Sidney, die als Lehrerin irgendwo im mittleren Westen arbeitet, heiraten zu können. Auf der Fahrt zu ihr wird er unter dem Verdacht, ein Kind gekidnappt zu haben, verhaftet und in einem gottverlassenen Nest eingebuchtet. In dem Städtchen spricht sich in Windeseile herum, daß einer der Entführer gefaßt ist. Der Sheriff besteht darauf, daß Tracy vorläufig als unschuldig gilt – das bringt die Bürger in Rage. Sie belagern das Gefängnis und zünden das Gebäude schließlich an, was er hilflos in seiner Zelle mitansehen muß. In letzter Minute gelingt ihm aber die Flucht.

    Das ist nur die eine Hälfte des Films. Der Gouverneur des Staates ordnet eine Untersuchung an. Die 22 identifizierten Teilnehmer des Lynchmobs decken sich jedoch konsequent gegenseitig. Niemandem ist nachzuweisen, daß er dabei war. Alle sind aber auf Bildern der Wochenschau zu sehen, die während der Ereignisse gedreht wurden. Der Verteidiger hat aber noch einen Trumpf: Die Leiche von Tracy ist nicht gefunden worden, also ist kein Lynchmord nachzuweisen. Tracy verfolgt den Prozeß von einem Versteck aus am Radio. Er will Rache, schreibt einen anonymen Geständnisbrief und legt ihm einen Ring bei, den er von seiner Verlobten erhalten hat. Der Ring ist teilweise vom Feuer geschmolzen. Dann packt ihn jedoch sein Gewissen, denn den 22 Angeklagten droht die Todesstrafe. Zudem entdeckt Sidney, die ihn bisher für tot hielt, daß er noch am Leben ist und bringt ihn dazu, endgültig von seinem Plan abzulassen. Die Geschworenen erklären fast alle Angeklagten für schuldig, da betritt Tracy den Gerichtssaal und hält eine Moralpredigt: Schuld ist mehr, als das Gesetz definiert. Aber jetzt ist für ihn das Wichtigste, daß er sich mit Sidney versöhnt hat.

    Nicht nur das Lehrhafte stört. Ich finde auch, daß der Film – ähnlich wie „M“ – sein Kriminalthema sehr boulevardesk behandelt. Die Figuren handeln immer extrem. Lang bevorzugt stets den grellen Effekt. Mitunter sind die Figuren zumindest so ins Komische verzeichnet, dass es sehr unterhaltsam zu betrachten ist. Dafür ist mir allerdings das Anliegen des Films zu ernst. In meinen Augen treibt Lang zu viel Spott mit den amerikanischen Rednecks. Aber leider ist manches an dieser Geschichte noch immer aktuell. Ich mußte immer mal daran denken, daß man hier vielleicht die heutigen Trump-Anhänger sieht: schnell von einfachen Argumenten zu überzeugen, immer für radikale Lösungen zu haben. Und sie warten nicht, bis Politiker etwas ausdiskutiert haben, sondern nehmen die Sache dann lieber selbst in die Hand – eventuell kann man da auch an den Sturm aufs Kapitol in Washington denken. Erstaunlich eigentlich auch, daß Lang als amerikanischer Neubürger den USA gleich so den Spiegel vorhalten konnte. „Blinde Wut“ zeigte immerhin, daß er problemlos einen Reißer zu liefern in der Lage war, wie ihn die Traumfabrik brauchte. Allerdings arbeitete er danach nicht weiter für MGM, sondern für den unabhängigen Produzenten Walter Wanger.

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