Vom Schreiben zum Verfilmen

    • Benjamin Lebert: Crazy. Roman (Kiepenheuer & Witsch 1999, Goldmann 2001, Aufbau Verlag 2021)
    • Crazy (Deutschland 2000, Claussen & Wöbke Filmproduktion GmbH), Drehbuch: Michael Gutmann, Regie: Hans-Christian Schmid, 97 min, FSK: 12, JMK: 14


    Benjamin Leberts Debütroman entwickelte sich rasch zu einem internationalen Bestseller. Der autofiktionale Coming-of-Age-Roman wurde in 33 Sprachen übersetzt und hatte 2022 eine Gesamtauflage von 1,2 Millionen Exemplaren, weshalb er rasch als Filmstoff verhandelt wurde. Zudem wurde er für die Bühne bearbeitet und an mehreren Theatern aufgeführt.
    Der halbseitig spastisch Gelähmte Lebert verfaßte sein Werk mit 16 Jahren und verließ die Schule ohne Abschluß. Erst als 21jähriger gelang ihm der Hauptschulabschluß. Dennoch konnte er sich als Schriftsteller etablieren, und das Magazin Cicero zählte ihn dreimal zu den wichtigsten deutschsprachigen Intellektuellen. Aber Kritik blieb nicht aus, denn im September 2003 wurde er in der Emma zum "Pascha des Monats" gewählt. Der Roman wird regelmäßig als Schullektüre eingesetzt.
    Lebert setzt in seiner Autofiktion penetrant das Wort crazy ein, das die Figur Janosch, der Anführer der Clique auf dem Internat, als Steigerung von cool nutzt. Seine Stärke hat der Roman in Bennis Monologen sowie in zahlreichen philosophisch tiefsinnigen Dialogen.

    Zunächst war vorgesehen, dass Benjamin Lebert sich selbst in der Verfilmung spielt, was er sich aber nicht zutraute. Ihn spielte Robert Stadlober, während die Rolle von Janosch von Tom Schilling übernommen wurde; beiden Schauspielern gelang damit der Durchbruch.
    Die Verfilmung ist eine ähnliche Erfolgsgeschichte wie die Vorlage, denn mit 1,5 Millionen Kinobesuchern war sie der erfolgreichste deutsche Film des Jahres am Box Office. Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent Hans-Christian Schmid hat ein Faible für deutsche Geschichte, und Ende der 1990er Jahre stellte in seinen Filmen Nach Fünf im Urwald und 23 – Nichts ist so wie es scheint jugendliche Protagonisten in den Mittelpunkt.
    Coming-of-Age-Filme bilden inzwischen ein umfangreiches Genre, das ständig weiterwächst; mit dem Setting des Internats und dem behinderten Protagonisten sticht Crazy jedoch aus der Masse heraus.
    Im Rückblick fällt auf, wie analog zu dieser Zeit das Leben noch war. Bei der Verfilmung habe ich mich zwar nicht gelangweilt, aber besonders beeindruckt hat sie mich nicht. Für einen deutschen Film ist das Werk passabel und liegt irgendwo im besseren Mittelfeld.

    • Franz Kafka: Der Process (Die Schmiede 1925, Stroemfeld Verlag 1997, Suhrkamp 2000, Fischer Verlag 2002, Landpresse 2009)
    • Le procès | The Trial | Der Prozeß (Frankreich / Bundesrepublik Deutschland / Italien 1962, Paris Europa Productions, FICIT und Hisa Films), Drehbuch und Regie: Orson Welles, 118 min, FSK: 16


    Kafkas Todestag jährt sich gerade zum 100. Mal, und dieses Jubiläum liefert den Medien einen Anlaß, sich mal wieder mit diesem Klassiker der Weltliteratur zu befassen. Deswegen bringen Sender neue Dokumentationen, eine Fernsehserie und natürlich schon auf dem Markt befindliche Verfilmungen wieder ins Gespräch, darunter auch die von Orson Welles.
    Weil Kafka zu Lebzeiten nur wenig veröffentlichte, und der maßgebliche Teil seines Werkes erst nach seinem Tod, gegen Kafkas eigenen Willen erschien, ergibt sich ein verstellender Blick auf sein Werk. Vor dem historischen Hintergrund zweier Weltkriege und den Abgründen faschistischer Herrschaft drängte sich eine bestimmte Lesart seiner skurril-absurden Werke auf, eine ernste Interpretation menschlicher Abgründe, bei der sich seine Protagonisten in einem aussichtslosen Labyrinth verirren.
    Erst jetzt wird wieder anerkannt, dass Kafka selbst, zum Beispiel bei Lesungen, über das groteske Schicksal seiner Figuren gelacht hat, und in den Werken ein trockener und sarkastischer Humor steckt, der die moderne Welt in düsteren Farben malt. In diesem Rahmen steht seine Wiederentdeckung (eigentlich war er nie verschwunden) für die Verwertungsmechismen des Kulturmarkts, der solche Anlässe benötigt, um Persönlichkeiten wie Franz Kafka zu würdigen.

    Orson Welles hingegen ist selbst ein Schwergewicht der Filmbranche, der sich schon in jungen Jahren in die Geschichte des Mediums eingeschrieben hat. Nach seinen Erfahrungen am Theater wurde er in Hollywood als Wunderkind gehandelt, das zwar die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllte, aber zugleich so eigenwillig und anspruchsvoll war, dass er es sich mit Hollywood verdarb. Obwohl er hoch angesehen war und als Schauspieler im Geschäft blieb, versandeten viele seiner späteren Projekte als Drehbuchautor und Regisseur in der Produktionshölle.
    Zu den nicht gescheiterten Projekten zählt seine Kafka-Verfilmung, für die er Weltstars wie Anthony Perkins, Jeanne Moreau, Elsa Martinelli und Romy Schneider gewinnen konnte. Die unabhängige europäische Produktion in schwarzweiß zeigt deutlich die Handschrift von Welles, und das reicht von der Beleuchtung und der Bildgestaltung über die Bauten bis zum Schnitt. Welles gelingt eine kongeniale, werkgetreue Umsetzung der Vorlage, die einen Sog erzeugt, der Publikum fesselt, trotz der eher episodischen Struktur.
    Durchsetzt von Elementen des Film noir zählt zu den Stärken der Verfilmung ihr zeitgeschichtlicher Hintergrund. Gerade als Produktion der 60er Jahre liegt zwar eine leichte Modernisierung des Stoffs vor, die jedoch zeitlose Qualitäten in sich hat.

    • Friedrich Glauser: Matto regiert (Jean Christophe 1936, Limmat Verlag 1995)
    • Matto regiert | § 51 – Seelenarzt Dr. Laduner (Schweiz 1947, Praesens-Film A.G.), Drehbuch: Alfred Neumann und Leopold Lindtberg, Regie: Leopold Lindtberg, 113 min bzw. 101 min, FSK: 16


    Zu den Pionieren der deutschsprachigen Kriminalliteratur zählt der Schweizer Friedrich Glauser. Dieser Tatsache trägt der Verband der deutschsprachigen Kriminalliteratur, Syndikat e.V., Rechnung, denn alljährlich verleiht er den Friedrich-Glauser-Preis für die besten Werke des Genres. Wer sich eingehender mit der Materie beschäftigt, wird ihn kennen, aber allgemein dürfte er eher ein Geheimtipp sein.
    Glauser selbst war drogenabhängig, wurde als Insasse von Psychiatrien entmündigt und beschäftigte sich auch in seiner Literatur mit Außenseitern. Erst am Ende seines kurzen Lebens - er wurde nur 42 Jahre alt - gelang ihm mit seinen Krimis um den Wachtmeister Studer von der Kantonspolizei der Durchbruch, so dass der vorher Unbekannte plötzlich ein gefragter Autor wurde.
    Sein zweiter Studer-Krimi Matto regiert spielt in einer psychiatrischen Anstalt, in dem Glauser ein Milieu schildert, in dem er sich auskannte. Studer ermittelt generell ohne Sidekick und liegt ein wenig jenseits der Genreklischees, die sich mit Agatha Christie & Co. nur wenig später etablieren werden. Teilweise wirken seine deutschschweizer Werke skurril, wenn er schweizerische Ausdrücke nutzt, zum Beispiel Töff für Automobil. Und in der Hinsicht ist Matto regiert noch einmal ein Sonderfall, denn darin gibt es Passagen, die als eine Ahnung der Nazi-Verbrechen interpretiert werden.

    Die Verfilmung aus der Schweiz ist ein Kind ihrer Zeit, die den Stoff für ein breites Publikum aufbereitet und heute fast betulich wirkt. Im Finale gibt es eine Verfolgungsjagd über die Dächer der Anstalt, aber ansonsten liefert die Verfilmung klassisches Erzählkino, für heutige Begriffe manchmal etwas umständlich und altbacken. Zwar habe ich mich nicht gelangweilt, aber vom Hocker gerissen hat mich die Verfilmung nicht.
    2001 gab es eine weitere Verfilmung für das Schweizer Fernsehen mit einem Gender Switch, denn hier ermittelte eine Claudia Studer.
    Wer sich eingehender mit Kriminalfilmen befassen will, sollte die erste Verfilmung mal gesehen haben, auch um ihn mit anderen zeitgenössischen Krimis vergleichen, in denen es um Psychologie geht wie zum Beispiel Hitchcocks Spellbound | Ich kämpfe um dich (USA 1945) mit der Traumsequenz von Salvador Dalì.

    • Mary Shelley: Frankenstein; or, The Modern Prometheus (Lackington, Hughes, Harding, Mavor & Jones 1818) | Frankenstein oder Der moderne Prometheus (Max Altman 1912)
    • Mary Shelley’s Frankenstein (USA / Japan / Vereinigtes Königreich 1994, TriStar, Japan Satellite Broadcasting, The IndieProd Company und American Zoetrope), Drehbuch: Steph Lady und Frank Darabont, Regie: Kenneth Branagh, 123 min, FSK: 16


    Den Roman habe ich zum ersten Mal in meiner Schulzeit in der deutschen Übersetzung gelesen, als Teil einer zehnbändigen Kollektion über Schauerliteratur; die Kassette nannte sich Bibliothec Dracula. Während meiner Studienzeit habe ich mir den Originaltext in der Fassung der Penguin Popular Classics zugelegt.
    Der romantische Schauerroman faszinierte mich über den Status einer Filmvorlage hinaus; und ich finde, Mary Shelley beweist schriftstellerische Qualitäten. Darüber hinaus dokumentiert er einen Zeitgeist, in dem wissenschaftliche Entdeckungen bei Pionieren schiere Allmachtsgefühle auslösen. Ihre Beschreibungen der Kraft der Elektrizität weisen eher in Richtung Alchemie denn in eine nüchtern sachliche Betrachtung. Ich kann das Werk uneingeschränkt empfehlen.

    Verfilmungen des fast schon mythischen Stoffes gibt es zuhauf. Soweit ich weiß, liegen die Rechte an dem Filmtitel bei den Universal Studios, deren Version mit Boris Karloff als Monster ja in die Filmgeschichte eingegangen ist. Branaghs Version entstand im Fahrwasser von Coppolas Bram Stoker's Dracula, der 1992 in die Kinos kam, denn bei dieser Frankensteinfassung fungiert Coppola als Produzent.
    Die Verfilmung bleibt dicht an der Vorlage, zumal sie mit der Rahmengeschichte um den Polarforscher Walton beginnt und endet. Das historische Setting im 18. Jahrhundert sorgt für opulente Kostüme, die in opernhaften Bauten eindrucksvoll präsentiert werden. Besonders die Szenen in Frankensteins Labor verbreiten Steampunk-Atmosphäre. Robert de Niro hat mich als Monster zwar beeindruckt, aber als Figur konnte ich ihn nicht begreifen; mir erschien er eher als phantastischer Doppelgänger Victor Frankensteins, der eher aus dessen Unterbewußtsein als durch einen Blitz geboren wurde. Insofern finde ich diese Verfilmung zu küchenpsychologisch, um mich restlos zu überzeugen.
    Dennoch finde ich, dass sie einen Blick wert ist; ein neuer Klassiker mit Abstrichen.

    • Charles Dickens: David Copperfield or The Personal History, Adventures, Experience and Observation of David Copperfield the Younger of Blunderstone Rookery (Which He Never Meant to Publish on Any Account) (Bradbury & Evans 1850) | Lebensgeschichte und Erfahrungen David Copperfield's des Jüngeren (Franck'sche Verlagshandlung 1855)
    • The Personal History of David Copperfield | David Copperfield – Einmal Reichtum und zurück (USA / Vereinigtes Königreich 2019), Drehbuch: Armando Iannucci und Simon Blackwell, Regie: Armando Iannucci, 119 min, FSK: 6, JMK: 8


    Charles Dickens war zu Lebzeiten mit seinen Bestsellern ein Erfolgsautor, der einen Standard im Roman des 19. Jahrhunderts gesetzt hat und heute zur Weltliteratur gehört. Unablässig produktiv hat Dickens mal bessere, mal schlechtere Werke abgeliefert, so dass auch randständige Romane gibt, die seltener adaptiert werden. Oliver Twist ist gewissermaßen sein Trademark geworden, doch auch David Copperfield kann auf eine umfangreiche Liste von Adaptionen verweisen.
    Dieser Roman weist eine Besonderheit auf: Dickens hat nie eine Autobiographie verfaßt, obwohl er seine Erfahrungen skizzenhaft notiert und auch Freunden gezeigt hat. In Teilen hat Dickens diese Skizze in David Copperfield eingeflochten, was sich in den Initialen C.D. respektive D.C. zeigt. Der Roman gilt als einer der bedeutendsten Bildungsromane der englischen Literatur, der gesellschaftlich ein breites Panorama des damaligen Alltags schildert. Mit seinen skurrilen, überzeichneten Charakteren hat er Klischees geschaffen, die ein Eigenleben gewonnen haben. Durch den Wechsel der Hintergründe bekommt jede Etappe der Heldenreise ihre eigene Note.
    Ich muß schon zugeben, Dickens ist unverwüstlich und macht heute noch Spaß.

    Die neueste Verfilmung feierte im September 2019 beim Toronto International Film Festival seine Weltpremiere und wurde von der Kritik gelobt, denn die ziemlich woke Besetzung mit Dev Patel in der Titelrolle verkörpert den Zeitgeist. Das zeigt sich vor allem darin, dass Nichtsnutze wie Mr Micawber oder Bösewichte wie Uriah Heep von (alten) weißen Männern verkörpert werden, hier Peter Capaldi und Ben Whishaw. Weil zudem die Vorlage für den Spielfilm gestrafft wurde, habe ich deswegen manchmal den Überblick verloren. Ich fand das aber nach kurzer Zeit in Ordnung, weil die Sets ziemlich theaterhaft waren; außerdem entschädigte mich die überbordende Spielfreude des Ensembles, bei dem die Chemie wohl gestimmt haben muß.
    Inwieweit sie sich in Zukunft gegen ihre Vorgänger und Nachfolger durchsetzen wird, steht auf einem anderen Blatt. Wegen der raschen Abfolge der Szenen empfand sie ziemlich oberflächlich; und der Vorsatz, ja niemandem weh zu tun und allen gerecht zu werden, kappte die satirischen Spitzen. Wahrscheinlich hat der Film in gewisser Hinsicht sein Ziel verfehlt, denn ich warte jetzt eher auf eine angemessene Verfilmung als Serie, die in die Tiefe geht. Diese Fassung ist okay, aber ich weiß, dass es bessere gibt.

    • William Makepeace Thackeray: Vanity Fair or A Novel without a Hero (1849) | Jahrmarkt der Eitelkeit (Georg Müller Verlag 1909)
    • Vanity Fair | Jahrmarkt der Eitelkeiten (Großbritannien 2018, Mammoth Screen, ITV Studios und Amazon Prime Video), Drehbuch: Gwyneth Hughes, Regie: James Strong und Jonathan Entwhistle, 7 Folgen à 45 min


    Durch die Verfilmung von Stanley Kubrick dürfte Barry Lyndon das bekannteste Werk von Thackeray sein, doch der Eindruck täuscht. Neben Charles Dickens und George Eliot zählt er zu den bedeutendsten Romanciers des Viktorianischen Zeitalters, und Vanity Fair gilt als sein Meisterwerk, das auch heute noch unter zu den bedeutendsten britischen Romanen rangiert. Der Titel selbst ist ein Zitat aus einem puritanischen Erbauungsroman, nämlich John Bunyans The Pilgrim’s Progress from This World to That Which Is to Come | Die Pilgerreise von dieser in die kommende Welt (1678), in dem der Jahrmarkt der Eitelkeiten eine Station der Pilger darstellt. Von Teufeln organisiert wird das weltliche Streben nach Glück, Erfolg und Reichtum als vergebliches Streben nach nutzlosem Tand geschildert.
    Thackeray fächert hier ironisch gebrochen ein Panorama auf, das die englische Gesellschaft in den letzten napoleonischen Kriegen und in den folgenden Jahrzehnten zeigt. Dabei bedient er sich mit seiner Hauptfigur Rebecca Sharp, kurz Becky, einer weiblichen Perspektive. Becky ist die Tochter eines Künstlers und einer Tänzerin, die nur dank eines Stipendiums an einer guten Schule ihren Abschluß machen konnte. Sie stammt aus kleinen Verhältnissen, aber sie ist klug und ehrgeizig, denkt strategisch und strebt nach einem Platz in der vornehmen Gesellschaft, den sie für sich angemessen hält. Auf mich wirkt sie wie die weibliche Version eines Barry Lyndon.
    Mit seinen subtilen Spitzen gegen falschen Ehrgeiz nimmt er vieles vorweg, was später in den Romanen der Moderne üblich wird.

    Schon in der Stummfilmzeit wurde der Klassiker viermal verfilmt. Die Miniserie des Streamingdienstes Amazon Prime und des Privatsenders ITV folgt nach 20 Jahren einer mehrteiligen Verfilmung bei der BBC. Schwelgerische Kostüme und eine prachtvolle Ausstattung locken eine neue Generation vor die Mattscheibe, indem ein vergnügtes Ensemble den Stoff mit all seinen Höhen und Tiefen genußvoll auskostet.
    Bezeichnend finde ich die Rahmung der Episoden: William Mackepeace Thackeray, dargestellt von Michael Palin, eröffnet als Master of Ceremony den Jahrmarkt vor einem sich drehenden Karussell, das bunt blinkt und auf dem die Figuren kreisen. Mit wenigen Zeilen gibt es den Spin der jeweiligen Episode vor. Der Abschluß setzt mit modernen Popsongs einen letzten Twist, etwa, wenn Madonna das "Material Girl" Becky Sharp besingt oder die Stimme von Kate Bush erklingt.
    Die Produktion hat sich nicht lumpen lassen, und zeigt zum Beispiel das Schlachtfeld von Waterloo, auf dem einer der englischen Soldaten schon den Sieg über Napoleon feiert, und gerade in diesem Moment von einer Kugel getroffen tot zusammensackt. Außerdem setzt die Regie intelligent Akzente, beispielsweise wenn Becky ihren Triumph eines Defilees beim König auskostet; dann nämlich setzt eine Weißblende ein.
    Die Serie bringt Spaß, indem sie uns die Figuren vorstellt, als wären sie unsere Zeitgenossen. Ich bin sicher, dass sie das Publikum neugierig gemacht hat auf den Roman.

    • Astrid Lindgren: Ronja Rövardotter (Rabén & Sjögren 1981) | Ronja Räubertochter (Oetinger 1982)
    • Ronja Rövardotter | Ronja Räubertochter (Schweden / Norwegen 1984, FilmTeknik, Norsk Film, Svenska Ord, Sveriges Television und Svensk Filmindustri), Drehbuch: Astrid Lindgren, Regie: Tage Danielsson, 126 min, FSK: 6


    Astrid Lindgren hat mit ihren Werken und Figuren den Kinderbuchmarkt geprägt und Standards gesetzt. Insgesamt wanderten bis 2024 von ihr 170 Millionen Bücher in 106 Sprachen über den Ladentisch, allein in Deutschland sind es weit über 20 Millionen Exemplare. Der feministische Räuberroman mit Fantasyelementen zählt zu ihren Spätwerk und wurde ziemlich rasch verfilmt.
    Ihr Roman geht schon in Richtung All Age, bleibt dabei kindgerecht und märchenhaft. Mit den Wilddruden, den Graugnomen und den Rumpelwichten knüpft sie an die skandinavische Sagenwelt an und erinnert teilweise an Tove Janssons Mumins. Sie webt jedoch Motive ein, die ein erwachseneres Publikum unterhalten, wie Anspielungen auf Romeo und Julia oder Tristan und Isolde. Sie fabuliert verspielt, ohne zynisch zu werden. Mit Ronja entdeckt das Publikum ihre Welt, die zum guten Schluß eine moralische Basis bekommt.

    Burschikos und dunkelhaarig entspricht Ronja so gar nicht dem Klischee einer schwedischen Göre. Dennoch wurde sie eindrucksvoll von der elfjährigen Hanna Zetterberg gespielt, ihre einzige Rolle, nachher ging sie in die Politik. Für die bescheidene Filmbranche wird hier einiges geboten; besonders die Landschaften sind auch heute noch atemberaubend, während die Spezialeffekte damals auf dem Stand der Zeit gewesen sein mögen, aber mittlerweile verstaubt wirken.
    Den Film habe ich vor wenigen Tagen zum ersten Mal gesehen, dank der ZDF-Mediathek, weil mich der Stoff doch interessiert hat. Und in Ronja Räubertochter sehe ich fast soviel Lisbeth Salander wie in Pippi Langstrumpf. Die Verfilmung nimmt sich Zeit und kostet Szenen aus, was auf mich manchmal etwas langatmig wirkte. Da Lindgren ja das Drehbuch verfaßt hat, bin ich mir sicher, dass der Film ihre Vision umgesetzt hat und der Vorlage treu geblieben ist. (Es gibt übrigens eine dreiteilige Fernsehfassung, die einige Minuten länger ist.)
    Die Verfilmung liefert gehobene Unterhaltung für die Familie; vor allem in den Gesangseinlagen erinnert er an Disney. Ich bereue nicht, ihn gesehen zu haben, aber ein weiteres Mal brauche ich ihn nicht. Er hat meine Erwartungen erfüllt.

    • Stanisław Lem: Solaris (Wydawnictwo Ministerstwa Obrony Narodowej 1961) | Solaris (Marion-von-Schröder-Verlag 1972)
    • Солярис | Solaris (Sowjetunion 1972, Mosfilm), Drehbuch: Andrei Tarkowski und Friedrich Gorenstein, Regie: Andrei Tarkowski, 167 min, FSK: 12


    Diesmal sind zwei Meisterwerke am Start. Jedes für sich nutzt das Medium auf seine Weise, weshalb sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

    Lems Roman gilt mittlerweile als Weltliteratur, weit über das Genre Science-Fiction hinaus. Laut Wikipedia gibt es 31 Übersetzungen, wovon die in der DDR aufschlußreich ist. Schon 1962 lag eine Übersetzung bereit, die aber von der Hauptverwaltung Verlagswesen abgelehnt wurde, weil das Werk zu negativ und zu pessimistisch sei; erst 1983 gab es eine DDR-Ausgabe. Zunächst wurde der Stoff fürs Kino adaptiert, erstmalig 1968 in der Sowjetunion; inzwischen gibt es drei Verfilmungen. 1996 wurde auf der Münchner Biennale eine Kammeroper des Stoffes aufgeführt, und seit 2004 häufen sich Bühnenfassungen und Opern.
    Den Roman habe ich vor einer halben Ewigkeit gelesen, als mir im Krankenhaus der entzündete Blinddarmappendix entfernt wurde. Das war in jungen Jahren mein erster Lem; er stammte aus der Bibliothek des Krankenhauses und war, wenn ich mich recht erinnere, aus dem Science-Fiction-Programm von Suhrkamp. Zu der Zeit machte mich das neugierig, denn insbesondere Suhrkamp galt als der Verlag für den Höhenkamm der Literatur, was für mich einen Widerspruch verkörperte; damals war das Genre als trivial verschrien, als minderwertige Unterhaltungslektüre. Hinzu kam, dass das mein erster polnischer Roman war, in der Zeit des Kalten Krieges ein Werk von jenseits des Eisernen Vorhangs, aus dem Ostblock.
    Ich ließ mich also auf etwas Unbekanntes ein, und das fand ich ein wenig komisch. Er hatte so gar nichts mit Raumschiff Enterprise oder Weltraumopern gemein; ich empfand ihn eigenwillig und skurril, was mir gefiel. Das war schon ein besonderes Sprachkunstwerk, bei dem das Setting immer mehr in den Hintergrund geriet. Was mich beeindruckte, das war die Bibliothek der Raumstation, aus der der Erzähler zitierte. Ein Haufen Theorien über den Ozean der Solaris, eine schräger als die andere, und der philosophische Diskurs um die Frage, ob der Ozean ein Lebewesen sei, ein Alien. Nach der Lektüre bin ich zum Lem-Fan geworden, und wann immer ich in Antiquariaten Werke von ihm gefunden habe, habe ich ohne nachzudenken zugeschlagen.

    Die zweite Verfilmung stellt für mich die definitive Umsetzung dar, auch weil Tarkowski sich den Stoff auf seine Weise zueigen gemacht hat. Tarkowski spielt in meinen Augen in derselben Liga wie Kubrick oder Fritz Lang. Seine Fassung war sein erster Farbfilm und lief 1972 auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes, wo er mit dem Großen Preis der Jury und dem FIPRESCI-Preis geehrt wurde. Tarkowski ist ein bildgewaltiger Regisseur, deshalb empfehle ich jedem, das Werk auf einer möglichst großen Leinwand zu sehen, weil dort seine Brillanz zur Geltung kommt.
    Bei Tarkowski wird das Leben in der Raumstation auf dem Ozean zu einer Kontemplation über das menschliche Leben an sich, irgendwo verstrickt zwischen Schicksal und Schuld. Ähnlich verrätselt wie 2001 - Odyssee im Weltraum und vor dem geschichtlichen Hintergrund das Gegenstück zu Kubricks Meilenstein der Filmgeschichte.

    • Christophe: "Histoire sans paroles – un Arroseur public" (1889)
    • "L'Arroseur arrosé" | "Le Jardinier et le Petit Espiègle" | "Arroseur et Arrosé" | "Der begossene Gärtner" (Frankreich 1895, Société Lumière), Kamera und Regie: Louis Lumière, 49 Sekunden


    Meines Wissens ist das die erste Literaturverfilmung, die erste Verfilmung eines Comics. Und sie stellt etwas Außergewöhnliches dar, denn die Gebrüder Lumière sind in erster Linie für ihre Dokumentarfilme bekannt. Ihre Filme bestehen aus einer einzigen Einstellungen, deren Länge durch die Filmrolle von 17 Metern begrenzt wurde. Gedreht wurde der Film im Garten des lumièreschen Landhauses in Clos des Plages bei La Ciotat im Frühling. Seine Premiere hatte der Film am 10. Juni 1895 bei einem Kongreß der französischen Fotografenvereinigung in Lyon.

    Der Film zeigt einen Gärtner beim Rasensprengen. Ein Junge spielt ihm einen Streich, indem mit seinem Fuß den Schlauch abklemmt, bis der Gärtner irritiert ist. Als der den Schlauch anguckt, läßt der Junge der Wasser spritzen. Der Gärtner bestraft den Jungen, indem ihn an den Ohren zieht und ihm den Hintern versohlt.

    In den nächsten Jahren entstanden diverse Plagiate, wodurch er zu einem Vorläufer des Slapstick wurde. Aber auch von dem Original, das inzwischen frei im Internet steht, gab es drei Fassungen. Durch Presseartikel gab es eine Nachfrage, und bei der berühmten Vorführung im Grand Café am Pariser Place de l’Opéra am 28. Dezember 1895 lief er als sechster von zehn Filmen. Insgesamt hatte die erste öffentliche Aufführung nur 33 zahlende Besucher. Doch deren Anzahl wuchs stetig, so dass im Januar 1896 täglich schon bis zu 2.500 Zuschauer kamen, die einen Franc Eintritt zahlten.

    • Alexandre Dumas (der Ältere): Les Trois Mousquetaires (Éditions P. Baudry 1844) | Die drei Musketiere (Wesché’sche Verlagsbuchhandlung in Frankfurt am Main 1844)
    • D’Artagnan et les trois mousquetaires | Die drei Musketiere (Frankreich / Kanada / Großbritannien / Tschechische Republik 2005), Drehbuch: Pierre Aknine und Gérard Walraevens, Regie: Pierre Aknine, 180 min, FSK: 12


    Eine Inhaltsangabe kann ich mir wohl ersparen. Sicher reicht das Motto: Einer für alle, alle für einen, um Erinnerungen an diesen klassischen Abenteuerroman wach werden zu lassen. Allerdings gibt es da einen Haken, denn einige werden den Stoff in gekürzten und gestrafften Jugendbuchfassungen kennengelernt haben; möglicherweise kennen andere die 65 Folgen umfassende Heftromanserie Die vier Musketiere, die 1976 und 1977 beim Pabel Verlag erschien.
    Bei mir dauerte es bis zum Studium, bis ich mir das knapp 900 Seiten lange Original zugelegt habe - eine Taschenbuchgesamtausgabe der Reihe Les Classiques du Poche aus dem Verlag Le Livre de Poche. Mit dem unschlagbar günstigen Preis dürfte sie das französische Pendant zu unseren Reclamheften sein. Gerade vor dem Hintergrund, dass der Plot schon allgemein bekannt ist, eignet sich der Roman gut dazu, sein Französisch zu vertiefen. Mit den Details und den Subplots bietet er zugleich den Reiz, Neues zu entdecken.
    Dagegen sind die beiden anderen Bände der Trilogie um die Musketiere, Zwanzig Jahre danach (1845) und Der Vicomte von Bragelonne oder Zehn Jahre später (1847-1850), fast schon Geheimtipps für Nerds und Fans klassischer Literatur.

    Adaptationen des Stoffes gibt es in sämtlichen Medien zuhauf, so dass die einzelne Verfilmung in der Masse untergeht. Diese zweiteilige Miniserie wurde für das Fernsehen produziert, und das ist der Version auch anzumerken. Besonders bei den Sets fällt das auf, die fast wie Spielszenen aus Dokus im Stil von Terra X wirken; an den Effekten hat der Zahn der Zeit ordentlich genagt. Während der erste Teil um das Collier der Königin noch der Vorlage folgt, nehmen sich Aknine und Walraevens bei dem gemeinfreien Stoff eine ziemliche Freiheit heraus. Sicher, schon in der Vorlage ist Milady de Winter eine rätselhafte, gefährliche Frau, aber daraus einen Teufelspakt zu machen und ihr einen glatzköpfigen Minion als Sidekick zu geben, finde ich schon grenzwertig.
    Die Kameraführung empfand ich als einfallslose Hausmannskost; und die Dramaturgie war schlicht unmißverständlich, damit auch diejenigen bei der Sache bleiben können, die nebenbei bügeln oder manchmal abgelenkt sind. Am eindrucksvollsten schauspielerte noch Emmanuelle Béart, die schöne Querulantin; Heino Ferch war als Athos zur Abwechslung mal mit langer Mähne zu sehen; und Tchéky Karyo legte seinen Kardinal de Richelieu mit seinen Blofeld-Katzen wie ein anderswo bekannter Bösewicht an.
    Diese Verfilmung bietet familiengerechte Unterhaltung, nicht mehr und nicht weniger, im Vergleich zählt sie jedoch zu den Schwächeren. Mich persönlich hat Richard Lesters Verfilmung (1973/1974) mit Michael York, Oliver Reed, Faye Dunaway und Raquel Welch in meiner Kindheit geprägt, und deswegen würde ich sie der 2005er Fassung immer vorziehen.

  • Ja, das beschreibt auch Robert Merle in seinen späteren "Fortune de France"-Romanen.

    Davon ab halte ich die beiden R.Lester-Filme (Der Nachklapp von 1988 fällt da leider doch stark ab) auch für die gelungensten Verfilmungen. Er hat das nur leider so gut gemacht, daß alle Nachfolger, wenn sie nicht als Ideenlose Epigonen dastehen wollen, gezwungen sind, der Story immer absurdere Wendungen und Ausweitungen oder irrsinnige Materialschlachten aufzupfropfen. Das begann spätestens mit der Verfilmung von 1993 und fand (meiner Meinung nach) den Tiefpunkt in dieser "Schlacht am Himmel" in der Verfilmung von 2011.

    Die beiden neuesten Verfilmungen vom letzten Jahr kenn ich allerdings noch nicht. Vielleicht hat der franz. Regisseur da ja wieder etwas mehr Nähe zum Original gefunden.

    Jeder Idiot kann eine Krise meistern. Es ist der Alltag, der uns fertig macht.

    • Lew Nikolajewitsch Tolstoi: Война и миръ (1865-1869) | Krieg und Frieden (Verlag von A. Deubner 1885-1886)
    • Война и мир | Krieg und Frieden (Sowjetunion 1966 und 1967, Mosfilm), Drehbuch: Sergej Bondartschuk und Wassili Solowjow, Regie: Sergej Bondartschuk, 432 min in 4 Teilen


    Mit seinen Klassikern des realistischen Romans hat Tolstoi Weltliteratur geschrieben. Er stammt aus einem russischen Adelsgeschlecht und besaß ein Gut mit 350 geerbten Leibeigenen, das er humanistisch und religiös reformierte. Von daher besaß einen privilegierten Einblick in die russische Gesellschaft, den er in Krieg und Frieden in der Gestalt des Außerseiters Pjotr Kirillowitsch Besuchow nutzte, denn der ist der uneheliche Sohn eines Grafen und hat in Paris studiert, weshalb er Pierre genannt wurde.
    Der umfangreiche Roman schildert aus russischer Perspektive die napoleonischen Kriege von 1805 bis 1812. Liebe und Tod durchziehen als Hauptmotive das Werk, wobei er in seinen Schilderungen der Schlachten schon spätere Montagetechniken der Moderne vorwegnimmt. Ungewöhnlich für ein Nationalepos schildert er eine feindliche Invasion und eine Niederlage, nämlich das brennende Moskau, die überlebt wird. Das individuelle Schicksal wird zu einem Glücksspiel, bei dem viele ihr Leben lassen. Dabei geht Tolstoi detailliert vor, indem er die luxuriösen Lebensumstände der Oberschicht ausgiebig und präzise offenlegt.

    Als Kind habe ich die Hollywood-Verfilmung (1956) von King Vidor mit Audrey Hepburn gesehen, bei der mir vor allem das brennende Moskau in Erinnerung geblieben ist. Jetzt bot mir arte die russische Version, und bei der blieb mir die Spucke weg.
    Natürlich ist sie lineares Erzählkino, aber von einer Qualität, die ihresgleichen sucht. Es spricht schon Bände, wenn 1969 mitten im Kalten Krieg die sowjetische Verfilmung des russischen Klassikers als bester fremdsprachiger Film mit dem Oscar ausgezeichnet wird.
    Dabei konnte solch ein Meisterwerk wohl nur in der Chruschtschow-Ära entstehen, denn Tolstoi hat eine zutiefst bürgerliche Vorlage geliefert, während die Verfilmung einen tiefen Einblick in die russische Seele gewährt.
    Mit seinen 60 Hauptrollen greift Bondartschuk auf ein Ensemble von Profis zurück, dass er in den unterschiedlichsten Tonlagen präsentiert. Zum einem gibt es exzellent choreographierte Ballszenen in üppigem Dekor, monumentale Schlachtszenen mit tausenden von Statisten und Pferden, in denen Tonnen von Schwarzpulver explodieren, und zum anderen gibt es intime, persönliche Szenen, die teilweise ins Lyrische übergehen, wenn Gedanken Wolken und Landschaften überlagern.
    Dieses Schöpfen aus dem Vollen liefert einen Kontrast zur künstlerischen Vision von Bondartschuk, denn die Kombination Drehbuch, Regie und Hauptrolle zeichnet für gewöhnlich einen Autorenfilm aus. Ehrlich gesagt, ich kam aus den Staunen nicht heraus, zumal der Erzählfluß immer wieder durch experimentelle Sequenzen aufgelockert wird.
    Wer Russland verstehen will, sollte sich dieses Meisterwerk ansehen - und alle anderen auch.

    • Charles Dickens: Oliver Twist; or, The Parish Boy’s Progress (Richard Bentley 1838) | Oliver Twist (J. J. Weber. 1838/1839)
    • Oliver Twist (Großbritannien 2007, WGBH Productions für BBC), Drehbuch: Sarah Phelps, Regie: Coky Giedroyc, 180 min


    Die Geschichte um den Waisenjungen dürfte wohl allgemein bekannt sein, denn Dickens' zweiter Roman gehört zu den Werken die gewissermaßen seinen Markenkern definieren und sein Image in der Nachwelt bestimmen. Ich habe eine Jugendbuchversion davon besessen, vom Ravensburger Verlag, glaube ich, die wohl gekürzt gewesen sein dürfte.
    In Großbritannien sind natürlich ungekürzte Klassikerausgaben erhältlich, aber außerhalb des Sprachraum dürften bearbeitete Fassungen eher die Regel sein, angepaßt an den jeweiligen Markt. Mit Fagin enthält der Stoff jedoch eine Reizfigur, denn die strotzt vor antisemitischen Klischees und wäre heute eigentlich unhaltbar.
    Dickens schildert den Manchester-Kapitalismus und die Lage der Armen ziemlich deutlich; allerdings greift er mit Oliver Twist auf märchenhafte Elemente zurück und zeigt ihn weniger als renitenten Proletarier sondern eher als geborenen Gentleman, der trotz widriger Umstände sein reines Herz behält.

    Seit Stummfilmzeiten gelangt der Stoff immer mal wieder auf die Leinwand, die Mattscheibe oder den Monitor. Mit dieser BBC-Miniserie kenne ich jetzt bewußt drei Verfilmungen, nämlich die Kinofassungen von David Lean (1948) mit Alec Guinness und die von Roman Polanski (2005) mit Ben Kingsley.
    Eigentlich wäre anzunehmen, dass eine längere Laufzeit der Verfilmung guttäte, aber ich empfand eher das Gegenteil. Der Stoff geht zwar in die Breite, aber er geht nicht in die Tiefe, sondern bleibt oberflächlich. Ich hatte das Gefühl, Schauspielern bei Auditions zuzusehen, die in ihren Parts brillieren wollen, sodass der Funke zu mir nicht rübersprang. Diese Version finde ich steril und langweilig, deshalb bleibt unter den modernen Fassungen die Polanski-Verfilmung mein Favorit.

    • Vasilis Vasilikos: Z (Ekdoseis Themelio 1966) | Z (Blanvalet 1968, Verlag Neues Leben 1970, Büchergilde Gutenberg 1970, Rowohlt 1974, Kiepenheuer & Witsch 1986)
    • Z | Z – Anatomie eines politischen Mordes (Frankreich / Algerien 1969, Valoria Films, Reggane Films, ONCIC und Jacques Perrin), Drehbuch: Constantin Costa-Gavras und Jorge Semprún, Regie: Constantin Costa-Gavras, 127 min, FSK: 16


    Zu den bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellern Griechenlands zählt Vasilis Vasilikos, der als DAAD-Stpiendiat mehrere Jahre in Berlin verbrachte und Diplomat bei der UNESCO war. 1967 putschte in Griechenland das Militär und etablierte bis 1974 eine Junta, die seine Schriften nicht duldete und ihn ins Exil zwang. Er kandidierte mehrfach für das Parlament, und konnte 2019 für die linke Partei Syriza einen Sitz gewinnen.
    Ähnlich wie bei Truman Capotes Kaltblütig handelt es sich um einen dokumentarischen Roman, in dessen Mittelpunkt der 1963 nach einer Friedensdemonstration von Rechtsextremisten in Thessaloniki ermordete Grigoris Lambrakis steht, ein Linkssozialist und Aktivist der Friedensbewegung. Die juristische Aufklärung des Attentats zeichnet sich durch viele Ungereimtheiten aus und wurde später als Lambrakis-Affäre bekannt. Lambrakis wurde dabei überfahren und lag lange Zeit im Krankenhaus. Unter den Anhängern des Opfers verbreitete sich der Buchstabe Z als Synonym für "Er lebt"; diese Parole wurde unter der Junta verboten.
    Vasilikos haderte lange mit sich, wie er den Roman zu Papier bringen konnte. Der Knoten platzte, als 1965 Capotes Tatsachenroman erschien. Er gewährt einen Einblick in ein zerrissenes Land, in dem Polizei und Militär mit den Rechtsextremisten mauscheln und eine antikommunistische Grundstimmung herrscht. Vasilikos verschlüsselt die Namen, während er gewalttätige Strukturen offenlegt, in denen der politische Gegner zum Freiwild wird. Zum einen ist der Roman ein Zeitdokument, zum anderen ist er ein Signal, sich von Rechtsextremisten nicht einschüchtern zu lassen.

    Costa-Gavras Verfilmung ist inzwischen ein Klassiker der Filmgeschichte. Gleichwohl ist er selbst ein Teil der Lambrakis-Jugend, also der linken Opposition gegen die Junta, und wurde von hochkarätigen Schauspielern wie Yves Montand, Jean-Louis Trintignant und Irene Papas unterstützt, die teilweise auf ihre Gage verzichteten. Die Musik stammt von Mikis Theodorakis, der damals Vorsitzender der Lambrakis-Jugend war. Weil der Film unter diesen Vorzeichen nicht in Griechenland entstehen konnte, wurde in Algerien gedreht.
    1970 bekam der Film zwei Oscars und war für drei weitere nominiert. Der spannungsgeladene Film verzeichnete fast vier Millionen Besucher in Frankreich, zudem war er in Europa und den USA populär. Die Black Panther Party zeigte ihn bei Aufführungen im Untergrund und präsentierte ihn im voraus auf einer antifaschistischen Konferenz 1969.
    Mit seinem dritten Spielfilm schuf Costa-Gavras einen Meilenstein des engagierten Kinos, einen Politthriller, der bis heute nichts von seiner Brisanz und Brillanz verloren hat und sein Publikum fesseln kann.

    • Peter Høeg: Frøken Smillas fornemmelse for sne (Rosinante & Co A/S 1992) | Fräulein Smillas Gespür für Schnee (Hanser-Verlag 1994, Rowohlt Verlag 1996 und 2004, Süddeutsche Zeitung 2004)
    • Fräulein Smillas Gespür für Schnee | Smilla’s Sense of Snow (Dänemark / Deutschland / Schweden 1997, Bavaria Film, Constantin Film, Det Danske Filminstitut, Greenland Film Production und Nordisk Film), Drehbuch: Ann Biderman, Regie: Bille August, 121 min, FSK: 12


    Den Roman habe ich mir zugelegt und gelesen, als er in der SZ-Bibiothek in einem günstigen Hardcover neu aufgelegt wurde. Der Krimi war ein internationaler Bestseller, der mit zahlreichen Preisen gewürdigt wurde und eine junge Generation des Nordic Noir geprägt hat, eine Sensation auf dem Buchmarkt.
    Im Gegensatz zu den Polizeikrimis von Maj Sjöwall und Per Wahlöö handelt es sich hier um einen Thriller mit einer starken Frauenfigur. Rückblickend betrachtet, bin ich erstaunt, wie früh dieser Schrittmacher erschienen ist. Ich glaube, der Erfolg von Smilla Jaspersen hat den Weg für Lisbeth Salander und Saga Norén geebnet.
    Besonders zu Anfang hat mich der Krimi mitgerissen, weil mir auch sprachlich literarisch gefiel. Die sorgfältig ausgearbeiteten Charaktere faszinierten mich, und ich hatte das Gefühl, Høeg weiß, worüber er schreibt. Mit der Fahrt nach Grönland wich jedoch dieser Eindruck, und ich war nur noch enttäuscht, weil ich das letzte Drittel generisch, schlampig und fahrig fand, als hätte Høeg den Roman hastig abschließen wollen. Das fand ich schade.

    Die Eichinger-Produktion ist natürlich mit Starbesetzung als Blockbuster konzipiert, der vor allem mit grandiosen Aufnahmen von Eis und Schneelandschaften im hohen Norden punkten kann. Julia Ormond füllt ihre Rolle überzeugend aus, aber mit heutigen Augen gesehen, finde ich, wirkt sie zu mitteleuropäisch und nicht indigen genug. Gabriel Byrne bleibt zahlreicher Szenen als Nachbar Peter Føjl recht blaß, zumal er in der Verfilmung keinen Namen hat. Den Nebenstrang mit Benja, Smillas Stiefmutter, der zweiten Ehefrau ihres dänischen Vaters, fand ich dagegen zu übertont und zu platt.
    In gewisser Weise ist die Verfilmung ein Vorläufer der heute allgegenwärtigen Krimiserien aus Skandinavien, von daher lohnt sich eine Betrachtung. Der Klassiker bietet gehobene Unterhaltung und wird beim Showdown in Grönland zum Actionspektakel, insofern ein typischer Eichinger.

    • Anthony Burgess: A Clockwork Orange (William Heinemann 1962) | Uhrwerk Orange. Roman (Heyne 1972) bzw. Die Uhrwerk-Orange. Roman (Klett-Cotta 1993)
    • A Clockwork Orange | Uhrwerk Orange (Großbritannien / USA 1971, Polaris Productions und Hawk Films), Drehbuch, Produktion und Regie: Stanley Kubrick, 131 min, FSK: 16


    Wer Anthony Burgess auf seinen Bestseller A Clockwork Orange reduziert, dem der Schriftsteller seinen wirtschaftlichen Erfolg verdankt, tut ihm unrecht, denn Burgess bediente sich versiert seiner literarischen Mittel und zeigt in seinem Werk eine beachtliche Bandbreite. Sein Hauptwerk Earthly Powers (1980) | Der Fürst der Phantome (1984) wirkt auf mich wie ein Vorbild von Naoki Urasawas Monster. Darüber hinaus war Burgess Komponist und half Jean-Jacques Annaud bei seinem Spielfilm Am Anfang war das Feuer mit der Sprache der Steinzeitmenschen.
    Von einer katholischen Erziehung geprägt, liebte er es zu provozieren. So verwundert es nicht, dass er zwar für den renommierten Booker Prize nominiert war, ihn aber nie erhalten hat. Burgess' schuf mit Alex und seinen Droogs ein stilisiertes Porträt von Gewalt in der Gesellschaft, das er sprachlich mit dem Nadsat, dem russisch geprägten Jugendslang, auf die Spitze getrieben hat. Gerade weil dieser Slang rein künstlich ist, eine kreative Kopfgeburt jenseits des Zeitgeists, kann er nicht veralten und wirkt immer noch frisch. Hier drängt sich der Begriff Sprachgewalt geradezu auf.
    Wenn Alex im letzten Kapitel auf den rechten Weg findet und ein braver Familienvater wird, dann mag das soziologisch gerechtfertigt sein, weil solche Fälle in der Wirklichkeit häufig vorkommen; aber dramaturgisch geht zuviel verloren. Ich habe es als schwaches Ende eines großartigen Romans empfunden.

    Kubrick ist eine Klasse für sich, denn in seinem übersichtlichen Werk finden sich Meisterwerke in Serie. Schon in jungen Jahren begann er in New York als professioneller Fotograf, und seine frühen Filme zeigen, dass er ein geschultes Auge besitzt, mit dem er scheinbar leicht visuell beeindruckende Szenen gestalten kann, die sich regelrecht in das Gedächtnis einbrennen.
    Hier beginnt das schon mit den Kostümen, der Ausstattung wie in der Korova-Milchbar und der Musik von Wendy Carlos. Kubrick schafft hier eine Dystopie der Gegenwart, denn die Gewalt spiegelt sich auf beiden Seiten. Alex' Aversionstherapie mit der Ludovico-Methode ist selbst zum Meme geworden: Das mit Klammern fixierte offene Auge, mit dem Alex auf die Leinwand starren muß. Die Verfilmung soll verstören, soll irritieren und den Nerv des Publikums treffen, um Selbstverständliches zu hinterfragen.
    Kubrick hat verstanden, wie wir Menschen ticken, insbesondere das Unbewußte, und es ist ihm gelungen, das in einprägsamen Bildern auf den Punkt zu bringen.

  • Interessant an der Biografie von Anthony Burgess ist, daß Ärzte 1959 bei ihm einen Gehirntumor feststellten und ihm nur noch kurze Zeit zu leben gaben. Tatsächlich starb er erst 1993. Vielleicht lebte er jahrzehntelang in dem Bewußtsein, daß sein Leben jederzeit vorbei sein könnte (was ja nicht ganz falsch ist).

    Burgess wird von der Science Fiction-Szene vereinnahmt, aber läßt sich nicht auf dieses Genre reduzieren. Wie viele angelsächsische Autoren hat er gern Elemente des Phantastischen in seine Bücher eingebracht.

    • Frances Hodgson Burnett: Little Lord Fauntleroy (Scribner's 1886) | Der kleine Lord (Engelhorn Verlag 1889, Rösl & Cie 1922, Gebr. Paetel 1926, Vollmer Verlag 1955, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. 1960, Loewes Verlag 1975, Deutscher Taschenbuch Verlag 1989, Gerstenberg 1993, Arena Verlag 2010, Rütten & Loening 2015, Nikol Verlagsgesellschaft mbH 2024)
    • Little Lord Fauntleroy | Der kleine Lord (Großbritannien 1980, Norman Rosemont Productions), Drehbuch: Blanche Hanalis, Regie: Jack Gold, 103 min, FSK: 0


    Die britisch-amerikanische Schriftstellerin Frances Hodgson Burnett war die J.K. Rowling ihrer Zeit und bestimmte mit ihren Bestsellern auch die Mode. Ihr Roman über den Cedric Errol bekam gute Kritiken und verschaffte ihr eine Reputation, außerdem wurde ihr Bestseller in zwölf Sprachen übersetzt. Theateradaptionen waren damals ein lukratives Geschäft, und Burnett ging in die Literaturgeschichte ein, weil sie 1888 in England einen Prozeß gewann, in dem sie die dramatischen Rechte für sich erstritt. Dieser Präzedenzfall ging 1911 in das britische Urheberrecht ein.
    Der Roman um den kleinen amerikanischen Jungen, der plötzlich zum Erben seines griesgrämigen Opas wird, des Earl of Dorincourt, ist seither ständig im Buchhandel präsent. Ich habe den Roman irgendwann in den 1970ern als Kind gelesen; allerdings nehme ich an, dass das eine bearbeitete Version gewesen ist. In Cedrics Empfinden für Gerechtigkeit fand ich mich wieder und konnte mich identifizieren. Natürlich ist sein Zugang altersgemäß naiv; wie Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt richtig feststellen, versagt er als ökonomische Analyse selbstverständlich auf ganzer Linie.
    Als Erwachsene finde ich den Konflikt innerhalb der Angelsachsen interessant, also der britische Adel gegen den amerikanischen Traum, der auch in der Literatur für Erwachsene Ende des 19. Jahrhunderts ein Thema gewesen ist. Burnett nähert sich dem Motiv sentimental, um letztlich versöhnliche Töne anzuschlagen. Der Erfolg des Werks ist seit Generationen ungebrochen und hält auch heute noch an.

    Dieser Erfolg findet seinen Nachhall in den Verfilmungen, die es seit der Stummfilmzeit quer über den Globus gibt. Sein Status wird durch eine rituelle Einbindung in den Alltag gefestigt, denn vor 1982 flimmerte die britische Verfilmung von 1936 regelmäßig zur Weihnachtszeit in die Wohnstuben, die dann von der Verfilmung mit Ricky Schroeder und Alec Guinness abgelöst wurde.
    Sobald ich von einer Verfilmung erfuhr, wollte ich die natürlich sehen, und meine Mutter versprach mir, dass ich das bei der nächsten Gelegenheit könnte. Leider kam es nie dazu. Obwohl ich sonst viel im Fernsehen guckte, verpaßte ich Jahr um Jahr die Sendung. Bei uns war es nämlich üblich, dass die Flimmerkiste über Heiligabend aus blieb, und an den Weihnachtstagen bestimmte die Verwandtschaft den Tagesablauf, insbesondere meine Oma väterlicherseits.
    In gewisser Weise bin ich schon ein Alec Guinness Fan, weshalb ich mir die Verfilmung dieses Jahr mal wieder angeschaut habe. Sie hat ihren Reiz, vor allem wenn ich an die englische Landschaft und das Schloss denke. Für Trekkies dürfte Patrick Stewart als Stallmeister Wilkins interessant sein. Ich finde, dass sich diese Verfilmung über die Zeit gut erhalten hat und nicht verstaubt wirkt.

    • Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse: Eine Geschichte vom Leben und Sterben, vom Nacheifern und Abnabeln, vom Verdammen und Verzeihen (Claassen Verlag 2020)
    • Ein Mann seiner Klasse (Deutschland 2024, Saxonia Media), Drehbuch: Nicole Armbruster und Marc Brummund, Regie: Marc Brummund, 89 min, FSK: 12


    Christian Baron stammt aus kleinen, zerrütteten Verhältnissen am Rande der Prekarität. Eine Tante ermutigte ihn, Sportreporter für eine Lokalzeitung zu werden. Nach seinem Studium war er Redakteur beim Neuen Deutschland, später wurde er Politikredakteur der Wochenzeitung Der Freitag; heute lebt er als Schriftsteller in Berlin.
    Als Reporter befaßte er sich damit, wie Arbeitslose, Arme und Arbeiter in den Medien dargestellt werden, in der Regel meist mit einem miesen Image als dumm, faul und frech. Obwohl diese Gruppen lange Zeit die Stammklientel linker Parteien war, werden sie von linken Akademikern, Politikern und Intellektuellen verachtet. Baron sieht in dieser Abwendung, einen der Gründe für den Erfolg der AfD.
    Der autobiografische Roman entstand 2019 aus dem gleichnamigen autobiographischen Essay, den Baron für eine Sonderausgabe des Freitag zum Internationalen Frauentag verfaßte. Der Literaturagentin Franziska Günther gefiel der so sehr, dass sie Baron vorschlug, ein Buch über seine Kindheit zu verfassen. Obwohl die Literaturkritik den Roman zwiespältig aufnahm, stand das Buch auf der Spiegel-Bestsellerliste. 2022 adaptierte das Schauspiel Hannover den Roman für das Theater und wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
    Mit seinem Roman folgt Baron einer französischen Tradition. Mit Rückkehr nach Reims (2009, deutsch 2016) lieferte der französische Soziologe Didier Eribon eine schlüssige Erklärung, warum sich Arbeiter von der Linken abwendeten und jetzt die Partei von Le Pen wählten. Andere Vorbilder sind nach den Rezensionen die soziologisch unterfütterten literarischen Werke von Édouard Louis und der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux.

    Die Verfilmung feierte ihre Premiere am 2. Juli 2024 auf dem Filmfest München.
    Sie konzentriert sich auf den Sommer 1994, in dem der zehnjährige Christian eine Empfehlung für das Gymnasium bekommen hat, auf das ihn seine Mutter Mira schicken will. Sein Vater Ottes ist jedoch ein stolzer Möbelpacker, der trotz seiner Armut die Obdachlosen und Sozialhilfeempfänger verachtet und immer wieder Rio Reiser schmettert. Wenn er aber arbeitslos wird, weigert er sich nicht nur, zum Amt zu gehen, sondern verbietet seiner Familie, jegliche Hilfe anzunehmen. So müssen Christian und seine beiden Geschwister manchmal hungern; in der Not ißt Christian einmal Schimmel von der Tapete. Seine Mutter stirbt an Krebs, weil Ottes sie nicht zum Arzt gehen lassen wollte. Danach kümmert sich seine Tante Juli um die drei Geschwister.
    Solange Ottes gute Laune hat, ist die Welt in Ordnung. Allerdings trinkt er, ist jähzornig und zerschlägt in seiner Wut denn auch Teile der Wohnung. Seine andere Tante Ella nimmt Christian in die Oper mit, besorgt ihm Zeitungen und einen Praktikumsplatz. Als Christian im Freibad fast ertrinkt, entschließt sich Ottes, um die Zuneigung seines Sohnes zu kämpfen. Doch der gewohnte Trott sorgt dafür, dass er unzuverlässig wird und Christian ein ums andre Mal enttäuscht. Als Christian endlich zu seinem Vater umziehen könnte, zögert er; Ottes läßt sich darauf ein und umarmt ihn.
    Ähnliche Stoffe aus Deutschland waren in der Regel Remakes von französischen Filmen, die im Kino erfolgreich waren. Ich finde den Einsatz der Öffentlich-Rechtlichen mutig und konsequent, einen originär deutschen Stoff umzusetzen. Zur Ausstrahlung in der ARD gab es eine begleitende 45minütige Dokumentation, in der Christian Baron die realen Vorlagen seines Romans offenlegt. Ein wichtiger, kleiner Film, der nicht zu unterschätzen ist, denke ich.

    • Lew Nikolajewitsch Tolstoi: Война и миръ (1865-1869) | Krieg und Frieden (Verlag von A. Deubner 1885-1886)
    • War & Peace | Krieg und Frieden (Großbritannien / USA 2015, BBC Cymru Wales, The Weinstein Company, Lookout Point und BBC Worldwide), Drehbuch: Andrew Davies, Regie: Tom Harper, 382 min in 4 oder 6 Folgen


    Bei arte stehen zwei Verfilmungen jetzt zum direkten Vergleich, zum einen die von Sergej Bondartschuk (siehe #263) und die jüngste als Miniserie für das Fernsehen.

    Gedreht wurde in Russland, Litauen und Lettland von einem eingespielten Team, das sich erfolgreich auf Literaturverfilmungen und historische Filme spezialisiert hat. Bei der angelsächsischen Kritik kam die Verfilmung ausgesprochen gut an, teilweise wird sie als das beste Kostümdrama der vergangenen Dekade gelobt, was ich ein bißchen übertrieben finde. Wer auf diese Weise zum ersten Mal mit Tolstoi in Kontakt kommt, dem wird das Drama werkgetreu vermittelt, obwohl die Schlachten von Austerlitz und Borodino sowie das brennende Moskau arg kurz in Szene gesetzt wurden, was ich enttäuschend fand.
    Andrew Davies nimmt das Publikum eng an die Hand und setzt die Vorlage pointiert um, wobei deutlich wird, dass er weder Regie führt noch eine der Hauptrollen spielt. Die einzelnen Szenen werden unmißverständlich ausbuchstabiert, um bloß keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, fast wie in einem Drehbuchseminar. Dadurch wird zwar klar, wieso sich zum Beispiel Pierre Besuchin wie entwickelt, aber die Figuren bleiben immer typisiert, so dass manches fast schon platt wirkt.
    Verglichen mit der Bondartschuk-Fassung konnte ich spüren, dass hier keine Muttersprachler am Werk waren. Auf mich wirkte die Verfilmung weniger wie ein Classics Illustrated, sondern eher wie Königs Erläuterungen, die dem Publikum eine bestimmte Interpretation des Werkes nahelegen. Ich kann nicht beurteilen, wie gut die englische Übersetzung gewesen ist, die Davies als Grundlage diente. Teilweise bekam ich den Eindruck, eine Verfilmung von Charles Dickens oder Jane Austen in einer russischen Kulisse zu sehen, was mir überhaupt nicht gefiel. Es ist eine handwerkliche gelungene Fassung mit einem deutlichen angesächsischen Akzent, den ich nicht überhören konnte.
    Die Verfilmung von Bondartschuk finde ich um Klassen gelungener, und der werde ich immer den Vorzug geben.

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