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17.08.2017, 14:17 | #1 |
Moderatorin Internationale Comics
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Wie bei der Mathematik unterscheiden sich bei der Kunst die eigene Sicht von innen und die Sicht von Emma und Otto Normalbürger. Die haben entweder große Ehrfurcht, weil sie nix verstehen, oder halten den Kunstbetrieb für Mumpitz.
Von außen ist das ein Schwarzer Monolith, von innen eher ein mehrdimensionales Labyrinth à la M.C. Escher. Und dabei taucht ein Problem auf, das zu einem Paradoxon führt: Eine Zeitlang läßt sich Originalität durch Tabuverletzungen und Grenzüberschreitungen (zum Beispiel Gemälde auf dem Kopf) herstellen. Aber Kunst soll ja gerade nicht beliebig sein, weil sie sonst nicht als Ausweis von Kultiviertheit repräsentiert werden kann. (Pierre Bourdieu nennt das Distinktion.) Allmählich merken das die jungen Leute, die Kunst studieren. Wenn alles erlaubt, ist das schön und gut.Wer von Kunst leben will, braucht mehr als den 15-Minuten-Ruhm (heute wohl eher 15-Sekunden-Ruhm). Und für eine langfristige Karriere benötige ich eine feste und breite Basis, damit ich mich weiterentwickeln und Anregungen verarbeiten kann. Mittlerweile fordern junge Semester gut fundierte handwerkliche Grundlagen wie anatomisches Zeichnen oder Drucktechniken und wollen sich in der Kunstgeschichte auskennen. Das Handwerk gehört notwendig zur Kunst - nur ist nicht jedes Handwerk überall eine Kunst (siehe Paul Bocuse). Geändert von Servalan (12.12.2021 um 15:20 Uhr) |
17.08.2017, 14:42 | #2 |
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Also eine Auskunft, welchen Stellenwert man Tintoretto geben kann, bekomme ich hier wohl nicht mehr...
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17.08.2017, 14:50 | #3 |
Moderator Deutsche Comicforschung
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Stell dich doch einfach vor einen Tintoretto und lausche, ob du die Aura des Kunstwerks spürst.
eckrt |
17.08.2017, 15:10 | #4 |
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So eine Antwort hätte ich jetzt von Servalan auch erwartet: "Schönheit liegt im Auge des Betrachters."
Vor 30 Jahren habe ich mir um die 20 Tintoretto-Schinken in Venedig genauestens angesehen und bin sie abgeschritten. Von Tizian habe ich nur zwei bis drei Bilder betrachtet. Also ist klar, welcher Maler für mich der Bessere ist. |
17.08.2017, 16:25 | #5 | |
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Zitat:
Tintoretto hat zum Teil grauenhaft verkorkste Perspektiven, des öfteren entgleist die Bildkomposition völlig, vieles wirkt wie Theaterkulissen. Der Mann und seine Mitarbeiter waren eine Massenfabrik für Riesengemälde. Da wurden ohne Rücksicht auf die jeweilige Lichtquelle Figuren zusammen gesetzt, zum Teil auch noch in der falschen Bewegungsphase – furchtbar. Dagegen Tizian, da stimmen Licht und Schatten, die Komposition, die Perspektive. Ein Meister, obwohl natürlich auch Auftragsmaler im Sinne von – malen was der Auftraggeber will. |
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17.08.2017, 17:02 | #6 |
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Wie gesagt: Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Wenn man in der Schule Eichendorff auswendig lernen muß, wird man ihn wahrscheinlich grauenhaft finden. Wenn man ihn aus freien Stücken liest, kann das anders sein.
Ich habe auf meinen Lehrer große Stücke gehalten (auch wenn er mich für verkorkst hielt). Er hat mir auch eine Anleitung gegeben, wie man diese Riesengemälde sehen muß. Ich habe Tintorettos Räumlichkeit, seine tolle Lichtführung und die lebendige Bewegtheit seiner Figuren gesehen. Unter anderen Umständen wäre es wohl anders gewesen. Leider bin ich kein Fachmann und weiß daher nicht, ob ich den richtigen Eindruck hatte oder mir was vorgemacht habe. |
17.08.2017, 18:35 | #7 |
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Ich mache dir mal ein Beispiel – es gibt viele – das Gemälde Mariä Tempelgang –
siehe unter > https://s-media-cache-ak0.pinimg.com...00cb1c0deb.jpg Die Perspektive der Treppe ist nicht vorhanden. Fast wie eine glatte, linierte Wand die sich nach oben windet. Die oberen Treppenstufen müssten eigentlich in Untersicht zu sehen sein. Die Lichtquellen sind völlig willkürlich gesetzt. Woher kommt das Licht? Vom Himmel? Von Links? Von Rechts? Jede Figurengruppe wird anders bestrahlt. Die Kompositionen der Figurengruppen stehen alle für sich, haben keinen Bezug zueinander. Vermutlich hat Tintoretto in seiner Werkstatt unterschiedliche Modelle zu unterschiedlichen Zeiten antanzen lassen und sie dann eben ins Bild gruppiert.. Z.B. die Figuren im Vordergrund (Frau und Kind) wirken viel kleiner als die Figuren im mittleren, linken Bereich auf der Treppe. Dort scheinen zwei Riesen zu sitzen. Die Proportionen sind also völlig verschoben. Der Rest des Bildes ist Theaterkulisse, in den oberen Rängen lümmeln ein paar Apostel über die Balustrade. Das alles ist übrigens keine Geschmacksfrage, sondern einfach Technik. Er konnte zweifelsohne sehr gut malen, aber der Rest – hinterfragungswürdig. Wundert mich nicht, dass ihn Tizian rausgeworfen hat. |
17.08.2017, 15:44 | #8 | |
Moderatorin Internationale Comics
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Zitat:
Allerdings wird ihm ein italienischer Kunsthistoriker wohl einen höheren Rang einräumen als seine Kollegin aus Fernost, die sich auf Performance und Kunst der Gegenwart spezialisiert hat. Bei der Serie Achtung, Kunstdiebe mußte ich an Canaletto denken. In den 1970er Jahren war dieser Name allgemein geläufig, deshalb eignete er sich für leichte Unterhaltung. Heute kommt da wohl eher eine bescheidene Nachfrage, und dann heißt es: "Stimmt, den hatte ich fast vergessen. Aber jetzt ... wo du es sagst." |
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17.08.2017, 16:23 | #9 |
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Ah, danke. Das ist jetzt für mich nicht die große Offenbarung, aber hilft doch ein Stückchen weiter.
Es gibt ein paar Indizien, die ich auch kannte und die dafür sprechen, daß er wohl schon etwas herausragte: - Er steht an der Schwelle von der Renaissance zum Barock, wobei ich ihn vom eigenen Eindruck her als echten Barockmaler eingeordnet hätte. - Er hat ein sehr großes Werk hinterlassen; es gibt also sehr viel Material von ihm, mit dem man sich auseinandersetzen kann, und er zeigt eine große Bandbreite von Ausdrucksmöglichkeiten. - Er stand in Konkurrenz zu Tizian. Man sagt, Tizian habe ihn als Gehilfen eingestellt, bald aber aus seinem Atelier hinausgeworfen (war aber wohl in erster Linie das Problem Tizians). Beide haben eine sehr unterschiedliche Wirklichkeitsauffassung - Tizian war Idealist, Tintoretto hat sich viel stärker der schäbigen Wirklichkeit zugewandt. - Was man hier vielleicht auch noch erwähnen sollte: Er hatte eine Tochter, Marietta, die ebenfalls eine bedeutende Malerin war; leider ist sie mit etwas über 30 schon gestorben. Auch sie nannte sich "Tintoretto" - also ist das auch ein Fall für Feministinnen. |
17.08.2017, 21:27 | #10 | |
Moderatorin Internationale Comics
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Zitat:
Es gibt aber einen Graubereich, bei dem es vom Umfang des Werkes abhängt, wer noch reinkommt und wer leider draußenbleiben muß. Bei "Kunstgeschichte in 99 Meisterwerken" fiele Tintoretto wohl unter den Tisch, bei einem 800seitigen Folio hat er wesentlich bessere Chancen. Insofern lautet die Frage: Welche Meister kann ich ignorieren? |
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17.08.2017, 16:37 | #11 |
Moderator Deutsche Comicforschung
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17.08.2017, 18:45 | #12 | |
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Zitat:
Wenn der Maler es im Absinth-Rausch erlebt hat und es dann von Fassbinder im Kokain-Rausch verfilmt wurde, kann es auch "leichte Unterhaltung" sein. Wie kommst du denn jetzt auf den Joe Sacco? Ist natürlich keine leichte Unterhaltung. |
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17.08.2017, 19:11 | #13 |
Moderator Deutsche Comicforschung
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Ganz einfach: Die beiden Canalettos haben ihre Zeit wiedergegeben, so wie sie sie sahen. Joe Sacco macht das auch. Beides "leichte Unterhaltung" (sagt Servalan für die 70er Jahre)?
Im 18. Jahrhundert war man noch nicht scharf auf Absinth und Fassbinder. eckrt |
17.08.2017, 20:39 | #14 | |
Moderatorin Internationale Comics
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Zitat:
Von künstlerischer Qualität war bei mir nie die Rede. Ob sich etwas beim Publikum als "leichte Unterhaltung" vermitteln läßt, hängt mehr mit PR und guter Presse zusammen. Da genießt Tizian mit dem "Tizianrot" einen unschlagbaren Vorteil, der es wahnsinig schwer macht, ihn zu ignorieren. Die biographischen Feinheiten von Canalettos Doppelpseudonym treten dabei in den Hintergrund. Es sind eher grobe Signale wie Alte Meister, Italiener und Bilder, die im Museum hängen, und nicht in Galerien oder unvollendet im Atelier stehen - weder Dürer noch Beckmann eben. So wie die B***-Zeitung heute mit Gerhard Richter verfährt: Als die sich 2006 über die Kölner Domfester aufgeregt haben, konnten sie das mit einer Schlagzeile auf dem Titel kommentieren. Jahre später gratulieren sie ihm dann zum 85. Geburtstag ... Die meisten Künstler gehen der Zeitung am Allerwertesten vorbei, die bekommen nicht einmal eine Meldung von drei Zeilen unter Vermischtes. |
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17.08.2017, 16:31 | #15 | |
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Zitat:
Merkt man auch an den neuen Strömungen Richtung realistische Malerei. |
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