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Alt 09.11.2015, 14:02   #1  
Servalan
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gold01 Jenseits von Reclam: Klassiker entstaubt

Pflichtlektüren haben Nebenwirkungen. In der Schule darf sich niemand dem Stoff entziehen, schließlich ist der prüfungsrelevant. Die billigen Ausgaben für den Unterricht sind Arbeitsmaterialien, die nach Vorgabe von oben Kapitel um Kapitel durchexerziert werden und schließlich entsprechend abgenutzt aussehen - siehe auch die Klassiker-Comicadaptionen von Flix.
Lust bringt das nur den Wenigsten.

Einige lassen sich davon jedoch keineswegs abschrecken. Andere entdecken die günstigen Ausgaben später für sich wieder, stolpern zufällig über Second-Hand-Bücher, leihen sich die aus oder finden zufällig ein Exemplar am Straßenrand ("Umzug: zu verschenken!").
Geschmäcker sind verschieden.
Was dem einen gefällt, über das rümpft der nächste die Nase.
Dennoch bin ich mir sicher, daß die meisten den einen oder anderen Klassiker zu ihren Lieblingsbüchern zählen. Mich interessiert dabei, warum ihr diese Werke liebt, wie ihr zu ihnen gefunden habt. Manchmal sind die der Grund, sich später eine bessere, eine stabilere Ausgabe zu besorgen, möglicherweise mit Hintergrundmaterial oder Sammlerexemplare.

Infrage kommen dabei entweder die internationalen Klassiker aus den einschlägigen Buchreihen (Reclam, Penguin Popular Classics / Penguin Modern Classics, Wordsworth, J'ai lu oder folio). Außerdem sollten die Titel in der Schule, an der Universität oder anderswo regulär auf dem Lehrplan stehen.
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Alt 09.11.2015, 14:34   #2  
Servalan
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Standard Henry James: The Aspern Papers (1888)

Penguin Popular Classics [PPC], 137 Seiten
https://en.wikipedia.org/wiki/The_Aspern_Papers
http://www.gutenberg.org/files/211/211-h/211-h.htm

Manche Dinge ändern sich nie: Dichterwitwen und Gerüchte über angeblich versteckte Mauskripte von berühmten Werken gab es schon vor Stieg Larsson.

In der Erzählung fährt der Ich-Erzähler, ein Literaturwissenschaftler nach Venedig, weil er bei Miss Bordereau und deren Nichte ein Manuskript vermutet, das ihm zu einer Karriere an der Universität verhelfen könnte. Miss Bordereau war einmal die Geliebte des amerikanischen Dichters Jeffrey Aspern, dessen Liebesgedichte von Publikum und Kritik gefeiert wurden. Durch Tricks, Listen und Finten schleimt sich der Ich-Erzähler ein, um im Palazzo heimlich den Nachlaß zu durchforsten. Natürlich bekommen das die "Dichterwitwe" und ihre Nichte mit ...

An meiner Uni halten die Buchhandlungen einige Regale für fremdsprachige Bücher frei: eine Mischung aus Klassikern und den Pflichtlektüren für die Seminare des Semesters. Ähnlich wie LTBs können PPCs nicht gezielt bestellt werden, denn die Buchhandlungen müssen immer eine bestimmte Mindestmenge abnehmen, meist Sendungen mit 12-20 Exemplaren.
Deshalb habe ich regelmäßig dort gestöbert. Auf diese Weise habe ich mir nach und nach eine kleine Sammlung von englischsprachigen Klassikern im Original angelegt.

Henry James ist ein spezieller Fall aus meiner Sicht. Wenn er gut ist, mag ich ihn; und meiner Ansicht nach gelingt ihm das bei seinen kürzeren Werken am besten. James wurde in den USA geboren, zog aber später nach Groißbritannien, wo er sich unter anderem mit Joseph Conrad anfreundete. Seine berühmteste Geschichte ist The Turn of the Screw (1898, das unter mehreren deutschen Titeln erschien: Das Durchdrehen der Schraube, Die Unschuldsengel, Das Geheimnis von Bly oder Die Drehung der Schraube.)
The Aspern Papers ist in etwa so umfangreich wie The Turn of the Screw. James nannte das Format 'tale', heute wäre der Zusatz wohl 'Kurzroman', obwohl das altbackene 'Novelle' ebenfalls zutrifft. Das Manuskript von Aspern liefert einen MacGuffin für ein Katz-und-Maus-Spiel, das mich gefesselt hat.

Kein Wort zuviel. Ein Thriller ohne Leiche.

Geändert von Servalan (27.01.2017 um 13:11 Uhr)
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Alt 09.11.2015, 14:35   #3  
Peter L. Opmann
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Manchmal kommt mir das wie eine Schutzbehauptung vor: "Die Schule hat mir die Lust auf Klassiker verdorben."

Was eine Rolle spielen kann, ist, daß die Themen in der Schule völlig falsch vermittelt werden - ideenlos, unsensibel, nur mit Druck ("das habt ihr auswendig zu lernen").

War bei mir glücklicherweise nicht so. Die meisten meiner Deutschlehrer mochte ich. Die Schule hat mir Zugang zu vielen Klassikern verschafft.

An erster Stelle nenne ich "Effi Briest" von Theodor Fontane. Dieser Roman hat mich tief angerührt - bis heute.

Wohl kein Theaterstück habe ich so eingehend auseinandergenommen und mir seine Mechanismen, Wirkungsweisen und seine Sprache so genau angesehen wie Goethes "Faust". Leider haben wir damals aus Zeitmangel "Faust II" nur noch in groben Zügen behandelt.

An viele Kurzgeschichten, die wir behandelt haben, erinnere ich mich noch heute sehr genau. "Der Brötchenclou" von Wolfdietrich Schnurre, "Ein Wohltätigkeitsbesuch" von Eudora Welty, "Vor dem Gesetz" von Franz Kafka, die Keuner-Geschichten von Bertolt Brecht.

Gedichte mochte ich nicht besonders. Aber die Ballade "Die Bürgschaft" von Schiller hat mich doch beeindruckt.

Lateinunterricht war natürlich nicht so lustig wie Deutsch. Aber die Lektüre von "De Bello Gallico" von Julius Caesar hat mir doch auch einiges gebracht.

Und auch wenn das hier nicht hergehört: Wir haben im Deutschunterricht auch Comics behandelt. Auf die gleiche Weise: Wie wird da erzählt? Wie funktionieren Comics? Ob man Comics mochte oder nicht, blieb den Schülern selbst überlassen.
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Alt 11.11.2015, 12:21   #4  
Servalan
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Standard Aus dem Nähkästchen geplaudert

Ich glaube, es kommt auf beides an: Eine gute Lehrerin oder einen Lehrer, also jemanden, die oder der seine Begeisterung vermitteln kann - und auf der anderen Seite einen guten Text, der einen eigenen Reiz hat. Jenseits der Botschaft, die wir dechiffrieren mußten ("Was will uns der Dichter damit sagen?").

Gewisse Werke haben eine Qualität, die niemand unter den Teppich kehren kann: Goethes "Erlkönig" hat auch heute noch Gänsehautqualität. Die kurzen Sachen von Brecht hatten schon was, und Kafka halte ich für unkaputtbar.
Allerdings gibt es gewisse Modeströmungen, und in meiner Schulzeit in den 70er und 80er Jahren war das die "engagierte Literatur": Böll, Wallraff und Konsorten. Die meisten Werke haben mich nicht überzeugt, aber ich konnte liefern, was von mir erwartet wurde.

Wenn die Sache so simpel wäre, müßte ich Fernsehserien hassen. Zu meiner Schulzeit flimmerte "Holocaust" über die Mattscheibe. Die Geschichtsleher der 9. oder 10. Klasse meinten, wir Schüler müßten das gesehen haben. Deshalb wurde ein "Medienraum" oder "Fernsehzimmer" improvisiert, durch das die Klassen reihum durchgeschleust wurden.
Der Haken an der Sache: Bei 45 Minuten pro Schulstunde reichte die Zeit nicht für eine Folge. Abgesehen davon, daß die Lehrkräfte meiner Erfahrung nach gewisse Probleme mit technischen Geräten hatten, wurden die VHS-Kassetten so lange mittendrin vorgespult, bis die Folgen in den Stundenplan paßten. Als wir das Berieseln über uns ergehen lassen mußte, fühlte ich mich an die "Haßpropraganda" aus Orwells 1984 erinnert.

Mich würde mal interessieren, was zur Zeit in der Schule abgeht. Dort stehen ja moderne Klassiker wie Patrick Süskinds Das Parfüm, Bernhard Schlinks Der Vorleser oder Umberto Ecos Der Name der Rose auf dem Lehrplan. Manchmal sogar Art Spiegelmans Maus oder Heuvels Anne-Frank-Comic.
Kommt das an? Oder quälen sich die Pennäler da durch?

Geändert von Servalan (11.11.2015 um 12:29 Uhr)
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Alt 11.11.2015, 14:19   #5  
Peter L. Opmann
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Mir fällt es leichter zu sagen, was in der Schule prägend war, als was nicht prägend war ("Modeströmungen"). Generell denke ich, daß wir uns wenig mit Zeitgenössischem beschäftigt haben, also sowas wie "Die Wolke" von Gudrun Pausewang, obwohl die auch noch aus unserer Region stammt.

Aber an vieles kann ich mich auch nicht mehr erinnern. Wir haben glaube ich auch was von Heinrich Böll gelesen, aber ob das "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" war oder ob ich das durch den Schlöndorff-Film mitbekommen habe, weiß ich nicht mehr... Vieles, was nichts taugt, schätze ich, habe ich wieder vergessen.
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Alt 11.11.2015, 18:53   #6  
Servalan
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Standard Alexandre Dumas (père): Le Comte de Monte-Cristo (1844-1846)

Le Livre de Poche: Les Classiques de Poche, 798 Seiten (Band 1) + 797 Seiten (Band 2)
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Gr..._Monte_Christo

Jugendbücher werden häufig in der einen oder anderen Weise bearbeitet. Wenn sie in Reihen erscheinen, werden die einzelnen Bände auf eine bestimmte Weise getrimmt, meist gerafft und gestrafft. Natürlich kannte ich schon in jungen Jahren das Grundgerüst der Story, aber bei einem anderthalbstündigen Spielfilm oder einer 180-250 Seiten langen Fassung bleibt bloß ein Skelett von diesem Abenteuerroman übrig.

Mittlerweile ein fester Bestandteil der französischen Literaturgeschichte, gibt es auch von diesem Klassiker preiswerte Studienausgaben für Romanisten und andere Interessierte.
Dabei war der Roman eine Auftragsproduktion, mit der Dumas den damaligen Blockbuster von Eugène Sue Les Mystères de Paris (1843) in die Schranken weisen wollte. Statt einer Stadt überbot er seinen Konkurrenten mit drei Städten (Marseille, Rom und Paris), wo sich ein weit verzweigtes Geflecht von Komplotten, Intrigen und Karrieren entfaltet. Bei den meisten Bearbeitungen reduziert sich das Geschehen auf die Rache des unschuldig verurteilten Edmond Dantès, die lediglich im Hintergrund das Gesellschaftspanorama zusammenhält.

Länge ist relativ: Eine langweilige Kurzgeschichte erscheint mir länger als ein fabelhaft inszenierter Roman.
Wer mit dem Abenteuer des Grafen von Monte Christo zufrieden ist, hat das meiste überflogen.

Einerseits gewährt Dumas einen Einblick in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und spannt seinen Bogen dann bis in damalige Gegenwart: Der verbannte Napoleon, der sein Comeback plant (das bei Waterloo grandios scheitern wird), wird auf diese Art ebenso zum Element wie der technische Fortschritt (vom Segelschiff zum Dampfboot, in der Telegrafie) oder der Rom-Tourismus der gebildeten Oberschicht.
Als das Segelschiff Pharaon das zweite Mal in Marseille einläuft, ist der Windjammer ein Oldtimer, der für eine Reederei wirtschaftlich unrentabel wäre. Das Spiel mit Pünktlichkeit und Präzision oder den fünf Alter Egos der Grafen geht in Richtung von Verkleidungstalenten wie Sherlock Holmes oder Dr. Mabuse.
Literarisch besonders modern empfand ich den fast schon psychedelischen Mittelteil in Rom, wo Touristen zum Spaß gefoppt werden, falsche und echte Räuber sich ein Stelldichein geben.

Mit welcher feinsinnigen Ironie Dumas sein Garn gesponnen hat, wird in einer der Schlußszenen deutlich, in denen der Graf von Monte Christo das Château d’If besucht. Wie im Ric Hochet / Rick Master-Album dient das stillgelegte Inselgefängnis als touristische Attraktion. Dantès erkennt einen seiner ehemaligen Wärter, den er nach Anekdoten fragt, und dieser erzählt Dantès seine eigene Geschichte, ohne daß der den ehemaligen Häftling erkennt.

Mehr als ein Jugendbuch, eines der besten Bücher von Dumas. Für Jüngere eine spannende Geschichte, Erwachsene werden die Zwischentöne genießen.

Geändert von Servalan (11.11.2015 um 19:07 Uhr)
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Alt 11.11.2015, 19:36   #7  
Peter L. Opmann
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Das scheint mir jetzt eher in die Reihe "Klassiker, die in der Schule unter den Tisch fielen" zu gehören.

Mir ist die angelsächsische Literatur näher. Als ich Schüler war, gab es eine Gesamtausgabe der Werke von Edgar Allen Poe für 99 Euro (wenn ich mich recht erinnere). Mein Onkel, der ursprünglich Deutschlehrer werden wollte, was dann durch die Nachkriegszeit nicht möglich war, hat damals die Nase gerümpft und gesagt: "Das liest du doch nie."

Er hatte recht. Durch den Wust an Essays, Rezensionen und seine Korrespondenz habe ich mich nicht durchgekämpft. Aber es gibt viele Texte von Poe, die absolute Klassiker sind. Ich glaube, Charles Baudelaire war der erste, der die Bedeutung von Poe erkannt hat.
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