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Alt 14.06.2016, 18:57   #51  
Servalan
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Standard Théophile Gautier: Le Roman de la momie / Der Roman der Mumie (1858)

Diverse Ausgabe, daunter Maxi-Poche, Classique Français 1995, 253 Seiten
https://beq.ebooksgratuits.com/vents/gautier-momie.pdf (Volltext bei der La Bibliothèque électronique du Québec)
https://fr.wikipedia.org/wiki/Le_Roman_de_la_momie
http://www.mediterranees.net/romans/momie/sommaire.html

Das antike Ägypten findet eigentlich immer ein dankbares Publikum, und das schon seit geraumer Zeit. Allerdings verschiebt sich der Schwerpunkt, so daß mal historisch belegte Fakten im Vordergrund stehen (siehe Jan Assmann), mal eher eine esoterische Wunschvorstellung (ich verweise auf das Buch von E.W. Hornung: Das esoterische Ägypten). Dem Alter der gewünschten Leserschaft läßt sich das Ambiente anreichern, Erotik für Erwachsene oder Hinweise auf das Alte Testament für Bibelfeste. Und seit C.W. Cerams Sachbuch-Klassiker und Bestseller Götter, Gräber und Gelehrte läßt sich die Vorgeschichte der Ägyptologie als fesselnde Abenteuergeschichte von Glücksrittern, Schatzsuchern und Gläubigen nachlesen.

Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts gelang es Gautier, möglichst viele Aspekte des Themas unter einen Hut zu bringen. Bei dieser Rubrik geht es mir auch darum, effektiv möglichst viele Schreibstile kennenzulernen und einen groben Überblick über die Epochen der Literaturgeschichte zu vermitteln.
Gautier drängt sich regelrecht auf, weil sein Roman in drei Teile zerfällt, die unterschiedliche Genres repräsentieren.

Der Einstieg erfolgt über einen Prolog, in dem erzählt wird, wie die Mumie nach 3500 Jahren wieder ans Tageslicht gekommen ist: Der englische Lord Evandale und der deutsche Ägyptologe Dr. Rumphius sind an den Nil gereist wie die späteren Entdecker des Grabes von Pharao Tut-Ankh-Amun.
Als Führer heuern sie den zwielichtigen Griechen Argyropoulos an, der sie ins Tal der Könige bringen soll. Nach langen Anstrengungen werden sie (natürlich) in einer Pyramide fündig, doch zu ihrer Überraschung liegt darin kein Pharao sondern die schöne Hofdame Tahoser.

Der zweite Teil schildert nun das Leben Tahosers in Theben, die das ganz große Los gezogen zu haben scheint: Der Pharao verliebt sich in die Tochter des Hohepriesters Pétamounoph. Aber die liebt den wesentlich älteren Juden Poëri, der Rachel versprochen worden ist. Unter dem Decknamen Hora schleicht sie sich heimlich ins jüdische Viertel und lernt die Not dort kennen.

Im dritten Teil geht sie auf die Avancen des Pharaos ein, um den jüdischen Sklaven zu helfen. Der Pharao weigert sich, wofür er mit den sieben Plagen bestraft wird. Moses bleibt hartnäckig, und bald darauf brechen die Juden zur Flucht auf ...

Gautier hat auf seinen Reisen Ausgrabungen aus der Antike besucht und ist mit dem Forschungsstand seiner Zeitgenossen vertraut. Gerade die Brüche machen seinen Roman heute noch interessant: Die Rahmenerzählung gleicht einem Indiana Jones-Abenteuer aus der Hand von Jules Verne, dann öffnet er ein breites gesellschaftliches Panorama wie in einer historischen Serie ... und zum Schluß läßt er die Vorgeschichte des Exodus lebendig werden.
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Alt 19.06.2016, 16:04   #52  
Servalan
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Standard Georg Büchner: Woyzeck (1836/37, erschien erstmals 1879)

Diverse Ausgaben, zuletzt in der Marburger Ausgabe 2006, darunter auch Altamira Literaturcomic 1990, 62 Seiten
Die Lese- und Bühnenfassungen unterscheiden sich erheblich voneinander, weil Büchner nur ein Fragment hinterlassen hat.
https://de.wikipedia.org/wiki/Woyzeck
http://www.gutenberg.org/ebooks/5322 (Volltext bei Projekt Gutenberg-DE)
http://www.gutenberg.org/ebooks/21185 (gemeinfreie Hörbuchfassung bei Projekt Gutenberg-DE)
http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/Buechner/woyzeck.htm (Der Fall Woyzeck)

Aufgeführt wurde das soziale Drama fast zwei Generationen später, nämlich am 8. November 1913 im Residenztheater München. Dadurch liegen zwischen Büchners Handschrift und der Premiere auf den Brettern, die die Welt bedeuten, fast 80 Jahre, und das ist kein Zufall. Denn das Stück hätte das bürgerliche oder höfische Publikum der 1830er Jahre enttäuscht, weil es weder ein bürgerliches Trauerspiel war, noch zu den Idealen der Klassik oder Romantik paßte. Soweit zum historischen Hintergrund.

Mich verwundert das nicht.
Dieses Drama um einen Getriebenen paßt besser in eine Epoche, in der jeder Jack the Ripper kennt und der Erste Weltkrieg in der Ferne dräut.
Der Soldat Woyzeck muß sich als Ordonnanz eines Offiziers einiges für seinen mageren Lohn bieten lassen. Weil der zum Sterben zuviel, aber zum Leben zu wenig ist, verdient er sich bei einem Mediziner sein Zubrot. Heute nennt sich das Pharmastrich: Das medizinische Experiment besteht in einem strikten Diätplan, also darf Woyzeck nur Erbsenpüree essen.
Woyzeck liebt Marie, der er seinen kompletten Sold abgibt. Deswegen läßt er sich sowohl vom Offizier als auch vom Arzt triezen und drangsalieren. Als er jedoch spitzkriegt, daß ihn seine Marie mit einem Tambourmajor hintergeht und sich sein Verdacht bestätigt, fängt er an, Stimmen zu hören. Und die befehlen ihm, Marie umzubringen ...

Daß Büchner gerade diesen Stoff gewählt hat, ist kein Zufall. Büchner muß ein wahrer Tausendsassa gewesen sein, der drei Leben auf einmal gelebt hat.
Der Pate des bedeutendsten deutschen Literaturpreises war im Brotberuf ein Mediziner, der an Universitäten in einem Bereich forschte, der heute das Label "Lebenswissenschaften" trägt.
Sein Spezialgebiet war die Neurologie und die Erforschung des Gehirns. Seine Probevorlesung an der Universität Zürich hielt er "Über Schädelnerven". Das Material seiner Untersuchungen waren die Köpfe von frisch Enthaupteten.
Allerdings drohte ihm ein ähnliches Schicksal. Der Sohn aus einer Ärztefamilie wurde steckbrieflich als Terrorist gesucht. Seine heute noch beliebte Parole "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" aus dem Hessischen Landboten (1834) wurde jahrzehntelang in linken und anarchistischen Kreisen skandiert.
Seine literarischen Meilensteine enstanden bei dem Workoholic quasi nebenbei.

Dort bündeln sich seine verschiedenen Interessen.
Der historische Fall des Drama bildet den Fokus für einen juristisch-medizinischen Paradigmenwechsel, denn seither wird über menschliche Zurechnungsfähigkeit und Schuldfähigkeit gestritten. Erstmals kommt hier ein medizinischer Gutachter ins Spiel, der das Gericht berät und im Vorfeld des Urteils vieles vorwegnehmen kann.

Außerdem wendet sich der Republikaner (im Sinne der Französischen Revolution) Büchner den untersten Schichten zu, den Parias und Ausgestoßenen, die von Bessergestellten als "Pack" verachtet werden. Büchner läßt sie reden wie gewöhnlich, ungekünstelt und unverstellt. Woyzeck wird auf diese Weise zu einem tragischen Vorläufer von Tagelöhner-Helden wie Charlie Chaplins Tramp oder Pat & Patachon.

Geändert von Servalan (19.06.2016 um 16:56 Uhr)
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Alt 19.06.2016, 18:27   #53  
Peter L. Opmann
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Hier eine ganz knappe Information zu "Woyzeck" (für mich ist die Figur untrennbar mit Klaus Kinski verbunden): www.youtube.com/watch?v=vJmDL19i3J4

Geändert von Peter L. Opmann (22.06.2016 um 17:43 Uhr)
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Alt 22.06.2016, 17:31   #54  
Servalan
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Standard Giogrio Vasari: Le Vite ... / Lebensläufe ... (1550)

Der vollständige Titel lautet: Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue infino a’ tempi nostri: descritte in lingua toscana da Giorgio Vasari, pittore arentino – Con una sua utile et necessaria introduzione a le arti loro / Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten
Diverse Ausgaben, darunter Manesse Bibliothek der Weltliteratur 1993, 675 Seiten (Auswahlband)
http://gutenberg.spiegel.de/autor/giorgio-vasari-1059 (Volltext bei Projekt Gutenberg-DE)
http://www.memofonte.it/autori/giorg...1511-1574.html (Volltext im italienischen Original)
http://www.kunstgeschichte.uni-muenc...ni_disegno.pdf (Biographie als pdf, 38 Seiten)
http://www.designerhistory.com/giorgio-vasari.htm
http://www.italian-renaissance-art.c...io-Vasari.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Giorgio_Vasari

Für klassische Bildungsbürger beginnt die Kunst mit Giotto - und die Kunstgeschichte mit Vasari.
Wer sich ernsthaft mit Kunst beschäftigt, hört ziemlich rasch den Namen Giorgio Vasari, der eigentlich selbst ein berühmter Künstler werden wollte. Schließlich baute und malte er für die Dynastie der Medici aus Florenz, unter deren Fittichen auch eine Sammlung von Künstlerbiographien entstand.

Heute geschieht alles in Echtzeit, weite Teile des Globus sind nur einen Klick entfernt, und Copy&Paste erlauben Kopien in Bruchteilen von Sekunden.
Im Grunde fertigte der weitgereiste Vasari so etwas wie sein Social Media-Profil an, allerdings in mühsamer Handarbeit.
Von ungestörter Arbeit konnten die alten Meister der Renaissance nur träumen. Kirchliche und weltliche Fürsten in ihren Stadtstaaten kämpften um Einfluß, Macht und Geld, weshalb gewöhnliche Sterbliche einen hohen Herrn zum eigenen Schutz brauchten. Falls der unterlag oder geschlagen wurde, half nur die Flucht.
Auf diese Weise kam Vasari auf der Halbinsel weit herum.
Sein unfreiwilliges Exil nutzte er, indem seinen Kollegen, ihren Meistern und Schülern über die Schulter schaute.
Nachdem ihm die Medicis 1537 einen Posten im Orden der Olivetaner verschafft hatten, konnte er seine Reisen fortsetzen. Im Gegenzug verlangte die sagenhaft reiche Dynastie von ihm einen Katalog.
Was Vasari darin zeigen wollte, mußte er abzeichnen oder umständlich beschreiben. Über Schüler-Meister-Beziehungen ging er drei Jahrhunderte zurück, denn sein Werk beginnt mit Giovanni Cimabue (* 1240) und reicht bis zu seinen Zeitgenossen Michelangelo, Leonardo da Vinci und Raffael.
Seine insgesamt 108 biographischen Skizzen ergänzte er mit Beschreibungen der wichtigsten Kunstwerke.

Vasaris Kompendium existiert in zwei Fassungen, einer zweibändigen 1550 und einer dreibändigen 1568.
Ästhetisch sind für in die Ideale der römischen und griechischen Antike das Maß aller Dinge. Verständlicherweise sehnt er sich einer Wiedergeburt (rinascita) solcher Kunstfertigkeit und prägt den Begriff der Renaissance.
Falls er mal die Gotik erwähnt, dann eher abfällig und verächtlich.
Heutigen wissenschaftlichen Kriterien historischer Methodik wird er nicht gerecht, dennoch gelten seine Lebensläufe ... fur kunsthistorische Interpretationen weiterhin als unerläßlich.
Die wenigsten werden sich das trockene Werk in Gänze antun.
Gezielte Vergleiche mit greifbaren populären Sachbüchern oder Kunstbiographie-Reihen zeigen jedoch, wieviel Vasari in unseren Vorstellungen von dieser Epoche stecken.
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Alt 25.06.2016, 19:46   #55  
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Standard Kālidāsa: Śākuntalā. Ein indisches Schauspiel (4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung)

कालिदास: अभिज्ञानशाकुन्तल
Diverse Ausgaben, zuletzt Amman Verlag 2006, darunter Manesse Bücherei (Band 1) 1987, 144 Seiten, mit der Vorrede von Johann Gottfried Herder (1803).
http://www.gutenberg.org/files/16659...-h/16659-h.htm (Volltext der englischen Übersetzung von Arthur W. Ryder 1912 bei Projekt Gutenberg-DE)
http://www.yorku.ca/inpar/shakuntala_ryder.pdf (Volltext der englischen Übersetzung von Arthur W. Ryder, pdf)
https://de.wikipedia.org/wiki/Abhijnanashakuntala
http://www.yavanika.org/theatreinindia/?page_id=286
http://www.sacred-texts.com/hin/sha/sha12.htm

Ringe sind ein beliebtes Requisit - von Märchen über Lessings berühmte Ringparabel bis hin zur Operntetralogie von Richard Wagner und der High Fantasy von J.R.R. Tolkien. Jeder kennt sie aus dem Alltag, wo sie Verlobung und Heirat oder andere Versprechen symbolisieren. Außerdem können sie verloren gehen ... und wiedergefunden werden.

Mein Einblick in die indische Mythologie und Literaturgeschichte ist leider begrenzt. Abgesehen vom fast allgegenwärtigen Glücksgott Ganesha verfüge ich bloß über bruchstückhaftes Wissen. Zuletzt habe ich in die moderne Version vertieft, die Virgin-Gründer Richard Branson in seinen indisch-britischen Comicserien Devi und Snake Woman vorgelegt hatte.

Gewisse Mechanismen der Geschichte ähneln sich jedoch auffallend.
Sakuntala (eigentlich Die Wiedererkennung der Shakuntala) gilt als Nationaldrama des epischen Theaters und beruht auf einer Geschichte des indischen Epos Mahābhārata (महाभारत, verschiedene Fassungen aus vorchristlicher Zeit). Das Sanskrit-Epos Mahābhārata ist etwa zehnmal so umfangreich wie Homers Ilias oder Die Odyssee und gilt als "das längste jemals verfaßte Gedicht", wobei sich religiöse und philosophische Bedeutungen überlagern und verstärken.

Kālidāsa bedeutet wörtlich übersetzt "Diener der Göttin Kali", und der ist biographisch ebenso ungreifbar wie Homer oder Shakespeare, zumal mehrere Dichter diesen Namen trugen. Ende des 18. Jahrhundert entdeckten Briten langsam die Literatur der Kolonisierten für sich: 1789 wurde Śākuntalā ins Englische übersetzt, 1791 von Georg Forster ins Deutsche. Weitere deutsche Fassungen folgten 1854 durch Friedrich Rückert und 1924 durch Rolf Lauckner.
1888 gestaltete die Bildhauerin Camille Claudel eine gleichnamige Skulptur in Bronze, 1905 schuf sie das Motiv in Marmor. Franz Schuberts 1820 komponierte Oper Sakontala blieb unvollendet, weshalb sie von Karl Aage Rasmussen rekonstruiert wurde, so daß sie 2006 konzertant und 2010 szenisch uraufgeführt werden konnte.

Auf der Jagd verfolgt der junge König Dushyanta eine Gazelle im Wald und gelangt so in eine Einsiedelei, wo fromme Asketen den Göttern huldigen.
Der Älteste der Asketen, Kanva, hat eine Tochter, Śākuntalā, der sich Dushyanta als Gelehrter am Hofe des Königs vorstellt. Er beobachtet sie und verliebt sich in die Schöne.
Nach und nach erfährt er dabei, daß Kanva bloß ihr Pflegevater ist. Śākuntalās wahrer Vater sei ein Heiliger gewesen und ihre Mutter eine Elfe, also ein Göttermädchen. Weil Dushyanta den Frieden der Einsiedelei nicht weiter stören will, bricht er seine Jagd ab und will aufbrechen. Doch die Einsiedler bitten ihn, er möge sie vor bösen Dämonen schützen.
Bei dieser Gelegnheit heiraten Dushyanta und Śākuntalā. Als dringende Geschäfte Dushyanta an den Königshof zurückrufen, schenkt er Śākuntalā zum Abschied einen Ring und verspricht, sie nachkommen zu lassen.
Die verliebte Śākuntalā ist der Welt entrückt, weshalb ihr ein Lapsus unterläuft. Sie versäumt es, einem Priester die gebührende Ehre zu erweisen, wofür der sie hinter ihrem Rücken verflucht: Sollte sie ihren Ring verlieren, dann wird Dushyanta sie vergessen und nicht wiedererkennen ...

Geändert von Servalan (15.08.2020 um 18:32 Uhr)
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Alt 30.06.2016, 17:20   #56  
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Standard Joris-Karl Huysmans: Là-bas (1891) / Tief unten (1921)

Diverse Ausgaben, zuletzt Reclam 1994 und Gallimard 2004, darunter Maxi-Poche, Classique Français 1994, 349 Seiten
http://www.gutenberg.org/files/14323...-h/14323-h.htm
https://fr.wikipedia.org/wiki/Là-bas_(roman)
https://de.wikipedia.org/wiki/Tief_unten
http://www.larevuedesressources.org/IMG/pdf/La_-bas.pdf (Volltext im Original bei La Revue des Ressources als pdf, 259 Seiten)
http://www.theparisreview.org/blog/tag/la-bas/
http://www.e-litterature.net/publier...5&id_article=7

Mangelnde Menschenkenntnis gehört zu den beliebtesten Vorwürfen, die besonders Schreibanfänger und junge Autoren treffen. Verständlich. Wie unsere Spezies tickt, das erschließt sich nicht über Nacht.
Allerdings hat Menschenkenntnis nur bedingt etwas mit den biologischen Alter zu tun. Wer sich bloß in der eigenen Filterblase bewegt, seine Echokammer dicht abgeschottet hat und eigentlich mit dem Leben zufrieden ist - den trifft der Vorwurf natürlich härter. Authentische Erfahrungen werden heute umso lieber geschätzt. (Lebensläufe können frisiert werden, und wenn das ruchbar wird, verwandelt sich der potentielle Bestseller zu Altpapier.)
Reisen bringt nur denjenigen etwas, die fremde und fremdartige Erfahrungen an sich heranlassen und ihr Weltbild, wenn nötig, auch korrigen. Besonders spektakuläre Fälle haben jedoch schon in früheren Epoche Presse und Publikum gereizt.

Einige dieser Fälle sind so bizarr und faszinierend, daß sie wie der Kern eines Mythos durch etliche Jahrhunderte wirken. Dadurch werden sie überlebensgroß, weshalb häufig nur Bruchstücke und Fragmente ins Spiel kommen, sobald ein Paar aus zwei solchen Projektionsfiguren besteht.

Das beste Beispiel dafür sind Jeanne d'Arc und Gilles de Rais, die Heilige und das Monster, die Seite an Seite für den Dauphin gekämpft haben.

Die tragisch-verklärende Leidensgeschichte des Bauernmädchens von Orléans, einer Minderjährigen aus der Provinz, die mutig in den Krieg gezogen ist und ihrem obersten Lehensherrn die französische Krone beschert hat, ist heute eine Ikone für Feministinnen und französische Nationalisten. Denn sie wurde schmählich verraten, an den englischen Feind ausgeliefert, einem demütigenden Prozeß als Ketzerin unterzogen und auf dem Scheiterhaufen verbrannt - später jedoch heiliggesprochen.
Gilles de Rais hingegen lieferte das Vorbild für den frauenmordenden König Blaubart im gleichnamigen Märchen. Als Ritter schlug er seine Schlachten erfolgreich, allerdings beschäftigte er sich mit Alchemie und vermutlich auch mit Nekromantie. In der Umgebung seiner Schlösser entführten und verschleppten seine Diener Kinder, vorwiegend Jungen. Solange er unter dem Schutz des Königs stand, war er unantastbar. Irgendwann ging er zuweit, und dann geriet in die Mühlen der Justiz und wurde von der Inquisition wegen Häresie angeklagt.

Für den niederländischen Kardiologen und Hobby-Kultuwissenschaftler A.J Dunning bildet die Kombination Jeanne d'Arc-Gilles de Rais das erste Paar moderner Menschen, die in ihrer mittelalterlichen Welt dafür kein Verständnis erwarten dürfen (nachzulesen in seinem Buch Extreme. Beobachtungen zum menschlichen Verhalten).

Seine Brötchen verdiente der holländischstämmige Huysmans (1848-1907) als Beamter im französischen Innenministerium, während er ständig Texte veröffentlichte. Die meisten davon sind allerdings (wohl zurecht) vergessen.
1876 lernte er Zola kennen und wurde in dessen Schule von Médan (Gruppe der sechs) aufgenommen, wo er u.a. Guy de Maupassant und Paul Alexis kennenlernte. Huysmans naturalistische Romane über drastische Frauenschicksale aus der Pariser Unterschicht waren Bestseller, die jedoch von der Zensur bedroht wurden und als sittenwidrige Lektüre verboten werden konnten. In seinen späteren Jahren wurde Huysmans zum christlichen Mystiker.

Zum Kultautor, beispielsweise für Oscar Wilde, entwickelte sich Huysmans, als er mit Zolas Tradition brach und gewohnte Muster auf den Kopf stellte.
Vom Konzept her ähnelt sein bahnbrechendes Manifest À rebours / Gegen den Strich (1884) eher Lawrence Sternes absurd-verspieltem A Sentimental Journey Through France and Italy / Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien (1768). Huysmans' Anti-Reiseroman entwickelt sich zur Pflichtlektüre der dekadenten jungen Generation, denn der neurotische Aristokrat Jean Floressas Des Esseintes bereist nur ausgiebig sein Zimmer.

Là-bas hingegen liest sich über weite Strecken wie ein Vorentwurf zu Schnitzlers Traumnovelle oder Stanley Kubricks Eyes Wide Shut.
Durtal gehört zu Pariser Bohème, wo er sich mit anderen Autoren über andere Werke und Ästhetiken streitet. Sein eigenes Hauptwerk will er Gilles de Rais widmen, und um dessen Rätsel zu lösen, muß er sich mit Jeanne d'Arc befassen. Dabei will er nicht nur in Papier wühlen, vielmehr möchte er ähnliches erleben wie Gilles de Rais. Also hört er sich in okkulten Zirkeln und unter Satanisten um, weil er bei einer Schwarzen Messe unbedingt dabei sein will.
Im Laufe der Monate vergräbt er sich immer tiefer in sein Gilles de Rais-Projekt, was seine Gesundheit nicht fördert. Nach und nach treffen seltsame Briefe von einer Unbekannten bei ihm ein, die er mühsam einschätzen muß: Sind das ernst gemeinte Einladungen? Oder nimmt ihn einer seiner Freunde auf den Arm?

Geändert von Servalan (27.09.2016 um 14:23 Uhr)
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Alt 11.07.2016, 17:34   #57  
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Standard John Milton: Paradise Lost. A Poem in Twelve Books (1667)

Auch dieses Werk liegt wieder in zwei Fassungen vor: Eine frühere Fassung gliedert das Werk in 10 Bücher, die ältere in 12.
https://de.wikipedia.org/wiki/Paradise_Lost
https://en.wikipedia.org/wiki/Paradise_Lost
https://en.wikipedia.org/wiki/Paradi...opular_culture
http://www.klassiker-der-weltliterat...adise_lost.htm (Zusammenfassung bei "Klassiker der Weltliteratur")
http://www.zeno.org/Literatur/M/Milt...orene+Paradies (Volltext der deutschen Fassung bei Zeno.org)
http://www.dartmouth.edu/~milton/rea...k_1/text.shtml (Volltext des Original im John Milton Reading Room)
http://www.samizdat.qc.ca/arts/lit/paradiselost.pdf (Volltext-Ebook im Stil des 17. Jahrhunderts, pdf, 159 Seiten)
http://darknessvisible.christs.cam.ac.uk/ (Darkness Visible, eine Site mit Materialien, zusammengestellt von Studentinnen und Studenten des Milton's Cambridge college, Christ's College)
http://www.paradiselost.org/ (Paradise Lost Guide für Studierende)
http://oyc.yale.edu/english/engl-220/lecture-9 (Open Yale courses: Onlinemitschnitt einer Vorlesung an einer Elite-Universität)

Zu den gern geplünderten Werken zählt unbedingt John Miltons Das verlorene Paradies dazu, wahrscheinlich weil es selten gelesen wird, aber jeder den Plot der Story kennt:

Nachdem der Erzengel Lucifer in Ungnade gefallen und in die Hölle verstoßen wurde, warnt Erzengel Raphael Adam im Garten Eden vor dem heimtückischen Versucher. Leider beschränkt sich Raphael auf Adam, denn Eva entstand ja auch Adams Rippe und fällt somit nicht die Zuständigjkeit des Erzengels.
Aber tagsüber verrichten Adam und Eva ihre Arbeit, indem sie den Dingen Namen geben. Hinzu kommt der Umstand, daß Raphael seine Nachricht ausführlich schildert, was Tage dauert - und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf.

Die Ausgaben des Klassikers sind als Requisiten beliebt, die besonders gern Serienkillern und ihren Fans untergeschoben werden, zuletzt beispielsweise in The Fall - Tod in Belfast. Katie Benedetto scheint eines von Paul Spectors Lieblingsbüchern in einer Szene entdeckt zu haben, wird jedoch von ihm entdeckt, als sie den Band durchblättert.

Das Netz strotzt nur so zu Hinweisen, Interpretationen und Erklärungen zu diesem Klassiker. Denn noch heute steckt in seinen Zeilen eine ungeheure Wucht.
John Milton hatte in Cambridge studiert und schrieb vorwiegend Sonette, die heute vergessen sind. Später reiste er umher, lernte vor allem Italien kennen, und schrieb nach seiner Rückkehr religiös-politische Pamphlete. Für seine puritanischen Überzeugungen saß er im Knast. Im Alter erblindete der mehrmals verheiratete Frauenheld.
In seinem monumentalen Epos eiferte er den staatstragenden Epen der Antike von Homer und Vergil nach, um etwas Vergleichbares zu schaffen, das christlich war. Sein Blankvers verbindet den Diktus eines charismatischen Predigers oder eines alttestamentarischen Philosophen mit einer Fabulierlust, die das Geschehen plastisch werden läßt.

Ob Milton allerdings mit seinem Ruhm heutzutage glücklich wäre, bezweifle ich.
Der gestürzte Erzengel Lucifer aka Satan gibt eigentlich den verruchten Bösewicht im Stück. Miltons ausführliche Schilderung läßt ihn allerdings höchst sympathisch erscheinen:
Lucifer reißt sich als Erzengel ein Bein aus, um seinen Boß und den Junior glücklich zu machen, alles Lob und alle Privilegien bekommt aber Gottessohn, weil er eben Gottes Sohn ist. Lucifer fühlt sich betrogen und wiegelt seine Mitengel zum Aufstand auf. Leider scheitert er.
Miltons Satan wird schon bald zur Blaupause für einen neuen Heldentypus, den Byron'schen Helden, einen Antihelden vom Format eines Prometheus oder Ikarus. Zu den Bewunderern solcher Rebellen zählen neben Byron und Shelley auch Goethe und die deutschen Romantiker. Wer ihn sich vorstellen will, kann zum Beispiel die erste Staffel True Detective gucken: Matthew McConaugheys Detective Rust Cohle ist ein Byron'scher Held.
Und Satans Sturz in die Hölle regte Neil Gaiman bei seinem Sandman an.

Paradise Lost ist kein leichtes Buch. Wer es jedoch gelesen hat (vielleicht nur teilweise), wird es an anderer Stelle im modernen Gewand wiedererkennen. Die eigenwillige Sprache ist eine Hürde, die überwunden werden will, danach entfaltet sie ihre Faszination.

Nichts für Feiglinge.

Geändert von Servalan (23.07.2016 um 16:29 Uhr)
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Alt 23.07.2016, 17:21   #58  
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Standard Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman (1909)

Diverse Ausgaben, leider nur antiquarisch.
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_andere_Seite_(Roman)
http://www.alfredkubin.at/Philosophie.htm
http://www.deutschlandradiokultur.de...icle_id=137704
http://www.habenichtse.de/moderne-ph...-andere-seite/
https://phantastikon.de/20150205/alf...-andere-seite/
https://www.literaturportal-bayern.d...&pnd=118567365

One-Hit-Wonder gibt es nicht nur in Musik, sondern auch in der Literatur. Diese Kometen am Himmel der Belletristik können verdammt einflußreich sein und/oder sich zeitweise zu richtigen Bestsellern entwickeln.
Ein kurz zuvor verstorbener Autor - Freitod wirkt spektakulär - oder ein Prominenter aus einer anderen künstlerischen Disziplin sorgten schon damals für die entsprechende Mundpropaganda.
Das Angebot reicht dabei von wissenschaftlichen Schriften (wie Otto Weiningers Geschlecht und Charakter*) über Unterhaltungsromane von Journalistinnen (Margaret Mitchells Gone With the Wind / Vom Winde verweht) bis hin zu frustrierten Bildenden Künstlern wie J.J. Grandville (Un autre monde / Eine andere Welt).
Eine Garantie für ein großes Publikum bietet diese Masche allerdings nicht: Grandville fühlte sich von seinen Zeitgenossen mißverstanden und mußte erst Generationen später wiederentdeckt werden.

Wie Grandville war Alfred Kubin im k.u.k.-Österreich eigentlich ein Grafiker, der vor allem durch seine Buchillustrationen und Bühnenbilder einen Ruf erwarb. Er gehörte 1909 zu den Gründern der Künstlergruppe Neue Künstlervereinigung München (N.K.V.M.), aus der 1911 der berühmtere Blaue Reiter hervorging.
Kubins Titel klingt verdächtig nach Grandvilles spätem Roman. Beide Romane wurden von den Surrealisten oder auch von Franz Kafka geschätzt, obwohl ihre Qualitäten völlig unterschiedlich gelagert sind.
Bleiben wir bei Kubin.

Der Tod seines Vaters warf Kubin völlig aus der Bahn. Um seine Depression zu bewältigen, setzt er sich an den Schreibtisch. In zwölf Wochen entsteht Die andere Seite, die Kubin selbst mit 52 Zeichnungen illustriert.

Hauptfigur des Romans ist ein namenloser Ich-Erzähler, ein Zeichner wie Kubin, der Besuch einem Gesandten seines ehemaligen Klassenkameraden Claus Patera erhält. Der Multimillionär (sic!) Patera hat sich in Asien sein eigenes Traumland Perle eingerichtet, in das er den Ich-Erzähler und seine Frau einlädt. Die tun das großzügige Angebot zunächst als Scherz ab, doch irgendwann siegt die Neugier und sie brechen auf.
Perle liegt allerdings hinter einer dicken Mauer, und der Zoll läßt das Paar erst durch, als sie ihr gesamtes Hab und Gut hinter sich lassen. Das hermetisch abgeschottete Traumreich soll den Zeichner inspirieren, aber in Perle funktioniert der Alltag nach aberwitzigen Regeln, so daß sich das Leben allmählich in einen Alptraum verwandelt.
Aber der Herrscher Claus Patera hat einen Rivalen und Widersacher, den Amerikaner Hercules Bell, der eine Revolution anzetteln will. Der Zweikampf ruiniert Perle, und mit jedem Tag nähert sich die Apokalypse ...

Mit Kubin gelangt die phantastische Seite des Alltags in die Belletristik, die andere und die eigene Welt lassen sich zuerst kaum voneinander unterscheiden. Heute zählt Stephen King zu den Meistern dieser Schreibweise, aber in der Belle Epoque war das eine revolutionäre Neuerung.
Im ersten Jarzehnt des 20. Jahrzehnt krempelten technische Durchbrüche den Alltag komplett um: Grammophon, Kintopp, Automobile, U-Bahnen und etliche andere Dinge drangen ins Leben der gewöhnlichen Bevölkerung ein (siehe Philip Bloms Kompendium The Vertigo Years: Europe, 1900-1914 / Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914). Neurasthenie war damals das, was heute Burn-Out genannt wird.

*Die Ansprüche an wissenschaftliche Erkenntnisse ändern sich: Heute gilt Weininger eher als reaktionärer Ideologe denn als Wissenschaftler.
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Alt 27.07.2016, 17:52   #59  
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Standard Henry David Thoreau: Walden; or, Life in the Woods (1854)

Deutscher Titel: Walden oder Leben in den Wäldern oder Walden oder Hüttenleben im Walde.
Diverse Ausgaben, darunter Signet Classic CE 2121 (NAL Penguin 1980), 256 Seiten, zuletzt Diogenes Verlag 2015
https://de.wikipedia.org/wiki/Walden
http://www.gutenberg.org/ebooks/205 (Volltext bei Gutenber.DE)
https://archive.org/details/waldenorlifeinwo1854thor (Volltext der US-Erstausgabe im Internet Archive)
https://librivox.org/search?title=Wa..._form=advanced (Volltext als Audiobook, Public Domain bei LibriVox)
http://thoreau.eserver.org/walden00.html (Volltext mit Anmerkungen)

Die Erstausgabe lag wie Blei in den Regalen. Es dauerte sage und schreibe fünf Jahre, bis die 2.000 Exemplare ihre Leserschaft gefunden hatten. Bis zum Tode Thoreaus 1862 war das Buch verständlicherweise vergriffen.
Er veröffentlichte noch ein weiteres Buch, das sich aus verlegerischer Sicht gleichfalls nicht rechnete. (In diesem Sinne war Thoreau kein One-Hit-Wonder.)

Im 19. Jahrhundert lasen vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter dieses Brevier über das einfache Leben in der Natur. Allgemein gilt der Transzendentalist Thoreau als Säulenheiliger der ökologischen Bewegung, zumal es Mahatma Gandhi inspirierte. Gewaltfreiheit, Spiritualität und Askese sorgten für einen festen Platz in der Lektüre der 1968er.
Ähnlich wie Shakespeare läßt sich dieser einflußreiche literarische Text auf vielerlei Arten interpretieren, denn ein weiterer Strang führt über Survivalisten und Extremlibertäre zu Theodore Kaczynski (verurteilt als Unabomber) sowie zu den berüchtigten Turner Diaries. Robbie Williams' Kinohit Der Club der toten Dichter hingegen ist eine harmlosere Hommage.
Deshalb wundert es mich nicht, daß sich jede Generation ihren eigenen Thoreau ins Deutsche übersetzt.

Bei meinem privaten Curriculum jenseits des Klassenraums habe ich darauf geachtet, möglichst viele Standpunkte kennenzulernen - auch wenn mir die nicht gefielen. Ich mußte mich mit fremden Gedankengängen vertraut machen, damit ich mich aus Klischees und Stereotypen lösen konnte.
Wenn ich Leute schildern wollte, mit denen ich mich persönlich auf keinen Fall identifizieren wollte, mußte ich über meinen Schatten springen.

Mit seinem Werk erschuf Thoreau die Blaupause für (Selbst-) Erfahrungsbücher, Experimente am eigenen Leib (wie Karen Duves Logbuch über ihre Ernährungsgewohnheiten) und das, was später Autofiktion genannt wurde.
Thoreau war mit dem Schriftsteller Nathaniel Hawthorne befreundet und diente Ralph Waldo Emerson als Sekretär, bevor er sein Experiment in die Tat umsetzte und sich in die Natur zurückzog.
Der Walden Pont in Massachusetts befindet sich heute in einem Naturschuitzgebiet, aber eine wirkliche Konfrontation mit der harten Natur (frei nach Natty Bumppo und Chingachcook) bedeutete sein Rückzug nicht. Der See liegt in einem idyllischen Winkel, das zum Fischen, Wandern, Picknicken und Jagen geeignet ist. Allerdings beträgt die Entfernung zur nächsten Regionalzugstation bloß 1,4 Meilen und schon zu Thoreaus Zeiten durchschnitt ein Pendlerzug das Gelände.
Weil er Menschen verabscheute und am liebsten mied, hielt er nichts von Arbeit (Karl Marx' Neffe Paul Lafargue schlägt in seinem Das Recht auf Faulheit 1883 einen ähnlichen Tonfall an). Walden hat etwas von einem Fakir, einem Sufi oder einem Mönch, der seine Kreise nicht gestört sehen möchte.

Vom März 1845 bis September 1847 lebt er in einer selbstgebauten Hütte und notiert feinsäuberlich, mit welchen geringen Mitteln er auskommt. In seinem Reservat versucht er zu leben wie Robinson Crusoe auf seiner Insel.
Wer sich näher mit der US-amerikanischen Mentalität befassen will, erhält hier tiefe Einblicke.

In meiner Ausgabe wird das tagebuchartige Werk durch Gedichte und Thoreaus wirkungsvollsten Aufsatz On the Duty of Civil Disobedience (1849) ergänzt.
Von den einen wird die Schilderung eines Gefängnisaufenthaltes wegen verweigerter Steuerzahlung als Manifest gewaltlosen Widerstands interpretiert, andere wie zum Beispiel die Tea Party-Bewegung lesen es als Abkehr vom Staat und der Gesellschaft.

Geändert von Servalan (21.08.2016 um 16:30 Uhr)
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Alt 05.11.2016, 15:37   #60  
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Standard Karel Čapek: Válka s mloky (1936) / Der Krieg mit den Molchen (1937)

Diverse Ausgaben, zuletzt Aufbau-Verlag 2009 sowie deren Lizenzausgabe 2016 bei der Büchergilde Gutenberg, darunter Diogenes 1981, 330 Seiten
http://www.rodon.cz/admin/files/Modu...ka-s-mloky.pdf (Volltext auf Tschechisch, pdf, 170 Seiten)
https://web2.mlp.cz/koweb/00/03/34/7...ka_s_mloky.pdf (Volltext auf Tschechisch, pdf, 219 Seiten)
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Krieg_mit_den_Molchen
https://cs.wikipedia.org/wiki/Válka_s_Mloky

Karel Čapek (1890-1938) zählt zu den wichtigsten tschechischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts.
Ihm verdanken wir das heute alltäglich gewordene Wort "Roboter", das durch sein Theaterstück R.U.R. (Rossumovi Universální Roboti) (1920) seinen Siegeszug antrat. Dennoch wäre es kurzsichtig, ihn auf seine phantastischen und futuristischen Werke zu verengen, obwohl diese im deutschsprachigen Raum am weitesten verbreitet sind.

Weil diese Literatur unseres Nachbarvolkes ein Nischendasein führt, ist er in unserem Sprachgebiet eher ein Geheimtipp. Während Václav Havel, Milan Kundera und der Schwejk-Erfinder Jaroslav Hašek zumindest dem Namen nach bekannt sind, muß Čapek auch unter Bücherfreunden vorgestellt werden (Ausnahmen bestätigen die Regel).

Die UNESCO hat seinen Roman Der Krieg mit den Molchen in ihre Sammlung repräsentativer Werke aufgenommen und mit Übersetzungen gefördert. 1937 erschien die erste deutschsprachige Fassung in einem Wiener Verlag, 1954 ließ der Aufbau-Verlag (der DDR) das Werk von Eliška Glaserová neu übersetzen - auf dieser Fassung basiert die letzte Neuausgabe der Büchergilde Gutenberg 2016.

Persönlich war Čapek mit dem ersten Präsidenten der Tschechischen Republik, Tomáš Garrigue Masaryk, eng befreundet, trotzdem ließ er sich von niemandem vereinnahmen und pochte auf seine Unabhängigkeit. Der Science-Fiction-Roman spielt mit der Idee, dass eine fremde Rasse entdeckt wird - aber nicht auf einem fremden Planeten, sondern in einem fernen Meer, sprich im heutigen Indonesien.
Teilweise nimmt Čapek Klischees auf die Schippe, die aus King Kong bekannt sind: Leute aus Hollywood filmen vor exotischer Kulisse und stoßen auf Wesen, die sie als Monster betrachten.
Doch bald erkennt ein Tycoon aus Prag, das sich die Molche als nützliche, billige Arbeiter einspannen lassen. Damit diese Amphibien überleben können, müssen künstlich Küstengebiete hergestellt werden. Doch diese Ware entwickelt eine eigene Dynamik und schon bald gibt es zwei unabhängige Molchreiche, eines unter dem Chief Salamander, das andere unter dem King Salamander.

Allgemein wird der Anschluß der Fantasy und Science Fiction an die moderne Literatur mit der britischen New Wave verbunden: Michael Moorcock, James Graham Ballard, Brian Aldiss & Co.
Insofern ist Čapeks Kleinod ein Solitär, der sich am besten mit anderen modernen Romanen aus weniger bekannten Ländern verglichen werden kann, zum Beispiel dem spanischen Roman Schweigen über Madrid von Luis Martín-Santos (Erstausgabe 1961 in Mexiko).
Denn wie James Joyce spielt er mit den literarischen Formen: Der erste der drei Teile kommt locker-flockig wie ein Jugendbuch daher, allerdings schwingt untergründig ein jovial-süffisanter Tonfall mit, der sich an Erwachsene richtet.
Durch elliptische Kunstgriffe verkürzt und verdichtet er im zweiten Teil die simple Chronik des Aufstiegs der Molche zu Konkurrenten der menschlichen Spezies. Das Buch wimmelt von Inserts und zitierten Schlagzeilen, die graphisch den Fließtext unterbrechen. Im zweiten Teil treibt er das Prinzip auf die Spitze: Die Leserschaft verfolgt das Geschehen über die Schulter von Herrn Povondra, dem Portier des Konzernbesitzers G.H. Bondy, indem er fleißig Zeitungsschnipsel archiviert. (Das erinnert an Charles Fort, ein Vorbild H.P. Lovecrafts.)
Das Schlußkapitel ist reine Metafiktion: Der Autor interviewt sich selbst, bis er nicht mehr weiter weiß.

Geändert von Servalan (20.01.2017 um 17:02 Uhr)
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Alt 29.05.2017, 12:21   #61  
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Standard Gustav Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums (1838-1840)

Diverse Ausgaben, teilweise gekürzt, modernisiert oder bearbeitet, zuletzt Insel-Verlag 2001 und Ravensburger Buchverlag 2006, darunter Droemer Knaur 1978, 702 Seiten
http://gutenberg.spiegel.de/buch/sag...tertums-4962/1
http://gutenberg.spiegel.de/buch/sag...tertums-4962/9
http://gutenberg.spiegel.de/buch/sag...rtums-4962/135
http://gutenberg.spiegel.de/buch/sag...rtums-4962/232
(Volltext bei Projekt Gutenberg-DE in vier Teilen)

Mit den Mythen ist das so eine Sache. Wer sich intensiver mit der Materie beschäftigt, wird schnell feststellen, wie unübersichtlich das Feld ist. Meist existieren nämlich mehrere Fassungen, die voneinander abweichen.
Aber für den Einstieg wäre eine sauber gegliederte Übersicht nützlich, die zumindest das grundlegende Wissen und eine gewisse Orientierung vermitteln.
Mythen werden rund um die Welt weitererzählt, deshalb beschränken sich die Übersichtswerke üblicherweise auf einen bestimmten Ausschnitt.

Der schwäbische Pfarrer und Gymnasiallehrer Gustav Schwab (1792 - 1850) hat sich auf die Sagenkreise der griechisch-römischen Antike spezialisiert. Diese Sammlung gehört im weitesten Sinne zu den Vorläufern von leichten Einführungen für ein allgemeines Publikum wie zum Beispiel "... für Dummies".
Ich habe meine Ausgabe pünktlich zum Wechsel auf das Gymnasium geschenkt bekommen. Die Lektüre sollte mir bei den Übersetzungen aus dem Lateinischen helfen. Genau das war der Sinn und Zweck dieser Nacherzählungen.

Schwab hat seinen Schülern nicht nur Latein und Griechisch beigebracht, auch nach Schulschluß ließ ihn seine Leidenschaft nicht los. Denn er war gut vernetzt, schrieb für die Programme von F.A. Brockhaus Leipzig, die Cotta’sche Verlagsbuchhandlung und den Metzler-Verlag. Bei Metzler betreute er Editionen antiker griechischer und römischer Werke.
Ursprünglich erschien sein Sagenkreis für die deutsche Jugend Mitte des 19. Jahrhunderts in drei Bänden. Diese Fassung hat mittlerweile selbst den Status eines Klassikers der deutschen Literatur.
Der Vorteil seiner Ausgabe liegt in der Kürze und der fast enzyklopädischen Struktur, die ein Nachschlagen erlaubt. Ganz so prickelnd liest sich das heute nicht mehr. Seit 1840 hat sich die Sprache erheblich gewandelt. Heute kommt der Vorteil hinzu, mit einem Klick die Sagen lesen können, ohne etwas zu zahlen.

Vor einigen Jahren haben sich 40 Verlage rund um die Welt zu einem Projekt zusammengeschlossen, um die Mythen von etablierten Autorinnen und Autoren der Gegenwart frisch nacherzählen zu lassen: "The Myths Project"
Die deutschen Ausgaben erschienen beim Berlin Verlag und dem S. Fischer Verlag.
Antiquarisch sollten die Titel zu beschaffen sein:
  • Karen Armstrong: A Short History of Myth (Canongate 2005), Eine kurze Geschichte des Mythos (Berlin-Verlag 2005)
  • Margaret Atwood: The Penelopiad (Canongate 2005), Die Penelopiade. Der Mythos von Penelope und Odysseus (Berlin-Verlag 2005)
  • Jeanette Winterson: Weight: The Myth of Atlas and Heracles (Anongate 2005), Die Last der Welt: der Mythos von Atlas und Herkules (Berlin-Verlag 2005)
  • Victor Pelevin | Wiktor Olegowitsch Pelewin: The Helmet of Horror (Canongate 2005), Шлем ужаса (Ripol + Soyuz + Exmo 2006), Der Schreckenshelm. Der Mythos von Theseus und dem Minotaurus (Berlin-Verlag 2005)
  • David Grossman: Lion's Honey: The Myth of Samson (Penn Publishing 2006), Löwenhonig. Der Mythos von Samson (Berlin Verlag 2006)
  • Alexander McCall Smith: Dream Angus: The Celtic God of Dreams (Canongate 2006), Der Gott der Träume: Der Mythos von Angus (Berlin Verlag 2006)
  • Sally Vickers: Where Three Roads Meet: The Myth of Oedipus (Canongate 2007)
  • Ali Smith: Girls Meets Boy (Canongate 2007), Girl meets boy. Der Mythos von Iphis (Berlin Verlag 2007)
  • Su Tong | 蘇童 | 苏童: Binu and the Great Wall: The Myth of Meng (Canongate 2007), Die Tränenfrau. Der Mythos der treuen Meng (Berlin Verlag 2007)
  • Michael Faber: The Fire Gospel (Text Publishing + Canongate 2008)
  • Dubravka Ugrešić: Baba Yaga Laid an Egg (Canongate 2009), Baba Jaga legt ein Ei (Berlin Verlag 2008)
  • Klas Östergren: Orkanpartyt (Bonniers 2007), The Hurricane Party (Canongate 2009)
  • Milton Hatoum: Orfãos do Eldorado (Cia. das Letras 2008), Orphans of Eldorado (Canongate 2010), Die Waisen des Eldorado. Der Mythos von der verzauberten Stadt (Berlin Verlag 2010)
  • Philip Pullman: The Good Man Jesus and the Scoundrel Christ (Canongate 2010)
Irgendwie scheint da was schiefgelaufen zu sein, denn nach einer Weile herrschte Funkstille. 2010 erschien der letzte Band.

Geändert von Servalan (23.06.2017 um 19:49 Uhr)
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